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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das "schwedische Modell", oder: Es ist irreführend, Hafer zum toten Pferd zu tragen

Prof. Dr. Edeltraut Felfe, Greifswald-Riemserort

 

1989 antwortete man in der schwedischen Gewerkschaftszeitung denen, die nordwärts nach einer Alternative zur "untergehenden Planwirtschaft" suchten: "Leider sind wir in Schweden auch in einer Art Aufbruch von unserem eigenen Modell."

War es ein Aufbruch oder ein Einbruch und ein Abbruch? Und was hat es auf sich, daß nicht nur europäische Sozialdemokraten und insbesondere Willy Brandt zum Ende der 1960er Jahre offiziell verkündeten, dem schwedischen Modell folgen zu wollen, sondern daß es (oft erweitert auf "skandinavische Wohlfahrtsstaaten") in aktuellen linken Debatten als Alternative zum Neoliberalismus oder als aktuelle "Orientierung für eine demokratische und soziale Regulierung des Kapitalismus" dargestellt wird?

Es ging und geht um die Gretchenfrage, ob – und wenn ja, unter welchen Bedingungen – eine monopolkapitalistische Wirtschaft politisch so reguliert werden könnte, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.

Genau diese Frage schien das schwedische Gesellschaftsmodell – das auch als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise 1929/32 entwickelt wurde – zumindest in den 50/60er Jahren positiv zu beantworten. In einer nahezu ununterbrochenen mehr als vierzigjährigen Regierungszeit der Sozialdemokratie (bis 1976) waren nahezu Vollbeschäftigung und weitgehende soziale Sicherheit in allen Lebenslagen und für alle Schichten der Bevölkerung erreicht worden. Dazu kamen ein soziales Wohnungswesen und beachtliche Chancengleichheit in Bildung und Gesundheitsfürsorge auf hohem Niveau auch für die Angehörigen der arbeitenden Klassen. Es gab kaum Armut. Die Parteien der Arbeiterbewegung hatten noch vielfach den Charakter von Volksbewegungen und waren mit ihnen sehr eng verbunden. Weltweit war sogar von einem "demokratischen Sozialismus" die Rede. Zugleich wurde die schwedische Wirtschaft von einem hochkonzentrierten und zentralisierten, eng miteinander verflochtenen privaten Produktiv- und Finanzkapital um etwa 15 Familien beherrscht. Jagd nach und Erwirtschaftung von Maximalprofit waren wie anderswo Triebkraft der kapitalistischen Produktionsweise.

Konkrete historische Bedingungen

Zunächst ist festzuhalten, daß das schwedische Modell mit den bekannten allgemeinen Ursachen und unter Bedingungen herausgebildet wurde wie andere westeuropäische Sozialstaaten auch. Hinzu kamen jedoch eine Reihe nationaler Besonderheiten. Dazu gehörten sehr günstige natürliche Bedingungen (u.a. bestes Eisenerz, Wasserkraft, Holz) für eine späte und desto effektivere Industrialisierung des Landes. Sie konnte sich auf Weltmarktlücken und entsprechend spezialisierten Export orientieren. Extraprofite erwuchsen auch aus frühzeitigem Kapitalexport und aus der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte außerhalb Europas. Bereits 1911 ließ Ericsson im Ausland mehr Menschen für sich arbeiten als in Schweden selbst. Lenin sprach auch in Bezug auf Schweden von "kleinen privilegierten Nationen des imperialistischen Systems". Ein weiterer besonderer Faktor des inneren Kräfteverhältnisses war der weltweit nahezu einmalig hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeiterklasse um 85%. Und bei Reichstagswahlen 1948 und von 1956 bis 1968 konnten Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam eine Mobilisierung der Arbeiterschaft von ca. 75% für beide Parteien erreichen. Gerade für die Sicht deutscher Linker ist sehr wichtig: Interessen und Chancen des herrschenden Kapitals in Schweden konnten nicht auf eine militärisch aggressive (Groß)machtpolitik gerichtet sein. Gerade durch die (freilich auch verletzte) Neutralität des Landes in beiden Weltkriegen und seine spätere bündnisfreie Außenpolitik wurden erhebliche Extraprofite erlangt und zugleich alles in allem soziales und demokratisches Reformpotential im Innern gestärkt.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident Tage Erlander meinte 1961, daß ohne die Bündnisfreiheit dieser Wohlfahrtsstaat nicht möglich gewesen wäre. Insgesamt ist die außerordentlich große Abhängigkeit des Modells vom internationalen Kräfteverhältnis und von der Systemauseinandersetzung konkret belegt: Es waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts harte Klassenkämpfe, die Oktoberrevolution und die deutsche Novemberrevolution, die Krise der kapitalistischen Produktionsweise und deren weitere Entwicklung, der maßgebliche Anteil der Sowjetunion an der Niederschlagung des Faschismus und der Einfluß sozialistischen Gedankenguts sowie realer, vor allem sozialpolitischer Erfolge u.a. in der UdSSR und in der DDR. Ein Vertreter der schwedischen wirtschaftlichen Elite sprach 1990 aus, was allgemein akzeptiert scheint: "Mit dem Ende des Kommunismus in der Welt ist die Voraussetzung für das schwedische Modell selbst weggefallen". Eine schwerwiegende Einschätzung, die zu denken gibt, wie kritisch auch immer unter Linken der "Realsozialismus" gesehen wird. Es ging und geht um die Entwicklung von (auch) institutionalisierter Gegenmacht als einer grundlegenden Bedingung, Kapitalismus zu zähmen. Das wäre zunächst zu bedenken, wenn schwedische Erfahrungen für alternative Suche zu deutschen Verhältnissen produktiv gemacht werden sollen.

Weitere Auskunft gibt der Kern der schwedischen wohlfahrtsstaatlichen Politik.

Wirtschaftswachstum als Garant sozialer Regulierbarkeit?

Er bestand in der komplexen Förderung von Wachstum und Produktivität, vor allem bei den exportorientierten Konzernen sowohl durch nahezu alle Staatsorgane als auch durch die Klassenzusammenarbeit von zentralisierter Gewerkschaftsführung und Unternehmerverband. Alle drei waren auf allen Ebenen institutionalisiert miteinander verflochten. (Korporativismus). Auf diese Weise wurden über Jahrzehnte hohe Profite und stabile Zuwachsraten in der Wirtschaft erzielt. Zugleich ermöglichten vor allem hohe Lohnsteuern von etwa 50% einen großen öffentlichen Sektor, der über die Hälfte des Bruttonationalproduktes betrug und Arbeitsplätze insbesondere für Frauen bereitstellte. Der grundlegende Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit sollte auf diesem Wege aufgelöst oder zumindest für die Erwerbsabhängigen unwichtig gemacht werden. Mehr noch: Das absolut Besondere auch gegenüber anderen Sozialstaaten dieser Zeit bestand darin, daß ein und dieselben Maßnahmen sowohl auf mehr soziale Gleichheit als auch auf rationelles Wirtschaften gerichtet waren. Dem diente u.a. die solidarische Lohnpolitik. Sie hielt den Niedriglohnsektor klein, sparte Lohnkosten bei den profitabelsten Konzernen, trug zum Konkurs unproduktiver Unternehmen und zur Strukturrationalisierung sowie zur Binnennachfrage bei. Teile der Steuer-, Rationalisierungs- und Regional- sowie der Familien- und Gleichstellungspolitik wurden in gleicher Richtung angelegt. Ab Ende der 60er Jahre war dieses Konzept jedoch an Grenzen gestoßen. Wirtschaftswachstum als vermeintlicher Garant für sozialen Ausgleich war offenbar ohne die Nachteile der kapitalistischen Produktionsweise nicht zu haben. Kapitalakkumulation und Konzentration bei den mächtigsten Konzern- und Bankgruppierungen hatten auch durch die betriebene "Gleichheitspolitik" zugenommen. Damit auch die Integration des schwedischen Kapitals in die imperialistische weltweite Verwertungslogik einerseits und seine Abhängigkeit davon andererseits. Das führte zur Schwächung des Wohlfahrtsstaates gegenüber der "Wirtschaft". Die Umverteilung von unten nach oben und die Zahl der Stiefkinder des Modells hatten auch in dieser Blütezeit zugenommen. Krisenabhängigkeit und zyklische Entwicklung der Wirtschaft konnten nicht verhindert werden, wie u.a. Auswirkungen der ersten weltweiten Ölkrise 1973 und später die große Wirtschaftskrise in Schweden Anfang der 90er Jahre zeigten.

Vor allem aber: Wachstum und hohe Produktivität waren wesentlich durch die Unterwerfung der Lohnabhängigen in der materiellen Produktion unter perfektionierte Ausbeutungsmethoden und durch außerordentlich hohe körperliche und psychische Belastung erreicht worden. In den 60er Jahren verrichteten 75% der Arbeiterinnen und Arbeiter in der materiellen Produktion Akkordarbeit. Das war damals der höchste Stand in der industrialisierten Welt. "Aber die, die sagen, daß wir in Schweden schon in einer Demokratie leben – haben die nie ihren Fuß auf einen Arbeitsplatz gesetzt ... in der wirklichen Produktion?" Das war mehr als die Frage eines Grubenarbeiters aus Norbotten als Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre in den Bergwerken im Norden, im Göteborger Hafen, unter öffentlich Angestellten in Stockholm und anderswo gewaltige Streiks losbrachen. Zumeist gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratien. Die "wilden Streiks" lösten, auch im Zusammenhang mit wunderbaren Solidaritäts- und Friedensbewegungen, eine Welle der Sympathie und Solidarität im ganzen Lande aus. Arbeiterinnen und Arbeiter, Geistesschaffende, Künstlerinnen und Künstler schufen in dieser Zeit Elemente einer neuen Arbeiterkultur, die vor allem menschliche Würde im Erwerbsleben einforderte. So mußten in den 70er Jahren eine Reihe von Arbeiterrechten gesetzlich festgeschrieben werden – und – in den Gewerkschaften wurde das Konzept der Lohnempfängerfonds entwickelt.

Die Eigentumsfrage kam auf die Tagesordnung

Gemäß diesem Projekt sollten bis zu 20% der Gewinne von Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten in einen gewerkschaftseigenen Fonds als Aktien abgeführt und so als aktives Kapital erhalten bleiben. Gewerkschaftlichen Berechnungen zur Folge hätten bei Unternehmensgewinnen zwischen 10 und 20% die Fonds nach 20 bis 35 Jahren eine Aktienmajorität in den größten Unternehmen haben können. Die Beschäftigten sollten nicht individuell am Gewinn beteiligt werden, sondern es ging ausdrücklich um Wirtschaftsdemokratie, die als kollektive "Mitbestimmung und Arbeitnehmereinfluß durch Miteigentum" bestimmt wurde. Der Gewerkschaftsökonom Rudolf Meidner hatte seine Vorschläge u.a. so begründet: "Wir wollen die Kapitaleigner ihrer Macht berauben, die sie eben Kraft ihres Eigentums ausüben. Alle Erfahrungen zeigen, daß es nicht ausreicht mit Einfluß und Kontrolle. Eigentum spielt eine entscheidende Rolle ... Allein Funktionssozialismus reicht ... nicht aus, eine durchgreifende Gesellschaftsveränderung zu erreichen."

Dieser Vorschlag war wie eine Bombe eingeschlagen. Von "Revolution in Schweden" schrieb eine große liberale Tageszeitung und der als bürgerliche Überpartei und Gesellschaftsstratege fungierende "Arbeitgeberverband" blies zum Generalangriff auf den "Fondssozialismus" und das schwedische Modell in seiner Gänze. Später rühmte er sich, das Projekt zu Fall gebracht zu haben. Da hat er sich auch mit fremden Federn geschmückt, denn die sozialdemokratische Parteiführung hatte den Fondsvorschlag, bis er 1983 im Reichstag Gesetz wurde, so verwässert und aufgeweicht, daß von seinem ursprünglichen Inhalt und seiner Zielstellung nichts geblieben war. Dennoch wurde das Gesetz Anfang der 90er Jahre entsorgt.

Neoliberaler "Staatsstreich im Langsamgang"

Zu Antworten auf unsere Frage nach einer sozialen und demokratischen Regulierbarkeit von Kapitalismus gehört, daß seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre auch in Schweden in nachweisbarem Zusammenhang mit Geist und Politik von Reagan und Thatcher von den Kapitalorganisationen und der konservativen Partei eine neoliberale Offensive eingeleitet wurde und nunmehr undemokratische und unsoziale Entwicklungen deutlich dominieren – auch in der aktuellen Krisenpolitik der gegenwärtigen bürgerlichen Regierungskoalition. Verstärkt und beschleunigt wird dies durch die 1995 erfolgte Mitgliedschaft des Landes in der EU. So war dann auch in der größten liberalen Tageszeitung von einem "Staatsstreich im Langsamgang" die Rede. Daß dabei aus der Sicht des großen Produktiv- und Finanzkapitals günstige Elemente des Modells modifiziert in eine "klügere" neoliberale Spielart des Kapitalismus aufgenommen werden, sollte Linke nicht irritieren. So war es 1989 kein Aufbruch zur Erneuerung des Modells, sondern sein Abbruch war Stein um Stein bereits im Gange. Zum Regierungsversprechen der Sozialdemokratie in jenem Jahr, das "Heim des Volkes" wieder zu errichten, meinte der profilierte Wissenschaftler und Publizist Jan Myrdal damals: "Diese Forderung ist heute geradezu revolutionär in dem Sinne, daß sie nicht ohne eine Umgestaltung der ökonomischen Grundlagen verwirklicht werden kann."

Ein Fazit

Praktiken, die kapitalistische Produktionsweise auch im Interesse der Erwerbsabhängigen politisch zu regulieren, haben dort an Grenzen geführt, wo sie am effektivsten entwickelt wurden. Dabei war Grundinteressen des mächtigen Groß- und Finanzkapitals nie widersprochen und dem Grundinteresse der abhängig Beschäftigten an einem selbstbestimmten Leben ohne Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und ohne weitere Abhängigkeiten von der Kapitalverwertung nie entsprochen worden. Kapitalinteressen konnten unter günstigsten inneren und äußeren Kräfteverhältnissen denen der abhängig Beschäftigten nicht untergeordnet werden, wie verschiedentlich für den europäischen Nachkriegskapitalismus angenommen und für die Zukunft gehofft wird. Folgerichtig wurde von den Erwerbsabhängigen die Eigentumsfrage in den 70er Jahren in Schweden praktisch-politisch auf die Tagesordnung gesetzt. Daß ein erfolgreicher Anfang nicht gelungen ist, hat viele Ursachen. Der Mißerfolg spricht wohl nicht für einen untauglichen Versuch, macht aber einmal mehr deutlich, wie schwierig Eingriffe in Verfügungsrechte von kapitalistischen Großeigentümern sind, ohne deren Eigentum selbst anzugreifen. Denn aus ihm sind die Machtpositionen erwachsen, die das Fondsprojekt zunichte gemacht haben. Diese Erfahrungen wären mit Gewinn auch in Debatten von Linken in der Bundesrepublik zu berücksichtigen – desgleichen jüngere vor allem in der schwedischen Linkspartei entwickelte Ideen und Konzepte, wie notwendige Vergesellschaftungen von kapitalistischem Großeigentum vor allem auch durch Mobilisierung der Erwerbsabhängigen selbst, erkämpft und produktiv gemacht werden müßten. Dies gilt jetzt um so mehr, als in der gegenwärtigen Krise des kapitalistischen Systems dem Allgemeinwohl durch den Stop der Umverteilung von unten nach oben und durch Vergesellschaftungen machtgebenden Kapitals und Bankvermögens gemäß Grundgesetz Art. 14 und 15 entsprochen werden müßte.

Zum Weiterlesen: Edeltraut Felfe, Das schwedische Modell. Ein Wohlfahrtsstaat als Zukunftsprojekt? GNN Verlag, 2008, 176 Seiten, 12 Euro, ISBN-13: 978-3898192873.