Das große Wettspiel
Von Uri Avnery, Israel
"IACTA ALEA EST" – der Würfel ist gefallen – sagte Julius Caesar und überquerte den Fluß Rubicon, um Rom zu erobern. Dies war das Ende der römischen Demokratie.
Wir haben keinen Julius Caesar. Aber wir haben einen Avigdor Liberman. Als er neulich verkündete, daß er die Bildung einer von Binyamin Netanyahu angeführten Regierung unterstützen werde, so war dies die Überquerung seines Rubicon.
Ich hoffe, daß dies nicht der Anfang vom Ende der israelischen Demokratie ist.
BIS ZUM letzten Augenblick hielt Liberman die israelische Öffentlichkeit in Spannung. Wird er sich Netanyahu anschließen? Wird er sich Zipi Livni anschließen?
Diejenigen, die an diesem Ratespiel teilnahmen, waren geteilter Meinung über Liberman.
Einige von ihnen sagten: Liberman ist tatsächlich der, den er zu sein vorgibt: ein extremer nationalistischer Rassist. Sein Ziel ist es, Israel wirklich in einen jüdischen Staat zu verwandeln, der "araberrein" ist – wie man im Deutschen sagen würde. Für die Demokratie hat er nur Verachtung übrig, was sein Land als auch seine eigene Partei angeht, die aus Ja-Sagern und Ja-Sagerinnen besteht, die keine eigene Persönlichkeit haben. Wie ähnliche Parteien in der Vergangenheit, gründet sie sich auf (seinen) Personenkult, die Anbetung brutaler Gewalt, Verachtung der Demokratie und des Rechtsystems. In andern Ländern wird dies Faschismus genannt.
Andere sagen, das sei alles Fassade. Liberman sei kein israelischer Führer, weil er nichts anderes als ein Gauner und Zyniker sei. Die polizeilichen Untersuchungen gegen ihn und seinen Geschäftsumgang mit Palästinensern offenbarten ihn als korrupten Opportunisten. Er ist ein Freund von Zipi. Er pflegt ein faschistisches Bild von sich selbst nur, um sich den Weg zur Macht zu bahnen. Er wird all seine Slogans für ein Stück Regierung verkaufen.
Der erste Liberman würde die Aufstellung einer extrem rechten Regierung von Netanyahu unterstützen. Der zweite Liberman hingegen müßte eine Livni-Regierung unterstützen. Eine ganze Woche lang spielte er mit den Bällen. Jetzt hat er sich entschieden. Er ist tatsächlich ein extrem nationaler Rassist. Die Amerikaner sagen: wenn er watschelt wie eine Ente und schnattert wie eine Ente, dann ist es ein Ente.
Um den Schein zu wahren, sagte er dem Präsidenten, daß sein Vorschlag, Netanyahu mit dem Aufstellen einer Regierung zu betrauen, nur für eine breite Koalition gelte, die Likud, Kadima und seine eigene Partei umfasse. Aber auch das war nur ein Taschenspielertrick: wahrscheinlich wird solch eine Regierung nicht zustande kommen und die nächste Regierung wird eine Koalition von Likud, Liberman, den Anhängern von Meir Kahane und den religiösen Parteien sein.
EINIGE DER Linken sagen: ausgezeichnet! Die Wähler werden genau die Regierung bekommen, die sie verdienen. Schließlich und endlich gibt es eine exklusiv rechte Regierung.
Einer der Befürworter dieser Haltung ist Gideon Levy ( Journalist bei Haaretz), ein konsequenter Verfechter des Friedens, der Demokratie und der bürgerrechtlichen Gleichheit.
Er und andere, die wie er denken, sagen: Israel muß diese Phase einfach durchmachen, bevor es wieder zu sich selbst kommt. Die Rechte muß unbegrenzte Macht erhalten, um ihr Programm realisieren zu können, ohne den Vorwand, von Linken oder Mitgliedern des Zentrums in der Koalition daran gehindert zu werden. Laßt sie vor den Augen der Welt versuchen, eine Politik des Krieges zu führen, die Hamas im Gazastreifen zu stürzen, jegliche Friedensverhandlung ad acta zu legen, ungehindert Siedlungen auszubauen, ins Gesicht der Weltmeinung zu spucken und mit den USA auf Kollisionskurs zu gehen.
Nach dieser Ansicht kann solch eine Regierung nicht lange dauern. Die neue amerikanische Regierung von Barack Obama wird dies nicht zulassen. Die Welt wird sie boykottieren. Die amerikanischen Juden werden geschockt sein. Und wenn Netanyahu vom schmalen Weg der Rechten abkommt – und sei es auch nur geringfügig – dann wird seine Regierung auseinanderfallen. Die Kahane-Anhänger, die in einer solchen Koalition vollwertige Partner wären, würden sich von ihm auf der Stelle trennen. Die letzte Netanyahu-Regierung wurde schließlich vor zehn Jahren von der extremen Rechten gestürzt, nachdem er sich mit Yasser Arafat zusammengesetzt hatte und ein Abkommen unterzeichnete, das der Palästinensischen Behörde (pro forma) einen Teil Hebrons überlassen hatte.
Nach dem Sturz der Regierung wird die Öffentlichkeit – entsprechend dieser Prognose – begreifen, daß es keine rechtsorientierte Option gibt, daß die Slogans der Rechten nichts als Unsinn sind. Nur so werden sie zu der Schlußfolgerung kommen, daß es keine Alternative auf dem Weg zum Frieden geben wird. Die Wähler werden für eine Regierung stimmen, die die Besatzung beenden, den Weg für einen unabhängigen palästinensischen Staat mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem frei machen und sich auf die Grenze der Grünen Linie (mit miteinander abgestimmten Korrekturen) zurückziehen wird.
Damit die Öffentlichkeit dies akzeptiert, ist ein Schock nötig. Der Sturz einer extremen Rechts-Regierung kann solch einen Schock auslösen. Nach einem – scheinbar fälschlicherweise Lenin untergeschobenen – Wort: Je schlimmer, desto besser. Oder anders gesagt: es muß erst schlimmer werden, bevor es irgendwie besser werden kann.
DAS IST eine verführerische Theorie. Aber sie ist auch sehr beängstigend. Obama hat noch keinen wirklichen Test über irgendeinem der relevanten Problemfelder bestanden. Klar ist schon, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem, was er während der Wahlkampagne versprach und dem, was er in die Praxis umsetzt. Auf verschiedenen Gebieten setzt er mit leichten Veränderungen die Politik von George Bush fort. Das wurde natürlich erwartet. Aber wie er unter wirklichem Druck reagieren würde, das hat Obama noch nicht gezeigt. Wenn Netanyahu die volle Macht der Pro-Israel-Lobby mobilisieren wird, wird Obama dann aufgeben wie alle vorausgegangenen Präsidenten?
Und die öffentliche Meinung in aller Welt – wie weit ist sie geeint? Wie viel Druck kann von ihr ausgehen? Wenn Netanyahu alle Kritik seiner Regierung zu "Antisemitismus" erklären wird und jeden Boykott als ein Echo des Nazi-Slogan "Kauft nicht beim Juden!" – wie viele Kritiker werden dann noch aufstehen, und dem Druck widerstehen? Wie viel Mut werden Merkel, Sarkozy, Berlusconi und andere aufbringen? Und auf der andern Seite: wird ein weltweiter Boykott nicht die Paranoia in Israel verstärken und die ganze israelische Öffentlichkeit in die Arme der extremen Rechten stoßen – mit dem abgedroschenen Slogan "Die ganze Welt ist gegen uns".
UNTER DEN besten Umständen – wenn sich maximaler Druck entfaltet und dieser maximal wirksam wird, wie lange wird es dauern? Was für eine Katastrophe kann solch eine Regierung auslösen, bevor der Druck beginnt und Wirkung zeigt? Wie viele Menschen werden in Angriffen und bei Racheakten auf beiden Seiten getötet und verletzt? Solch eine Regierung wird von Siedlern beherrscht sein. Wie viele neue Siedlungen werden gebaut werden? Wie viele bestehenden Siedlungen werden mit hektischer Geschwindigkeit erweitert werden? Und inzwischen werden die Siedler ihre Schikanen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung intensivieren mit dem Ziel der ethnischen Säuberung.
Die Mitglieder der rechts orientierten Koalition haben schon erklärt, daß sie keiner Feuerpause im Gazastreifen zustimmen werden, weil dies die Herrschaft der Hamas dort festigen würde. Sie würden den Gazakrieg wieder aufnehmen – unter einer noch brutaleren Führung – den Streifen wieder erobern und die Siedler nach dorthin zurückkehren lassen.
Netanyahus Slogan von einem "wirtschaftlichen Frieden" ist völliger Blödsinn, weil sich keine Wirtschaft unter einem Besatzungsregime und mit Hunderten von Straßensperren entwickeln kann. Jeder Friedensprozeß – real oder virtuell – wird zum Erliegen kommen. Die Folge: Die palästinensische Behörde wird zusammenbrechen. Aus Verzweiflung wird sich die Bevölkerung der Westbank erst recht der Hamas zuwenden, oder die Fatah-Bewegung wird zu einer zweiten Hamas.
Innerhalb Israels wird sich die Regierung einer verstärkten Wirtschaftskrise und vielleicht einem wirtschaftlichen Chaos gegenüber sehen. Alle Teile der Regierung sind sich einig im Haß gegen den Obersten Gerichtshof, und die wahnsinnigen Manipulationen des Justizministers Daniel Friedmanns werden noch wahnsinnigeren Platz machen. Unter dem eingängigen Slogan vom "Regime-Wechsel" wird es gezielte Angriffe auf das demokratische System geben.
All dies ist möglich. Ein oder zwei Jahre einer Bibi-Liberman-Kahane-Regierung können irreparablen Schaden an Israels Stellung in der Welt anrichten, an den israelisch-amerikanischen Beziehungen, am Rechtssystem, an der israelischen Demokratie, der nationalen Moral und der nationalen Vernunft.
DIE POSITIVE Seite der Situation ist, daß in der Knesset wiederum eine große Opposition entstehen wird. Vielleicht wird es sogar eine effektive Opposition sein.
Kadima entstand als Regierungspartei. Es wird für sie nicht leicht sein, die Rolle einer Oppositionspartei einzunehmen. Dies wird eine emotionale und intellektuelle Umwandlung benötigen. Ich habe zehn Jahre lang einen kompromißlosen oppositionellen Kampf in der Knesset geführt und weiß, wie schwierig das ist. Aber wenn Kadima solch eine Umwandlung gelingt – was zweifelhaft ist – dann könnte sie eine effektive Opposition werden. Die Notwendigkeit, eine klare Alternative zur rechts radikalen Regierung darzustellen, könnte in ihr ungeahnte Kräfte frei setzen. Zipi Livnis diplomatische Spiele mit den Palästinensern könnten sich in ein ernst zu nehmendes Programm für eine Zwei-Staatenlösung wandeln, ein Programm, das durch den täglichen parlamentarischen Kampf gegenüber der Regierung mit einem gegensätzlichen Programm gestärkt und vertieft werden wird.
Auch die Laborpartei wird eine tiefgreifende Umwandlung durchmachen müssen. Ehud Barak ist sicher nicht die Person, einen oppositionellen Kampf durchzufechten – besonders da er nicht der "Führer der Opposition" sein wird, ein Titel, der dem nach dem Gesetz zusteht, der der Führer der größten Oppositionsfraktion ist. Er wird sogar in der Opposition auch nur die zweite Geige spielen. Labor wird konkurrieren müssen und vielleicht, vielleicht wird dies zu ihrer Erholung beitragen. Die Bibel erzählt uns von dem Wunder der trockenen Knochen (Hesekiel 37).
Dies trifft vor allem für die Meretz-Partei zu. Sie muß mit Kadima und Labor konkurrieren und ihren Platz im Kampf um Frieden und die sozial staatliche Reformen rechtfertigen.
Ein wirklicher Optimist kann sogar hoffen, daß die Kluft zwischen der "jüdischen Linken" und den "arabischen Parteien" geringer wird. Bis jetzt hat die Linke sie boykottiert und außerhalb der Koalitionsberechnungen gelassen. Der gemeinsame Kampf und die gemeinsamen Abstimmungen in der Knesset könnten auch hier eine positive Entwicklung bringen.
Und außerhalb der parlamentarischen Arena mag die Regierung der extremen Rechten die Atmosphäre im Lande ändern und viele wohlmeinende Leute dahin bringen, die Sicherheit ihres Elfenbeinturmes zu verlassen und mit einem Prozeß intellektueller Verjüngung in den Zirkeln zu beginnen, aus denen eine neue, offene und andere Linke sich erheben müßte.
ALL DIES sind theoretische Möglichkeiten. Was wird in Wirklichkeit geschehen? Was werden die Konsequenzen einer extrem rechten Regierung sein, wenn Zipi Livni an ihrer Entscheidung festhält, sich nicht der Netanyahu-Regierung anzuschließen? Wird Israel einen selbstmörderischen Weg gehen, von dem es keine Rückkehr mehr gibt, oder wird dies eine vorübergehende Phase sein, bevor der Weckruf erschallt?
Es ist ein großes Wettspiel und wie jedes Wettspiel sowohl mit Furcht als auch mit Hoffnung verbunden.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert. www.uri-avnery.de, erstellt am 21. Februar 2009