Clara Zetkin und die Oktoberrevolution
Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Berlin
Im November dieses Jahres begehen wir den 90. Jahrestag der Oktoberrevolution; bereits am 5. Juli gedenken wir anläßlich ihres 150. Geburtstages Clara Zetkins, die eine der bedeutendsten Zeitgenossinnen, Kampfgefährtinnen und Analysten dieser Revolution war. Zu deren 10. Jahrestag schrieb sie: "Ein Beben ging durch die blutdampfende Welt, als Anfang November 1917 die Meldung sie durchflog: In Rußland haben die Arbeiter, geführt von der bolschewistischen Partei, unterstützt von den Bauern, in revolutionärem Kampfe die Staatsmacht erobert und in der neuen Staatsform der Sowjetordnung die Diktatur des Proletariats aufgerichtet ... Die trockene Nachricht kündete die von den Altmeistern des wissenschaftlichen Sozialismus klar vorausgesehene entscheidende Weltwende der Menschheitsgeschichte, kündete ein revolutionäres Geschehen von tieffurchender Tragweite." [C. Zetkin: Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, Berlin 1977, S. 406.] Und bei ihrem letzten öffentlichen Auftreten, am 8. März 1933, bekräftigte Clara Zetkin: "Keine Macht der Welt kann die unsterbliche Bedeutung des Sowjetstaates aus der Geschichte tilgen." [Ebenda, S. 475/476.] Heute gibt es diesen Staat nicht mehr. Gilt Clara Zetkins Wertung dennoch? Ich denke, sie gilt nach wie vor.
Dies unterstreicht auch Eric Hobsbawm, einer der bedeutendsten Historiker unserer Zeit, wenn er schreibt: "Die Oktoberrevolution brachte die gewaltigste Revolutionsbewegung der modernen Geschichte hervor." Sie mit der größten bürgerlichen Revolution, der Französischen Revolution von 1789, vergleichend, bescheinigt Hobsbawm der Oktoberrevolution "ein sehr viel stärkeres und globaleres Echo als ihre(r) Vorgängerin. ... die faktischen Auswirkungen von 1917 waren bei weitem größer und anhaltender als die von 1789." [E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, (München Wien 1995), S. 79.]
Hobsbawm verweist auf ein entscheidendes Element dieser Einschätzung: "Der Sieg der Sowjetunion über Hitler war die Leistung jenes Regimes, das mit der Oktoberrevolution etabliert worden war ... Ohne die Oktoberrevolution bestünde die Welt (außerhalb der USA) heute wahrscheinlich eher aus einer Reihe von autoritären und faschistischen Varianten als aus einem Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien." [Ebenda, S. 22.] Clara Zetkins Beziehungen zur Oktoberrevolution sind vielseitig. Um nur einige zu nennen: In der deutschen Arbeiterbewegung gab sie die frühesten und klarsten öffentlichen Stellungnahmen für die Oktoberrevolution ab. In ihrem ganzen Leben wirkte sie für die Stärkung der Impulse, für die Verwirklichung der Ideen der Oktoberrevolution. Sie war eine leidenschaftliche und talentvolle Verteidigerin der Oktoberrevolution und ihrer Schöpfung gegen die Angriffe antisozialistischer Politiker und Ideologen.
Und sie leistete einen bedeutenden Beitrag zur theoretischen Erschließung der Oktoberrevolution und ihrer Erfahrungen, zur Erhellung ihres weiteren Weges. In meinem Vortrag möchte ich mich zu diesen Aspekten äußern.
Die Oktoberrevolution 1917 bildete einen Knotenpunkt im Leben und Wirken Clara Zetkins. Dieses war in zwei historischen Epochen verankert. Vor dem Oktober 1917 lagen – seit ihrem Eintritt in die Sozialistische Arbeiterpartei 1878 – fast vier Jahrzehnte politischen und theoretischen Kampfes in den Reihen der sozialistischen Bewegung. In dieser Zeit war sie sowohl in ihrem Selbstverständnis als auch in ihrem praktischen Handeln konsequente Marxistin. Franz Mehring sagt von ihr, daß "in der Kenntnis der marxistischen Theorie wenige Lebende sich mit Clara Zetkin messen können und sicherlich keiner ihr darin überlegen ist" [F. Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Berlin 1963, S. 506.]. Wie Rosa Luxemburg stand sie unwandelbar auf dem linken Flügel der Partei und bekämpfte unablässig die theoretischen und politischen Positionen, die in der sozialistischen Bewegung als "Revisionismus" und "Reformismus" charakterisiert wurden. Mit August Bebel, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Wilhelm und Karl Liebknecht und jahrzehntelang auch mit Karl Kautsky teilte sie die Auffassung, daß die bürgerliche Gesellschaft durch die proletarische Revolution überwunden werden müsse und diese aus einer wirklich tiefgehenden und umfassenden Krise dieser Gesellschaft hervorgehen könnte.
Folgerichtig wertete sie die Oktoberrevolution sofort als proletarische Revolution, erfaßte sie als epochales Ereignis, als historischen Wendepunkt. Für Clara Zetkin war diese Revolution, die sie seit Jahrzehnten theoretisch antizipiert hatte, in der sie das Ziel ihrer politischen Tätigkeit erblickte, deren Ausbruch in Rußland sie seit 1905 für möglich gehalten hatte, mit der die internationalen Beschlüsse von Stuttgart 1907 und Basel 1912 rechneten – für Clara war diese jetzt als Russische Oktoberrevolution ins Leben getretene Revolution ein politisches und geistiges Schlüsselerlebnis, das sie bewegte und beeinflußte wie kein anderes Ereignis der Zeitgeschichte und der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Die Oktoberrevolution war für sie – wie sie in einem Statement zu deren 10. Jahrestag erklärte – "das geschichtliche Reifezeugnis des Weltproletariats für seine Emanzipation" [Das neue Rußland, 1927, Nr. 9/10, S. 15.].
Seit 1917 erörtert Clara Zetkin im Grunde kein wesentliches politisches oder theoretisches Problem ohne Bezug auf die Oktoberrevolution und deren Wirkungen. Diese Problematik nimmt in ihrem publizistischen und theoretischen Schaffen fortan einen hervorragenden Platz ein.
Ein Sieg der Bolschewiki!
Bei den führenden Köpfen der Spartakusgruppe fand der Russische Oktober sofort ein starkes, zustimmendes Echo. Rosa Luxemburg feierte ihn Mitte November als "eine weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird." [R. Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1984, S. 329. - So am 24. November an Luise Kautsky; ähnlich ("schon ihr Versuch ist epochemachend") am gleichen Tage an Franz Mehring (ebenda). Dies sind die frühesten dezidierten Aussagen Rosa Luxemburgs zur Oktoberrevolution. Am 15. November hatte sie Mathilde Wurm geschrieben: "Um die Russen bangt mein Herz sehr, ich erhoffe leider keinen Sieg der Leninisten, aber immerhin - ein solcher Untergang ist mir doch lieber als ‚Lebenbleiben für das Vaterland’..." (ebenda, S. 322).] Aber ihre Begeisterung war gemischt mit Skepsis: "Natürlich werden sie sich [...] nicht halten können [...]" [Ebenda, S. 329.] – und bald auch mit Unverständnis für den bolschewistischen "Friedensfanatismus" [Ebenda, S. 344.]. Für Karl Liebknecht stand der "ungeheure Prozeß der sozialen u. wirtschaftlichen Revolutionierung Rußlands im Beginn, vor unbegrenzten Möglichkeiten – weit größern als die Große Französ. Revolution" [Vgl. ebenda, S. 385.]. In der Sowjetregierung erblickte er die Diktatur des Proletariats [Vgl. ebenda, S. 385.], hatte aber auch sein Problem mit der bolschewistischen Friedenspolitik [Vgl. ebenda, S. 386.]. "Die russische Revolution hat das Signal einer besseren Zukunft gegeben", erklärte Franz Mehring. Er rügte "den Kleinmut" derer, "die dem Wahne huldigen, durch einen Sonderfrieden entleibe die russische Revolution sich selbst", fand es aber andererseits doch auch "zu beklagen, wenn sich die russische Revolution zu einem Sonderfrieden mit den Mittelmächten bereit erklärt" [F. Mehring: Ges. Schriften, Bd. 15, Berlin 1973, S. 760, 759.].
Clara Zetkin sah schärfer und weiter, lotete tiefer. Bereits wenige Tage nach Eintreffen der ersten Nachrichten über die Proklamation der Sowjetmacht – am 12. November ging der berühmte Funkspruch "An Alle! An Alle!" durch den Äther – äußert sie sich (am 16. November 1917) in der Frauenbeilage der "Leipziger Volkszeitung". Sie qualifiziert das Ereignis als "Triumph der konsequent festgehaltenen und durchgeführten grundsätzlichen und taktischen Auffassung der Bolschewiki" [C. Zetkin: Für den Frieden. In: Für die Sowjetmacht, S. 34.], welche die Diktatur des Proletariats angestrebt hätten. Diese hätten sich durchgesetzt, weil die Regierungsparteien einschließlich der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki sich als vollkommen unfähig erwiesen, die vor der Revolution stehenden Aufgaben – namentlich das Friedensproblem und die Agrarfrage – zu lösen. Es zeigt sich hier eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der Einschätzung der Dinge, wie sie – allerdings ein Dreivierteljahr später – Rosa Luxemburg in ihrer Niederschrift "Zur russischen Revolution" gibt. [Vgl. R. Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 338-341.] Klarsichtig erkannte Clara Zetkin in der unbedingten und raschesten Herbeiführung des Friedens die Frage von Sein oder Nichtsein der Revolution, "die Kraftprobe der Reife und Macht" [C. Zetkin: Für den Frieden, S. 37.] der revolutionären Bewegung und wichtigste internationale Wirkung der Revolution.
In einem Artikel vom 30. November bekräftigte und konkretisierte Clara Zetkin ihre Einschätzung des Charakters der Oktoberrevolution. Zugleich setzte sie sich mit Auffassungen auseinander, die aus der sozialökonomischen und kulturellen Rückständigkeit Rußlands ein zwangsläufiges Scheitern der Revolution folgerten, [C. Zetkin: Der Kampf um Macht und Frieden in Rußland. In: Für die Sowjetmacht, S. 43-46.] wiederum in frappierendem Gleichklang mit Rosa Luxemburgs entsprechender Polemik gegen Kautsky. [Vgl. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 4, S. 332-334.] Wie Rosa in ihren Notizen vom Herbst 1918 wandte Clara Zetkin sich dagegen, die Frage der revolutionären Reife nur auf Grund der genannten Faktoren, nicht unter Beachtung der konkreten historischen und nationalen Bedingungen, sondern unter Verabsolutierung westlicher Maßstäbe und ohne gebührende Berücksichtigung des subjektiven Faktors zu beantworten. Bemerkenswert an Clara Zetkins Sicht der Dinge ist, daß sie bei aller Betonung der Schwierigkeiten nicht daran zweifelt, daß es der Sowjetmacht gelingen werde, sich zu behaupten. Diese Zuversicht korrespondiert mit ihrer Wertung der Sowjetmacht als erstmaliger Verwirklichung der Diktatur des Proletariats seit der Pariser Kommune. Gilbert Badia bemängelt in seiner Zetkin-Biographie, daß Clara die Errichtung der Sowjetmacht "ohne Vorbehalte von Anfang an gebilligt und verteidigt" [G. Badia. Clara Zetkin. Eine neue Biographie, Berlin (1994), S. 157.] hat, ebenso, daß sie von Anfang an den Leninschen Kurs auf unverzügliches Ausscheiden aus dem imperialistischen Krieg unterstützt. Doch in diesen Haltungen offenbart sich ja gerade das außergewöhnliche politische und theoretische Format Clara Zetkins. Badia führt Claras Entschiedenheit neben politischen Motiven auch wesentlich auf gefühlsmäßige Momente zurück, wie "persönliche Verzweiflung", die sie durch "politische Hoffnung" zu kompensieren bemüht war [Ebenda, S. 161/162.].
Eine solche Betrachtung, für die es in ihrem politischen Wirken keine realen An-haltspunkte gibt, wird Clara Zetkin in keiner Weise gerecht, verkürzt ihre Persönlichkeit auf’s Mittelmaß. Ihren Urteilen und Entscheidungen lagen gründliche historisch-materialistische Einschätzungen der politischen Kräfte und der Kräfteverhältnisse zugrunde, die – wie die weitere Entwicklung ja mit aller Deutlichkeit zeigte – realistisch waren, auf einer gekonnten theoretischen Analyse fußten.
Auch die Differenzen zwischen Clara und Rosa Luxemburg in ihrer Haltung zur Errichtung der Sowjetmacht, die Badia zu sehen glaubt [Vgl. ebenda, S. 157.], treffen so nicht zu. Rosa Luxemburg äußerte sich zu diesem Faktum wie Clara ausschließlich positiv, später, in ihrer Niederschrift "Zur russischen Revolution", auch sehr grundsätzlich [Vgl. R. Luxemburg: Ges. Briefe, Bd. 5, S. 319, 322, 329, 332, 344; dies.: Ges. Werke, Bd. 4, S. 334, 338–341, 365.]. Die anfänglichen Zweifel Rosas hinsichtlich der Aussichten der Behauptung der Sowjetmacht, die Clara nicht teilte, erledigten sich bald von selbst, und Rosa kam nicht wieder auf sie zurück [Vgl. R. Luxemburg: Ges. Werke, Bd. 4, S. 397 ff.].
"[...] für Rosa & die russische Revolution[...]"
Ende 1921/Anfang 1922 verfaßte Clara Zetkin eine ihrer umfangreichsten Arbeiten (ein Buch von über 200 Seiten): Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution. Anlaß war, daß Paul Levi (von Dezember 1920 bis Februar 1921 einer der Vorsitzenden der VKPD und im April 1921 aus der Partei ausgeschlossen) Ende 1921 Rosa Luxemburgs bereits erwähnte Niederschrift "Zur russischen Revolution" publizierte, die sie im September/Oktober 1918 im Gefängnis – vor allem zu ihrer Selbstverständigung – verfaßt hatte. Seinerzeit war nicht nur Leo Jogiches, sondern auch Paul Levi entschieden gegen eine Veröffentlichung gewesen. Levi versah sie mit einer Einleitung, die länger war als der Luxemburg-Text und seine Absicht deutlich werden ließ. Sie war von der ersten bis zur letzten Seite eine demagogische Denunziation der seit dem Frühjahr 1921 in Sowjetrußland durchgeführten Neuen Ökonomischen Politik.
"Seit dem Februar 1921 hat die Politik der Bolschewiki einen völligen Umschwung erfahren. Konzession reiht sich an Konzession, Kompromiß an Kompromiß." [Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, Berlin (1990), S. 182.] Lenin weise jetzt den Weg zur Restauration des Kapitalismus. "Nicht nur ökonomisch streichen die Bolschewiki ihre alten Ziele. Sie tun es auch ideell." [Ebenda, S. 218.] Levi begründet das mit Lenins Feststellung, daß man nicht auf Grund des Enthusiasmus unmittelbar, sondern auf Grund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung gangbare Wege suchen müsse, [Vgl. W. Lenin: Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution. In: Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 38.] der Levi dogmatisch Aussagen Lenins von 1918(!) und 1919(!) entgegenstellte. Ein anderer Angriff Levis richtete sich gegen das Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft, die der Arbeiterklasse "unversöhnlich" [R. Luxemburg u. die Freiheit der Andersdenkenden, S. 220.] gegenüberstehe; die Bolschewiki aber hätten sich für die Bauern, gegen die Arbeiter entschieden [Vgl. ebenda, S. 217.]. Die NÖP bedeute "eine grundsätzliche Änderung der Sowjetrepublik in jeder Beziehung" [Ebenda, S. 212.]. "Was also ist von der ‚Diktatur des Proletariats’ geblieben? Nichts." [Ebenda, S. 221.] Lenin gehe zum Kapitalismus wie die SPD zu Stinnes. Dies wecke Zweifel nicht nur an der Politik der KPR, sondern am Sozialismus überhaupt. "Womit sollen die deutschen Arbeiter Stinnes bekämpfen, wenn er ihnen aus der ‚Roten Fahne’ den Artikel von Lenin vorliest: ‚Die persönliche Interessiertheit hebt die Produktion.’" [Ebenda, S. 231.] Levi beschwor Rosa Luxemburg als Kronzeugin für seine von Dogmatismus und Antikommunismus getragenen Angriffe auf die KPR und behauptete, daß ihre Darlegungen von 1918 "ihr Urteil auch über die jetzige Politik der Bolschewiki ahnen lassen." [Ebenda, S. 181.] Clara Zetkin bemerkte dazu sarkastisch: "Zum ‚Ahnenlassen’ als entscheidendes Moment geschichtlicher Einschätzung fehlen uns noch Tischklopfen und Aussprüche eines Mediums als Äußerungen Luxemburgischen Geistes. Lebte Rosa noch, so würde sie sich derartigen politischen Spiritismus sehr unwirsch verbitten." [C. Zetkin: Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution, Hamburg 1922, S. 132/133.]
Am 21. Januar 1922 teilte Clara Zetkin ihrem Sohn Maxim mit: "Ich habe zur Antwort auf Levi’s Veröffentlichung der ‚Nachlaßbroschüre’ Rosas eine große Arbeit gemacht, eine ganze Broschüre. ... Ich habe sie in gleicher Liebe für Rosa & die russische Revolution geschrieben." [Stiftung Archiv d. Parteien u. Massenorganisationen d. DDR im Bundesarchiv, NY 4005/64, Bl. 60.] Im Vorwort erläuterte sie: "Probleme der proletarischen Revolution bilden den Inhalt meiner Darlegungen. ... Sie tragen nach meiner Ansicht dazu bei, die grundsätzlichen Unterschiede der politischen Einstellung zwischen kleinbürgerlich-demokratischen Reformsozialisten und revolutionären Kommunisten scharf hervortreten zu lassen." [C. Zetkin: Um R. Luxemburgs Stellung, S. XIV.] In ihrer Schrift unterstrich sie Rosa Luxemburgs grundsätzliches Bekenntnis zur Politik der Bolschewiki. Sie hob hervor, daß Rosa sich in der Frage der Konstituante völlig revidiert hatte und verwahrte sich gegen Levis Bestreben, Rosas falsche Auffassungen in der Agrar- und Bündnispolitik gegen die Bolschewiki auszuspielen. Sie kritisierte Levis methodologischen Grundfehler des unhistorischen, undialektischen Herangehens: "Paul Levi hat die bolschewistische Agrarpolitik als ‚Ding an und für sich’ behandelt, ohne nach dem geschichtlichen Boden zu fragen, auf dem sie sich durchsetzen muß." [Ebenda, S. 162.] Gegen Levis Hantieren mit abstrakten Demokratievorstellungen bemerkte sie: "Unbeschadet seines hehren, idealen Inhalts und Ziels hat es der wissenschaftliche Sozialismus im Gegensatz zu dem Utopismus abgelehnt [...], ‚ewige sittliche Prinzipien’ als Grundlage der künftigen höheren sozialen Ordnung zu betrachten. Ihre tragende Kraft erblickt er in der Entwicklung der Produktivkräfte [...]." [Ebenda, S. 139.]
Erfahrungen und Lehren des ersten Versuchs
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Clara Zetkin den Versuch, die Sowjetrepubliken über verschiedene Zwischenstufen auf die Bahn einer sozialistischen Entwicklung zu leiten. Nachdrücklich verteidigte sie die NÖP als einen schrittweisen, realistischen Zugang in Richtung Sozialismus. Auf dem IV. Weltkongreß der Komintern (1922) sagte sie von der Politik der sowjetischen Kommunisten, sie sei "der erste Versuch weltgeschichtlichen Maßes, den Marxismus aus einer Theorie zur Praxis zu machen, sie ist der erste große weltgeschichtliche Versuch, das Proletariat vom Objekt der Geschichte zu ihrem Subjekt zu erheben." [C. Zetkin: Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution. Referat auf dem IV. Kongreß der KI. In: Für die Sowjetmacht, S. 298.] Sie machte damit deutlich, worin die Anziehungskraft des Sowjetstaates auf Kommunisten und Revolutionäre in aller Welt lag, worauf sich insbesondere die Autorität der KPR(B) in der Komintern vor allem gründete.
Als wichtigste Lehre der Oktoberrevolution und der folgenden sowjetischen Entwicklung für die internationale Arbeiterbewegung betrachtete Clara Zetkin die Lösung der Machtfrage als unumgänglichen Durchgangspunkt auf dem Wege zum Sozialismus. Bei allen Erörterungen dieser Problematik müssen wir uns – so erklärte sie in ihrem Referat auf dem IV. Weltkongreß – "über das Zentralproblem klarbleiben. Das Zentralproblem ist die Eroberung und Bewahrung der politischen Macht, ist die Staatsgewalt in den Händen des Proletariats. Mit ihr steht und fällt die Möglichkeit, die Gesellschaft zum Kommunismus umzuwälzen, und das als Werk des Proletariats selbst. Der Behauptung der Staatsmacht durch das Proletariat und für das Proletariat sind alle anderen Erwägungen unterzuordnen." [Ebenda, S. 291.] Sie erläuterte diesen Kerngedanken durch den Vergleich der Erfahrungen in Rußland und in Deutschland seit 1917/18.
In ihrem Bemühen, den Weg der Oktoberrevolution zu analysieren, seine Erfahrungen für die internationale revolutionäre Bewegung auszuwerten, nutzbar zu machen, widmete Clara sich natürlich auch dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im Komplex dieser Erfahrungen. In ihrer Schrift "Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution" betonte sie: "In der geschichtlichen Rechtfertigung der bolschewistischen Politik – in ihrer großen allgemeinen Linie – liegt gleichzeitig ihre Begrenzung." [C. Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1960, S. 465.] Die russische Revolution habe wesentliche Züge des Kampfes der Klassen um den Sozialismus herausgearbeitet. "Jedoch das Wie ihrer Durchsetzung wird zweifellos sehr verschieden sein. Es hängt ab von dem großen Komplex vielgestaltiger und viel verschlungener Umstände, die in den einzelnen Ländern nebeneinander liegen, gegeneinander streiten und höchste geschichtliche Aktivität erlangen, wenn der Hammerschlag der Revolution die überkommenen sozialen Normen und Bindungen zerstört. Es wird nicht zuletzt bestimmt werden von dem Reifegrad der kapitalistischen Wirtschaft für den Kommunismus und durch das Kräfteverhältnis der miteinander ringenden Klassen." [Ebenda, S. 465/466.]
Erster Teil eines Vortrags auf der Konferenz des Marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Linkspartei.PDS, der Geschichtskommission beim Parteivorstand der DKP und der Marx-Engels-Stiftung "Die Oktoberrevolution 1917 – eine weltgeschichtliche Zäsur" am 17. März 2007 in Berlin.