Daß Nazis heute wieder frei herumlaufen, ist unfaßbar
Thomas Hecker, Berlin
Vor zwei Wochen fuhr der Zug der Erinnerungen in den Berliner Ostbahnhof ein. Stundenlang standen Menschen in einer beinahe den gesamten Bahnsteig erfassenden Schlange, um die Ausstellung im Zug zu sehen. Mit Fotos, Briefen und Dokumenten wird an 1,5 Millionen Kindern von Juden, Sinti und Roma sowie politisch Verfolgte aus ganz Europa erinnert, die in die faschistischen Konzentrationslager deportiert wurden und von denen kaum jemand überlebte. Der Verein „Zug der Erinnerung“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinder dem Vergessen zu entreißen.
Berührt hat mich eine kleine Begebenheit im Ausstellungszug: Ein kleines Mädchen, etwa vier, fünf Jahre alt, ging entschlossen auf ein Foto zu: „Selma!“, rief sie. Es war das Foto der Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger [Selma Meerbaum-Eisinger wurde am 15. August 1924 in Czernowitz (Bukowina) geboren. Nachdem ihr zunächst die Flucht aus dem Ghetto Czernowitz gelang, wurde sie als 16jährige in das Arbeitslager Michailowka in Transnistrien (Ukraine) deportiert.]. In ihren Gedichten schrieb Selma bis zuletzt über Liebe, Sehnsucht, Träume und Angst. Sie starb im Alter von 18 Jahren im Arbeitslager Michailowka an Flecktyphus. Eines ihrer Gedichte ist im „Zug der Erinnerung“ ausgestellt:
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein.
Traurig und wütend zugleich machte mich eine im Zug dokumentierte Todesnachricht; neunzehn Jahre alt wurde Marie Holzman aus Kaunas. Die SS-Beamten vermelden ihrer Mutter nach der Mordaktion an 10.000 Juden aus dem Ghetto in Kaunas: „Ihre Tochter ist tot. Das war doch eine gefährliche Kommunistin und ihr Vater war Jude. Jetzt wird mit allen Juden hier aufgeräumt. Wir selbst beschmutzen uns nicht damit, dazu haben wir die Litauer.“
Daß Nazis heute wieder frei herumlaufen, ist unfaßbar. Und mehr als das: Sie agieren politisch, sitzen in Parlamenten, kassieren unsere Steuergelder und verüben Gewalttaten. An jenem Wochenende, da der Zug der Erinnerungen in den Berliner Ostbahnhof einfuhr, berichtete das ND über den Prozeß um die verbotene rechtsextreme Kameradschaft „Sturm 34“ aus Mittweida (Sachsen). Ein Angeklagter im diesem Prozeß gab sich vor Gericht als Informant des polizeilichen Staatsschutzes zu erkennen. Nach Aussagen des 40jährigen begann der Kontakt bereits mehrere Monate vor der Gründung der Kameradschaft, die Anfang März 2006 erfolgte. Er habe Mitarbeitern des Staatsschutzes bei der Chemnitzer Polizei per SMS Hinweise über Aktivitäten der Gruppierung gesendet und auch Fotos übergeben, sagte er vor dem Landgericht Dresden aus. Zudem sei er regelmäßig mit Beamten zusammengetroffen. Richter Martin Schultze-Griebler hatte schon beim Prozeßauftakt klargestellt, daß das Verfahren platzt, wenn eine Mitwirkung des Staatsschutzes an der Gründung der Kameradschaft offenkundig wird.
Was läuft da für ein Spiel? V-Leute sollen den Staat vor Nazis schützen – und schützen doch die Nazis. Ein Dilemma? Ich hege keinerlei Zweifel, daß es in dieser Gesellschaft nicht wenige aufrechte Antifaschisten gibt, nicht nur unter Linken und auch in den Strukturen. Aber – gibt es nicht schon wieder welche, die für den Fall der Fälle auf terroristische Herrschaftsformen des Kapitals setzen? Über uns hängt das Damoklesschwert einer weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Inflation galoppiert. Die Kluft zwischen den Besitzenden und jenen, die jeden Euro umdrehen müssen, wächst stetig. Kriege gehören wieder zum politischen Alltag, in der dritten Welt drohen Hungerkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes, und wir können zusehen, wie die Umwelt zugrunde geht. Nicht nur wir denken darüber nach, wie dieser barbarischen Jagd nach Profit ein Ende bereitet werden kann. Die Profiteure denken darüber nach, wie sie unter den sich verändernden Bedingungen so ungestört wie möglich ihre Geschäfte weiter betreiben können. Das ist der Schoß, aus dem Faschismus kriecht. Da will man eine Nazipartei nicht einfach verbieten. Wer weiß, wozu die noch gut sein kann. Ein Verbot läßt sich leicht umgehen. Man muß nur genügend V-Leute an den richtigen Stellen plazieren.
Es ist eine der vordringlichsten Aufgaben der Linken, sich gegen Nazis zur Wehr zu setzen und deren politischen Möglichkeiten den Garaus zu machen. Um so unverständlicher ist es, daß im Leitantrag des Parteivorstandes, der dem Cottbusser Parteitag am 24./25. Mai 2008 vorgelegt wird, die Forderung nach einem NPD-Verbot fehlt. Wir werden gemeinsam mit anderen einen entsprechenden Änderungsantrag stellen, diese Forderung in den Parteitagsbeschluß aufzunehmen. Wir kennen das Argument: Wenn die erst verboten sind, kommen die Linken dran. Wir dürfen es nicht gelten lassen. Nur, wer der Formel von den linken und rechten Extremisten zustimmt, kann auf die Idee kommen, wer die Nazis verbiete, könnte mit Linken ebenso verfahren. Indem wir uns gegen die Gleichsetzungen und Vergleiche wehren, die ihren Ursprung in der zutiefst antikommunistischen Totalitarismusdoktrin haben, führen wir ad absurdum, daß es nach den Nazis uns treffen könnte. Ohne die Entlarvung der Totalitarismusdoktrin wird es nicht gehen. Und noch etwas: Es kann uns treffen, dann aber aus ganz anderen Gründen.
26. April 2008, KPF-Bundeskonferenz, Beitrag in der Diskussion