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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das Massaker von Lidice im Juni 1942

Klaus Kukuk, Berlin

 

Nach der Proklamation des »Reichsprotektorats Böhmen und Mähren« am 15. März 1939 durch Hitler gedachten sich die deutschen Faschisten ein Hinterland mit optimalen geografischen und strategischen Bedingungen zu schaffen. Das tschechische Industriepotential mit leistungsfähiger Rüstungs- und Schwerindustrie sowie hochqualifizierten Arbeitskräften sollte eine möglichst ruhige Nachschubbasis für Hitlers Kriegsvorbereitungen abgeben. Als Hitlers Garant dafür wurde im Oktober 1941 der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich als Stellvertreter des Reichsprotektors des Protektorats Böhmen und Mähren eingesetzt.

In den nach dem sogenannten Münchener Abkommen von 1938 verbliebenen tschechischen und mährischen Siedlungsgebieten waren auch nach Ausbruch des II. Weltkrieges kaum wesentliche Aktivitäten der Bevölkerung gegen das Nazi-Regime zu verzeichnen. Mancherorts wurden in Industriebetrieben Arbeite-langsam-Bewegungen organisiert und es gab Sabotageakte in Gestalt von minderwertiger Produktion. 80 Sabotagefälle an einem Tage waren zeitweise der Durchschnitt (Sprengstoffanschläge auf Brücken, Gleisanlagen, Weichen, Reparaturwerkstätten, Transporte der Eisenbahn und Tanklager, Zerstörung von Hochspannungsleitungen und deren Masten bei Leitungen mit 100.000 Volt, Brandstiftungen in Getreide- und Vorratslagern, Holzlagerplätzen und Industrieanlagen, Anschläge besonderer Art wurden auf Heiz- und Kesselanlagen der Rüstungsindustrie verübt).

Das Attentat und die Vergeltung

Die Exilregierung in London wurde von den Alliierten der Untätigkeit geziehen. Das löste Überlegungen aus, in Böhmen und Mähren ein Signal zum Widerstand gegen die Okkupanten zu setzen. Durch den tschechoslowakischen Geheimdienst wurde eine Kommandoaktion mit freiwilligen Fallschirmspringern der tschechoslowakischen Armee in Großbritannien vorbereitet, In der Nacht zum 29. Dezember 1941 nahm von England aus ein Flugzeug Kurs auf Plzeň, an Bord die beiden Fallschirmspringer Jozef Gabčik, 29, und Jan Kubiš, 28 Jahre alt. Ihr Ziel: Umgebung von Plzeň.

Die Flugzeugbesatzung verfehlte jedoch den Zielort. Als Kubiš und Gabčik um 2:27 Uhr absprangen, landeten sie statt bei Plzeň in der Nähe von Prag. Sie fanden Unterschlupf in einem Steinbruch und schlugen sich dann zu der Widerstandsorganisation »Jindra« in Prag durch.

Als die Leitung der Widerstandsgruppe von dem Auftrag der beiden Soldaten erfuhr, war ihre erste Reaktion, dass das den Terror der SS zu einem Blutrausch steigern werde. Vertreter von Widerstandsorganisationen aus dem ganzen Land waren sich während einer konspirativen Beratung einig, dass durch ein Attentat ihre Widerstandsarbeit vermutlich völlig zum Erliegen kommen würde und man den Abgesandten aus London das Unternehmen wieder ausreden müsse. Auch innerhalb der Londoner Exilregierung regten sich Zweifel. Letzten Endes war jedoch Präsident Beneš entschlossen, auch das Risiko von zu erwartenden Blutopfern einzugehen.

Am 25. Mai 1942 vormittags wurde Heydrich in seinem offenen Kabriolet auf dem Weg zur Prager Burg durch eine Handgranate schwer verletzt. 10 Tage danach erlag Heydrich seinen Verletzungen.

Das Massaker von Lidice im Juni 1942, verübt am 9. Juni 1942 auf direkten Befehl Hitlers durch die in Kladno stationierte Kompanie Halle der faschistischen Ordnungspolizei unter Mitwirkung von Waffen-SS und Gestapo war eine Vergeltungsaktion für das Attentat und gehört wie die faschistischen Schandtaten in Oradour-sur-Glane, Babí Jar, den Adreatinischen Höhlen und anderen Orten Europas zu den grausamsten faschistischen Kriegsverbrechen.

Am 9. Juni umstellten Einheiten der Ordnungspolizei und Gestapo das Dorf Lidice, trieben die gesamte Einwohnerschaft zusammen, Frauen und Kinder wurden in der Schule, die Männer im Keller, auf der Tenne und im Pferdestall des Bauernhofes der Familie Horak eingesperrt.

Die grausame Bilanz: 172 Männer und Jugendliche ab 16 Jahre wurden in Lidice, 7 Frauen in Prag erschossen. 19 Bergarbeiter, die am 9. und 10. Juni in den Kohlengruben von Kladno gearbeitet hatten, wurden verhaftet, nach Prag gebracht und ebenfalls ohne Urteil hingerichtet,195 Frauen aus Lidice nach Ravensbrück deportiert, 53 in KZs und auf Todesmärschen ermordet. 98 Kinder des Dorfes wurden in das Lager der sogenannten »Umwandererzentrale Litzmannstadt« in der Gneisenaustraße 41 in Litzmannstadt (polnisch Łódź) deportiert und nach rassischen Kriterien ausgesondert. Dreizehn dieser Kinder wurden zur »Germanisierung« in ein sogenanntes Lebensborn-Heim gebracht. Die anderen Kinder wurden zusammen mit elf Kindern aus Ležáky ins Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort vergast. Die dreizehn Kinder, die zwecks »Germanisierung« ausgesondert worden waren, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern wieder aufgefunden, ebenso sechs von den sieben, die nach dem 10. Juni 1942 geboren wurden; das siebte war verstorben.

Die beiden Attentäter und fünf weitere Mitglieder des Kommandounternehmens wurden verraten, in den Katakomben einer Kirche am Karlsplatz aufgespürt und dort von der Prager Feuerwehr ersäuft.

SS-Pioniere sprengten die Gebäude und machten das Dorf zusammen mit einer Einheit des sogenannten Reichsarbeitsdienstes dem Erdboden gleich. Auf Befehl des Stellvertreters von Heydrich und dessen Nachfolgers Karl Hermann Frank wurde die gesamte Aktion filmisch dokumentiert.

Strafverfolgung – Gedenken – Solidarität

Während der Nürnberger Prozesse sowie des Prozesses gegen Frank wurde das sichergestellte Filmmaterial als Beweismittel genutzt. Aus einer Studie des Münsteraner Historikers Stefan Klemp aus dem Jahre 2012 geht hervor, dass die Strafverfolgung von beteiligten Tätern in der BRD marginal bis ergebnislos verlief, während in der DDR alle ermittelten Täter zur Verantwortung gezogen worden sind.

Im Juni 1945 fand auf dem Gelände des gebrandschatzten Dorfes eine Gedenkfeier mit 150.000 Teilnehmern statt. Darunter waren 145 Lidicer Frauen, die in Ravensbrück befreit worden waren, sowie 17 der ehemals 105 Kinder. Dort wurde der Wiederaufbau von Lidice von der Regierung Gottwald offiziell verkündet. Zwischen 1947 und 1959 bauten Arbeiter- und Jugendbrigaden für jede Frau und jede Waise je ein Einfamilienhaus. Die Gemeinde Lidice hat derzeit 512 Einwohner, unter ihnen 20 Lidicer Frauen und 12 der inzwischen erwachsenen Kinder.

Dieses barbarische Kriegsverbrechen löste weltweit Entsetzen und eine Solidaritätswelle nie dagewesenen Umfangs aus. Thomas Mann nannte in seiner BBC-Sendung unmittelbar danach Heydrichs Tod »den natürlichsten Tod, den ein Bluthund wie er« habe sterben können. Heinrich Mann schrieb noch 1942 einen satirischen Roman mit dem Titel »Lidice«, der 1943 in Mexiko im Exilverlag El Libro Libre und 1984 in der DDR im Aufbau Verlag erschien. Fritz Lang und Bertolt Brecht schufen 1943 mit dem Film »Auch Henker sterben« vor dem historischen Hintergrund ein antifaschistisches Drama. Willi Sitte malte 1956 ein Triptychon für die Lidicer Galerie moderner Kunst, das er den Frauen von Lidice widmete. Auf dem Transport dorthin ist das Werk 1962 unauffindbar verschollen. Weltweit haben sich – besonders in Lateinamerika – Gemeinden in Lidice umbenannt. Eltern haben ihren Kindern den Vornamen Lidice gegeben. In der Gedenkstätte von Lidice sind derzeit noch 130 Frauen mit dem Vornamen Lidice bekannt, die im sozialen Netzwerk Facebook untereinander in Kontakt stehen.

Als Teil der weltweiten Solidarität wurde die Gründung eines Rosengartens im Jahre 1954 durch die Initiative »Lidice soll leben« des britischen Arztes Sir Barnett Stross ins Leben gerufen. Mit der Bewegung »Lidice shall Live« sprach er 1942 die Bergarbeiter im Revier North Staffordshire an. Diese Solidaritätsbewegung erfasste ganz Großbritannien.

Die sorgsam gepflegte Rosenanlage beherbergt inzwischen über 200 Rosensorten und mehr als 24.000 Rosenstöcke, von vielen Ländern der Erde gestiftet. Er ist Teil des denkmalgeschützten Areals und ist als Teil der Gedenkstätte zu einer Touristenattraktion geworden.

2015 erhielt der Rosengarten »des Friedens und der Freundschaft« zwei Auszeichnungen: den tschechischen Titel »Der Rekord des Jahres« für die größte Anzahl an Rosenstöcken in einem Garten. Die Weltrosenvereinigung zeichnete ihn außerdem in diesem Sommer mit dem Preis »Exzellenter Garten« aus, der an weltweit herausragende Rosengärten verliehen wird.

Die alljährlichen Gedenkveranstaltungen mit Kranzniederlegungen im Juni waren bis Ende der achtziger Jahre gewaltige Friedensdemonstrationen mit jeweils Hunderttausenden Teilnehmern und vielen ausländischen Gästen.

Die staatliche Fürsorge für das denkmalgeschützte Areal Lidice wurde von den neuen Machthabern in Tschechien auf ein Minimum heruntergefahren. Für die Werterhaltung und Sanierung der Gedenkstätten ist kaum Geld da. Sie mussten dessen ungeachtet dulden, dass im Jahre 2000 ein beeindruckendes bronzenes Denkmal für die Kinder Lidices im Park errichtet wurde.

Die jährlichen Kranzniederlegungen finden nach wie vor statt, nun aber von wenigen hundert Getreuen. Organisatoren sind nun der Verband der Kämpfer für die Freiheit (als die Nachfolgeorganisation des tschechischen Verbandes der antifaschistischen Widerstandskämpfer), örtliche Basisorganisationen der KPBM und andere antifaschistische Vereinigungen. Alljährlich nehmen deutsche Antifaschisten aus Bayern, Brandenburg und Sachsen daran teil.