Coventry oder Die Büchse der Pandora
Rolf Richter, Eberswalde
Vor 70 Jahren, am 14./15. November 1940, fiel Coventry einem Flächenbombardement der faschistischen deutschen Luftwaffe zum Opfer. Der Angriff war nur einer von vielen der Faschisten gegen Großbritannien, nicht einmal der zerstörerischste. Doch Coventry wurde zum Symbol, nicht zuletzt wegen deren großmäuliger Erfolgspropaganda, die mit den Begriffsfindungen "ausradieren" und "coventrieren" hantierte. Als sich das Blatt wendete und die Angegriffenen mit gleicher Münze zurückzahlten, mutierten die Verursacher des Krieges zu Anklägern. Im Geiste dieser Haltung wird noch heute in Deutschland der Balken im eigenen Auge zum Splitter umgefälscht und die eigene Kriegsschuld ignoriert. Der ostdeutsche Militärhistoriker Olaf Groehler vermerkte 1990: "In letzter Zeit haben die Versuche zugenommen, die unbestreitbaren Terrorakte der Göringschen Bombengeschwader als eine Verkettung unglücklicher Umstände hinzustellen, für die in letzter Instanz niemand verantwortlich ist" [O. GROEHLER, Bombenkrieg gegen Deutschland. Berlin 1990, 9] – oder sie, so ist zu ergänzen, erneut als legitime Kriegsakte zu rechtfertigen.
Ein Beispiel dieser Art von Geschichtsrevisionismus ist der Text eines Anonymus von 2006 im Internet: "Dresden 1945 - Verbrechen oder ‚Antwort auf Coventry‘" [www.npd-goettingen.de, 12. Februar 2006. Ähnliche Argumente bei K.G.: Von Coventry nach Dresden? www.lexikon-der wehrmacht.de]. Darin findet sich das ganze Arsenal revisionistischen Räsonnements. Erstes Kennzeichen: die Bombardements werden aus dem historischen Zusammenhang gelöst bzw. dieser wird geleugnet. Kein Gedanke an den verbrecherischen Angriffskrieg. Ausgangspunkt ist Dresden (mit den inzwischen widerlegten, überhöhten Opferzahlen). Die Fälle Warschau, Rotterdam, Coventry werden mit den bei bundesdeutschen Militärhistorikern üblichen "Argumenten" gerechtfertigt: Irrtümer, Versehen, legitime militärische Ziele... Die Produzenten dieser Rechtfertigungsargumentationen sind Militärs vom Geiste der Wehrmacht [Siehe Sammelband "Die Soldaten der Wehrmacht", München 1998, darin z.B. der Beitrag von H. BOOG zum Völkerrecht im Bombenkrieg (296ff.), in dem er sich beschwert, in Deutschland würde selbst legitime kriegerische Gewalt in "fast neurotische(m) Ausmaße" abgelehnt] und manche Autoren des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Gleiche "Muster" dienten der NATO 1998 für Jugoslawien und dienen heute für Kunduz. Am dümmlichsten und unverfrorensten war der Fall der chinesischen Botschaft in Belgrad. Da gab es zwei "Varianten": a) die Botschaft habe den Jugoslawen Nachrichten geliefert, also legitimes Ziel; b) "Irrtum" – Zielbestimmung nach veraltetem Stadtplan! Aber es begann in Spanien.
Guernica. Die baskische Kleinstadt (5.000 Ew.), gelegen an einer wichtigen Straßenkreuzung mit Flußquerung (Straßen- und Eisenbahnbrücke), Waffenfabrik am Stadtrand, wurde während der Offensive der Franco-Faschisten am 26. April 1937 durch Luftangriff von Legion Condor und Italienern nahezu vollständig zerstört. Folgendes spielte sich ab: "Am späten Nachmittag warfen 26 Bomber, begleitet von 16 Jägern insgesamt 46 Tonnen vornehmlich Sprengbomben über dem Dorf ab. (...) Es war trocken, die Sicht war gut. (...) Der Luftangriff dauerte insgesamt mehr als drei Stunden. Eine gewaltige Zerstörung [70% der Gebäude zerstört, 20% beschädigt, R.R.] und etwa 1.000 Tote waren die Folge" [ M. LÜCKENBACH, Luftkrieg im 20. Jahrhundert. Macht und Ohnmacht von Luftstreitkräften. 2. Aufl. Meckenheim 2006, 67]. Groehler gibt 1.645 Tote und 885 Verwundete an.[O. GROEHLER, Geschichte des Luftkriegs 1910 bis 1980. Berlin/DDR 1981, 196]. Vorausgegangen waren schwere Angriffe gegen Orte an den Rückzugslinien der baskischen Truppen. Gegen Durango wurde erstmals die Taktik erprobt, die den Brand von Guernica auslöste und den späteren Flächenangriffen des Zweiten Weltkriegs zugrunde lag: Kombination von Sprengbomben zum "Öffnen" von Bauhüllen mit nachfolgenden Brandbomben (bei Durango in zwei getrennten Angriffswellen, später auch als gemischter Abwurf).
Obstlt. von Richthofen, zweiter Mann der Legion und Befehlshaber des Angriffs, besichtigte Guernica gleich nach Einnahme durch Franco-Truppen und notierte (30. April 1937): "Angriff erfolgte mit 250-kg- und Brandbomben, letztere etwa 1/3. Als die 1. Jus [die Aushilfsbomber Ju82, R.R.] kamen, war überall schon Qualm [durch die erste Welle mit He111 verursacht, die die Bahnhofsgegend angegriffen hatten, R.R.]. Keiner konnte mehr Straßen, Brücken und Vorstadtziel erkennen und warf nun mitten hinein (...) Die Bauart der Häuser: Ziegeldächer; Holzgalerie und Holzfachwerkhäuser, führte zur völligen Vernichtung (...) Bombenlöcher auf Straßen noch zu sehen, einfach toll." [Zit. nach: K. A. MAIER, Guernica, 26. April 1937. Die deutsche Intervention in Spanien und der Fall "Guernica". Freiburg 1975, 56f]
Das Ereignis wurde sofort bekannt und löste internationale Proteste aus. Seitens der Faschisten gab es nun folgende Reaktionen. Die Beteiligten am Angriff wurden am gleichen Tag verpflichtet, zu schweigen bzw. diesen abzustreiten [MAIER, a.a.O., Anlage 15, 156f]. Die Franco-Junta behauptete, es habe keinen Angriff gegeben, die "Roten" (also die Republikaner) hätten die Stadt mittels Dynamit und Benzin vernichtet. Als der britische Außenminister Eden eine internationale Untersuchung vorschlug, fragte das Berliner Außenamt bei Legionschef Sperrle an. Der schickte Feuerwerker nach Guernica, "die sämtliche Reste von Schwanzflossen der Bomben, Blindgänger etc. entfernten. Danach erhielt Botschafter Ribbentrop [damals in London, R.R.] die Nachricht, daß jederzeit eine Kommission nach G.[uernica] kommen könne" [MAIER, a.a.O., Anlage 16, 158f]. Hitler und Franco lehnten dennoch eine Untersuchung ab. Der Times-Korrespondent Steer hatte aber die deutschen Bomben noch vor der Räumung Guernicas dokumentiert.
Nach 1945 ging das Leugnen und Beschönigen weiter. Brücken und Straßen Guernicas seien legitime Ziele gewesen und wurden wegen "schlechter Sicht" und "Winddrift" verfehlt. Hitlers Flieger-Ikone Adolf Galland, selbst Legionär, schrieb nach Rückkehr aus dem argentinischen Exil 1953 schnoddrig "Als sich der Qualm der Einschläge (...) verzogen hatte, stellte man fest, daß die Brücke unversehrt geblieben war, die angrenzende Ortschaft jedoch allerlei abbekommen hatte" [Zit. nach LÜCKENBACH, a.a.O., 28]. Seitdem ist auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr bemüht, die Version von den "Fehlwürfen" aufrechtzuerhalten. Im 2004 erschienenen Buch des MGFA-Direktors (ab 1999) Rolf-Dieter Müller liest man: "Bis heute wird der Angriff auf Guernica als Beginn des terroristischen Luftbombardements angesehen, eine Legende, die von der wissenschaftlichen Literatur längst widerlegt ist [...] Die Gesamtmenge der eingesetzten Bomben hielt sich ebenso wie der Anteil an Brandbomben in dem Rahmen, der für Brückeneinsätze üblich geworden war." Mindestens bezüglich der Brandbomben kommen da Zweifel auf. Etwas kleinlauter heißt es dann: "Der Wirkung nach reichte der Angriff auf Guernica an die Dimensionen der Terrorbombardements heran" [R.-D. MÜLLER, Der Bombenkrieg 1939-1945. Berlin 2004, 38f]. Nicht nur der Wirkung nach, sondern auch "in der Art seiner Durchführung", wie Groehler bemerkte [GROEHLER 1981, a.a.O., 196] und Maier detailliert nachwies. Dessen Monographie, vom MGFA herausgegeben, bietet zu Guernica einen Eiertanz. "Daß die Zerstörung der ganzen Stadt von Anfang an beabsichtigt war, ist unwahrscheinlich, da es unzweckmäßig gewesen wäre, die Bombenwirkung auf eine so große Fläche zu verteilen, anstatt sie auf die Engstelle zu konzentrieren". Das Argument überzeugt wenig. Schließlich hat das brennende Guernica die zurückgehenden Basken zu Umwegen gezwungen. Der deklarierte Zweck wurde erreicht, die Bombenlast reichte für mehr als die Zerstörung der brückennahen Vorstadt. Die "schlechte Sicht" (von den ersten Bomben erst erzeugt) läßt der Autor durch so anrüchige Zeugen wie Francos Militärs bestätigen und urteilt salomonisch, die "Fehlwürfe" seien so "erklärlich". Dann aber stellt er fest, Angriffsformation und -höhe sprächen eher für ein Flächen- als ein Punktziel, und die verwendete Abwurfmunition "lasse keine andere Erklärung zu, als daß zumindest [!] die Zerstörung der Vorstadt durch Brandwirkung beabsichtigt war" [MAIER, a.a.O., 55-68]. Wie Vorstehendes wurde auch die Feststellung nicht bewertet, daß Guernica "in Angriffswellen zu jeweils zwischen drei und zwölf Flugzeugen, sektorenweise" [Hervorhebung: R.R.] bombardiert wurde. Lückenbach spricht dagegen Klartext. "Tatsache ist, daß der Angriff auf Guernica geplant war. Berichte des Stabes der Legion an das Reichsluftfahrtministerium [= RLM] belegen, daß die Wirkung von Flächenbombardements getestet werden sollte." Und an anderer Stelle: "Daß dabei auch die Auswirkungen auf die Bevölkerung beobachtet werden sollten, zeigen entsprechende Berichte an den Sonderstab im RLM" [LÜCKENBACH, a.a.O., 28, 65f. Der Autor, Luftwaffenoffizier, Oberst i.G., war tätig im Bundesverteidigungsministerium und in verschiedenen Stäben. Seine Schrift wurde anscheinend ohne offiziellen Segen privat verlegt. – Sonderstab: wohl Sonderstab "Rügen", der die Berichte der Legion auswertete].
Coventry. Nach Guernica folgten Barcelona, dann Warschau und Rotterdam. Die Bombardierung Warschaus während der Kämpfe wird heute als legitime Kriegsmaßnahme gewertet (Groehler wies aber nach, daß der Plan dazu schon vor Kriegsbeginn ausgearbeitet war), Rotterdam als "bedauerlicher Fehler", als "Kommunikationsproblem" während der Übergabeverhandlungen entschuldigt. Coventry eröffnete nach massiver Bombardierung Londons die Angriffe auf 30 englische Industriestädte. Es wurde nachts bei klarem Wetter von 449 Bombern angegriffen, die mit Funkleitstrahlen im "X"-Verfahren herangeführt wurden. Deren Schnittpunkt lag genau im Stadtzentrum, nicht auf den Betrieben. Entsprechend markierten die "Beleuchter" und bombten die Geschwader. "Folglich war die Stadtmitte eine Stunde nach dem Angriffsbeginn ein einziger Schutthaufen (...) Zwar wurden auch einige Fabrikhallen getroffen, die Produktion wurde aber nicht nachhaltig behindert." Ziel dieser Phase deutscher Luftangriffe war "Niederringung Englands durch Großeinsätze von Bombern nach dem Douhet’schen Prinzip, also Lähmung des Willens der Bevölkerung zur Fortführung des Kampfes durch weitestgehende Zerstörung der Lebensgrundlagen." [LÜCKENBACH a.a.O. 134, 139, MÜLLER a.a.O. 78-81; GROEHLER 1981, 281-284] Wieder wurde abgestritten: "Der deutsche Angriff auf Coventry war kein sogenannter Vergeltungs- oder Terrorangriff." Er hätte der dortigen Industrie gegolten. "Wenn trotzdem die Stadt getroffen wurde, ist dies nur dadurch zu erklären, daß die Navigationsmittel mangelhaft waren." [Theo WEBER, Die Luftschlacht um England. Wiesbaden 1956, 162, Fußnote 465] Doch Groehler (1981) fand Görings Angriffsbefehl-Auftrag "Vernichtung der Stadt Coventry". Das "moral bombing" wurde nach der britischen Auswertung eben von Coventry Grundlage der Flächenbombardements der Royal Air Force (RAF) gegen deutsche Städte. Die Büchse der Pandora war geöffnet.
Briefe aus Hannover. Die Wirkung des Bombenkrieges auf die Stimmung der Stadtbevölkerung kann ich den Briefen meiner Mutter aus Hannover entnehmen. Im Januar 1941 galt ihre Sorge der von Conti-Reifenfabrik und privaten Öfen verrußten Luft und der Grippe. Im Februar gab es einen der (noch) seltenen RAF-Angriffe; über den sie ausführlich berichtete: 51 Tote, 90 Schwerverletzte. "Wir saßen von 9.15 [d.i. 21.15 Uhr, R.R.] bis 4 Uhr morgens im Keller. In Wellenwurden ganz zahlreich Bomben abgeworfen und ebenso heftig von der Flak geschossen. Das Ergebnis waren dann auch zahlreiche Brände." Schließlich zog sie – eigentlich Gegnerin der Nazis und deren Krieges – in fast "patriotischer" Aufwallung über einen Arzt her, der seine Nächte außerhalb der Stadt verbrachte: "Wie kann man als Arzt so feige sein ... Wenn unsere Soldaten so wären, müßten wir bis ans Ende der Welt laufen, vor dem Feind. Die wenigen Ärzte, die noch hier sind, sind überlaufen, und dieser Mann haut einfach ab, wenigstens nachts." Im Mai 1943 war neben dem Krieg dann auch die Lebensmittelversorgung Briefthema: "... Wenn nur der elende Krieg bald vorbei wäre. Man ist so richtig ausgehungert, man hört es überall und merkt es auch, man hat keine Kraft mehr …" Aber nur wenige fanden Mut zum Widerstand gegen das Regime.
Die Zivilbevölkerung in den Luftkriegsgebieten litt nicht nur unter den Bombardierungen und Zerstörungen selbst. Auch wo bzw. wenn keine Angriffe stattfanden, gab es immer häufiger Luftalarme. Diese behinderten Erwerbsarbeit, alle Besorgungen, verursachten Schulausfall für die Kinder, raubten den Nachtschlaf. In Dresden, das bis Ende 1944 kaum angegriffen wurde, stieg die Zahl der Alarme je Monat von 1,9 1943 auf 8 1944 und über 36 (darunter also Mehrfachalarme) bis April 1945. Nachtalarme gab es im Schnitt einmal monatlich, da die US Airforce vornehmlich am Tage angriff [Nach den Alarmtabellen bei G. BERGANDER, Dresden im Luftkrieg, Köln 1994, 403-410]. In Hannover gab es im Oktober 1943 12, im April 1944 über 40, im November 53, im Februar 1945 92 Alarme monatlich. Die Zahl der Alarmstunden je Monat stieg von 14 (10/1945) auf 25 (4/1944) und 41 im November. Hier bombardierte vor allem die RAF, daher waren die Nachtalarme häufiger, so im Juni 1944 8, im August 11 [NLA-HStA Hannover, Hann. 130 Nr. 49/1 Generalia Luftschutz]. Schulzerstörungen und -verlegungen, Evakuierung, Kinderlandverschickung, Flakhelferdienst der oberen Jahrgänge – von geregeltem Unterricht konnte 1944 in Hannover kaum noch die Rede sein. Der Brief eines Cuxhavener Marine-Oberstabsarztes an den Schuldirektor seiner Tochter (4. Schuljahr) erhellt die Wirkung auf die Kinder. Das Mädchen hatte "wegen verringerten Nachtschlafes" 8 Pfund abgenommen (also Appetitlosigkeit, "blaß, kraftlos, Schatten unter den Augen") [NLA-HStA Hannover, a.a.O.]. Heute würde man bei den meisten dieser Kinder von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) sprechen. Die z.T. langzeitigen psychophysischen Nachwirkungen sind aber bisher selbst in der "Kriegskinder"-Literatur wenig beachtet worden [Ursula KOSER-OPPERMANN in: U. JUREIT, B. MEYER (Hrsg.), Verletzungen. Lebensgeschichtliche Verarbeitung von Kriegserfahrungen, Hamburg 1994; M. KRAUSE, Flucht vor dem Bombenkrieg. Düsseldorf 1997; W. BÖNITZ; Feindliche Bomberverbände im Anflug. Zivilbevölkerung im Luftkrieg, Berlin 2003.; Hilke LORENZ, Kriegskinder, München 2003; Dietmar SÜß (Rezension) in Sehepunkte 4 (2004) Nr. 7/8; http//www.sehe-punkte.de/2994/07/6714.html. Zitiert dort auch Sonya A. Rose zu England].
Es macht wenig Sinn, die Flächenbombardements des Angreifers im "strategischen Bombenkrieg" zu verurteilen, die der Angegriffenen gut zu befinden, zumal letztere später mit Hiroshima, Korea und Vietnam diese Strategie in rigoroser Weise fortsetzten. Wir sollten verstehen, daß nach Kriegsbeginn menschenverachtende Eskalation nicht mehr zu stoppen ist. Dafür gibt es nur eine Chance: den Krieg verhindern.