Clara Zetkin über die Perspektiven der Oktoberrevolution und des Sozialismus
Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Berlin
Für Clara Zetkin stand es außer Frage, daß die sozialistische Umgestaltung der Sowjetunion eine reale Möglichkeit war. Zugleich war sie bemüht, die ungünstigen, die sozialistische Perspektive gefährdenden Momente und die Bedingungen ihrer Überwindung zu erfassen.
Hier verwies sie vor allem auf die ökonomische und technische Zurückgebliebenheit des Landes und "in Verbindung damit die verhältnismäßige Schwäche, Unerfahrenheit, mangelnde Schulung und geringe Arbeitsdisziplin des Industrieproletariats, die in der Vergangenheit verwurzelte Betriebsweise, Mentalität und Kulturarmut der ungeheuren Mehrzahl der schaffenden Massen überhaupt." [C. Zetkin: Die Russische Revolution auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. In: Die Kommunistische Internationale, 4. Jg., H. 24/25, S. 11.] Im Widerspruch zwischen dem Streben nach Verwirklichung des Sozialismus und den außerordentlich ungünstigen objektiven und subjektiven Voraussetzungen dafür erblickte Clara Zetkin "die Tragik der russischen Revolution." [C. Zetkin: Fünf Jahre russische Revolution, S. 272.] Sie verglich die sowjetische Gesellschaft der zwanziger Jahre mit einer auf die Spitze gestellten Pyramide, bei der auf der noch wenig entwickelten Großindustrie und einer kleinen, noch unerfahrenen Arbeiterklasse als schmaler Basis "die ungeheuren Massive einer kleinbäuerlichen Wirtschaft, einer kleinbäuerlichen Bevölkerung" [Ebenda, S. 273.] lagern. "Es ist das geschichtliche Wunder der Wunder, daß diese umgestellte Pyramide bis heute steht... Aber auf die Dauer ist solch ein Zustand unhaltbar." [Ebenda.]
Unter den Widersprüchen der Sowjetgesellschaft erachtete sie den zwischen sozialisierter Großindustrie und "der ganz überwiegend primitiven Landwirtschaft" [C. Zetkin: Die Bedeutung der aufbauenden Sowjetunion für die deutsche Arbeiterklasse, Berlin 1926, S. 7.] als von besonderer Tragweite. Die private Bauernwirtschaft konserviere die niedrige Produktivität; zugleich erzeuge sie Kapitalismus und fördere die soziale Differenzierung. "Nebeneinander, sich kreuzend und verschlingend, laufen sozialistische und kapitalistische Entwicklungstendenzen." [Ebenda.] Im agrarischen Charakter des Landes, in der Schlüsselrolle der Getreideernte und ihres möglichen Exportanteils für die Akkumulationskraft sah Clara Zetkin "schwierigste Probleme ..., die die Gefahr starker wirtschaftlicher, politischer und sozialer Krisen, das Abdrängen von kommunistischen Zielen in sich bergen." [Ebenda.]
Ein Ausweg aus dieser überaus komplizierten Situation eröffnete sich nach Clara Zetkin nur, wenn entweder die industrielle und proletarische Basis der "Pyramide" quantitativ und qualitativ entscheidend gestärkt würde oder aber von außen, durch neue Räterepubliken "mit höchster wirtschaftlicher Entwicklung und höchster Kultur" [C. Zetkin: Fünf Jahre russische Revolution, S. 273.] Unterstützung käme.
"... noch nicht über den Berg ..."
Ein zweiter Aspekt, den Clara Zetkin ansprach, sollte sich als äußerst folgenschwer erweisen. Sie warnte davor, die Lösung der Machtfrage, so entscheidend sie auch sei, zu überschätzen, sie mit der sozialistischen Umwälzung selbst zu verwechseln, zu verkennen, daß sie nur an deren Aufgaben heranführe, nur Voraussetzungen zu ihrer Lösung schaffe. [Vgl. C. Zetkin: Die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten Arbeiterstaates. In: Für die Sowjetmacht, S. 424.] Mit Nachdruck erklärte sie auf dem IV. Kongreß der Komintern, daß "mit der Eroberung der politischen Macht und mit ihrer Behauptung das Proletariat noch nicht über den Berg gekommen ist, sondern erst dicht vor dem Berge steht. Es muß durch die Gesamtpolitik und namentlich durch die Wirtschaftspolitik" [C. Zetkin: Fünf Jahre russische Revolution, S. 290.] zum Sozialismus gelangen. Dabei gelte es, schwierige Probleme zu lösen, insbesondere das Verhältnis zwischen Stadt und Land, die Beziehungen zwischen dem Sowjetstaat und den wirtschaftlichen Organisationen der Werktätigen, den Gewerkschaften und Genossenschaften, "zwischen den produzierenden Arbeitern auf der einen Seite und den Angestellten, Beamten in den Betrieben auf der anderen, der Bürokratie in den zentralen und lokalen Sowjetämtern". [Ebenda.]
In diesem Zusammenhang entwickelte Clara Zetkin den wichtigen Gedanken, daß die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft als "eine wirklich umwälzende Sozialreform" vollzogen werden könne. Ihre Basis ist "der Staat der fortgeschrittensten Arbeiterschutzgesetzgebung und sozialen Fürsorge", ihre Träger, bewegenden Kräfte sind Gewerkschaften und Genossenschaften. Diese "haben in Verbindung mit den Sowjetorganen die Durchführung der Arbeitsgesetzgebung und sozialen Fürsorge zu überwachen und ihre weitere, bessere Ausgestaltung zu bewirken". [Ebenda, S. 289.] Später ergänzte und präzisierte sie diesen Gedanken durch die These, daß "nach der Machteroberung ... Reformen und Demokratie zu Bausteinen der sozialistischen Ordnung" [C. Zetkin: Die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten Arbeiterstaates, S. 424.] werden.
Um die sozialistische Perspektive
Im Zusammenhang mit der Erreichung der Ziele der Wiederherstellung der Volkswirtschaft in der UdSSR und der kapitalistischen Stabilisierung spitzten sich Mitte der zwanziger Jahre die Debatten über die Perspektiven des sozialistischen Aufbaus zu. Nikolai Bucharin hatte 1920 in seinem Buch "Ökonomik der Transformationsperiode" die Perspektive einer Stärkung und Vermehrung der Sowjetstaaten entworfen [Vgl. N. Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode. Mit Randbemerkungen von Lenin, Berlin 1990, S. 243–250.]. Danach hatte sich die revolutionäre Entwicklung verlangsamt. Auf dem IV. Weltkongreß der KI (November/Dezember 1922) ging von den vier Referenten zum Thema "Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution" (W.I. Lenin, Clara Zetkin, Béla Kun, Leo Trotzki) letzterer besonders auf die ökonomischen Probleme ein. Er konstatierte, daß hinter dem Privatkapital der NÖP das Weltkapital stehe. Das Staatsmonopol sei "der Schutz gegen den Kapitalismus, der den beginnenden Sozialismus aufkaufen will." [Protokoll des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale. Petrograd – Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 283.] Trotzki fügte hinzu, daß "wir nicht mit der Ewigkeit rechnen, sondern mit einer gewissen geschichtlichen Periode, bis die großen westlichen Reserven, die zur Avantgarde werden müssen, auf die Bühne kommen." [Ebenda, S. 287.] "Wenn die kapitalistische Welt aber noch mehrere Jahrzehnte existiert, nun ja, – dann würde dies für das sozialistische Rußland das Todesurteil bedeuten." [Ebenda, S. 289.]
Drei Jahre später war mit der kapitalistischen Stabilisierung die Situation noch komplizierter, die Frage der Perspektive noch drängender geworden. Die Mehrheit der KPR(B), repräsentiert durch den Generalsekretär des ZK, Josef Stalin, den sowjetischen Regierungschef, Alexej Rykow, den angesehensten Theoretiker der Partei und der Komintern, Nikolai Bucharin, den Gewerkschaftsvorsitzenden Michail Tomski und das Staatsoberhaupt, Michail Kalinin, trat unter diesen konkreten historischen Bedingungen für den fortschreitenden Aufbau des Sozialismus im Rahmen der UdSSR ein. Als wichtigste innen- und außenpolitische Bedingungen erachtete sie die Erhaltung und Festigung des Bündnisses mit den werktätigen Bauern und "normale" Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten. Eine Minderheit, repräsentiert durch die Politbüromitglieder Leo Trotzki, Grigorij Sinowjew (bis Herbst 1926 Vorsitzender der Komintern) und Lew Kamenew (bis Dezember 1925 Vorsitzender des Politbüros des ZK), verstand sich als linke Opposition. Sie stigmatisierte das Konzept der Mehrheit als "Ersetzung der internationalen revolutionären Perspektive" durch eine "nationalreformistische Perspektive". [Protokoll. Erweiterte Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 22. November-16. Dezember 1926, (Hamburg 1927), S. 685 (L. Kamenew).]
Sozialismus in einem Lande?
Am spektakulärsten prallten die divergierenden Positionen auf dem VII. Erweiterten EKKI-Plenum (November/Dezember 1926) zusammen. Leo Trotzki konstatierte eine "Abhängigkeit vom Weltmarkt, vom Kapitalismus, von seiner Technik und Wirtschaft...". Er warnte davor, "die Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft zu ignorieren" und erklärte: "In Wirklichkeit steht unser sozialistischer Staat immer – direkt oder indirekt – unter der vergleichenden Kontrolle des Weltmarktes. ...in letzter Instanz kontrolliert die Weltwirtschaft jeden ihrer Bestandteile, auch wenn der betreffende Bestandteil unter der proletarischen Diktatur steht..." [Ebenda, S. 588.] Eine klare Alternative zum Konzept der Mehrheit entwickelte er nicht. An anderer Stelle – in einem von ihm zustimmend zitierten Dokument der Opposition vom März 1927 – hieß es allerdings: "Das europäische Proletariat braucht für den Anlauf zur Machtergreifung viel weniger Zeit, als wir brauchen, um Europa und Amerika technisch einzuholen... die proletarische Revolution in Europa ... wird ... uns um die Welttechnik bereichern..." [L. Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? 1936, (Essen 1990), S. 297.] In seiner an den VI. Weltkongreß 1928 gerichteten Kritik des Programmentwurfs der KI schrieb Trotzki: "Wir müssen ihnen (den sowjetischen Werktätigen – H.K.) sagen, daß wir erst dann auf den Weg eines wirklichen sozialistischen Aufbaus kommen, wenn das Proletariat der fortgeschrittensten Länder die Macht erobert hat..." [L. Trotzki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a.M. 1981, S. 172.]
Lew Kamenew behauptete eine Begünstigung der Bauern, besonders der Kulaken, und eine Benachteiligung der Arbeiter [Vgl. Protokoll. Erweiterte Exekutive, S. 679/680.] und sprach von einer Orientierung auf "das Hineinwachsen der Kulaken in den Sozialismus." [Ebenda, S. 683.] Bemerkenswert ist seine These: "Der Sieg des Sozialismus bedeutet folglich die Verwandlung der Bauernschaft in Arbeiter einer einheitlichen, vergesellschafteten und planmäßig geleiteten Wirtschaft." [Ebenda, S. 685.] Dies ist wohl kaum anders als eine Absage an Lenins Genossenschaftsplan und seine Vorstellung vom Sozialismus als "ein System zivilisierter Genossenschaftler" [W.I. Lenin: Über das Genossenschaftswesen. In: Werke, Bd. 33, S. 457.] zu verstehen.
Bucharin entgegnete Trotzki, er stelle die Frage einseitig, undialektisch, denn es "wird unsere ökonomische Basis immer fester unter der Voraussetzung, daß wir unsere Verbindungen mit dem kapitalistischen Ausland auszunützen verstehen." [Protokoll. Erweiterte Exekutive, S. 595.] Alexej Rykow verwies darauf, daß Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol und Industrialisierung die Abhängigkeit vom kapitalistischen Ausland verringern. Das Konzept der Opposition (erhöhte Besteuerung der Bauern und Preiserhöhungen für Industrieerzeugnisse) würde das Bündnis mit der Bauernschaft sprengen. [Vgl. ebenda, S. 722, 725/726.] Palmiro Togliatti (Ercoli) stellte fest, daß die Opposition keine Perspektive der Entwicklung und des Erfolges der russischen Revolution hat. "Dieser Mangel an Vertrauen, den Ihr gegenüber der Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus habt, veranlaßt Euch fieberhaft nach den direkten Perspektiven zu suchen bei allen Fällen, die sich im Ausland ereignen (englischer Generalstreik usw.)." [Ebenda, S. 629.]
Alle Kräfte für den Aufbau des Sozialismus mobilisieren!
Clara Zetkin sprach gegen Ende der Debatte. Sie wandte sich dagegen, in den Werken der Klassiker nach Rezepten zu suchen. Man müsse bei ihnen vor allem die Arbeits- und Forschungsmethode lernen, um sie auf die höchst unterschiedlichen und sich ständig verändernden konkreten Umstände anzuwenden. Was den sozialistischen Aufbau angehe, so stehe nicht mehr "die abstrakte Frage: Ist der Sozialismus in einem Lande möglich, ohne daß ihm die Revolution in einigen hochentwickelten kapitalistischen Ländern in Gestalt von Sowjetstaaten Bundesgenossen an die Seite stellt?" Durch die Oktoberrevolution und die Behauptung der Sowjetmacht sei eine andere, "lebensstrotzende Frage ... auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt": Die "Aufrechterhaltung und Weiterführung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion ..." [C. Zetkin: Für die Sowjetmacht, S. 394.] Jetzt gehe es um das Wie und die Mobilisierung der Kräfte. Die kapitalistische Umwelt berge nicht nur Gefahren, sondern auch Möglichkeiten. Der Sowjetunion kämen zwei wichtige begünstigende Faktoren zugute: ihre gewaltige Ausdehnung und ihr Reichtum an natürlichen Ressourcen. Außerordentlich gefährlich – und auch den subjektiven Faktor lähmend – sei die Neigung der Opposition, sich "in Wunschvorstellungen über die proletarische Weltrevolution (zu) flüchten, die mit einem Schlag alle Probleme und Aufgaben lösen und alle Schwierigkeiten beseitigen wird." [Ebenda, S. 401.] Entschieden wandte sie sich gegen all jene – wie Ruth Fischer und die deutschen Ultralinken – "die sich mit Eifer auf die russische Frage stürzten, um dadurch zu verdecken, daß ihnen vollständig die politische Fähigkeit fehlt, die Probleme und Aufgaben der kommunistischen Partei im eigenen Lande auch nur richtig zu sehen und zu formulieren, geschweige denn zu lösen." [Ebenda, S. 392.]
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Clara Zetkin hat in allen politischen und theoretischen Debatten, in denen es um die Oktoberrevolution, ihre Erfahrungen und Lehren, die von ihr ausgehenden Wirkungen und Impulse ging, drei Grundpositionen vertreten.
Erstens betonte sie immer die Machtfrage als die Kernfrage revolutionärer Prozesse und progressiver Gesellschaftsgestaltung.
Zweitens kennzeichnete sie immer die Frage des Verhältnisses der Arbeiterklasse – der führenden Klasse im Kampf gegen das Kapital – zu den werktätigen Bauern und den Mittelschichten überhaupt (namentlich auch der Intelligenz), d.h. das Problem ihrer Hegemonie, als eine Lebensfrage jeder revolutionären Bewegung und jedes revolutionären Staates.
Drittens betrachtete sie – unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats – die volle Entfaltung der Sozialreform im weitesten Sinne (das heißt einschließlich der Umgestaltung des kulturellen Lebens usw.) und die volle Verwirklichung einer lebendigen sozialistischen Demokratie als wichtigste Formen und Methoden einer schrittweisen sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft in Richtung einer immer vollständigeren und umfassenderen Verwirklichung sozialistischer Verhältnisse.
Clara Zetkin lenkt immer wieder das Augenmerk auf die beiden entscheidenden, mit der Oktoberrevolution beginnenden Wirkungen der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft: zum einen die Entmachtung des Kapitals mit all ihren sozialen und kulturellen Folgen und sich eröffnenden Möglichkeiten; zum anderen das auf eine feste staatliche Basis gestellte Ringen um den Frieden.
Zweiter Teil eines Vortrages auf der Konferenz des Marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Linkspartei.PDS, der Geschichtskommission beim Parteivorstand der DKP und der Marx-Engels-Stiftung "Die Oktoberrevolution 1917 – eine weltgeschichtliche Zäsur" am 17. März 2007 in Berlin.
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2007-07: Vorkämpferin für Sozialismus, Frieden und Menschenwürde
2007-06: Clara Zetkin und die Oktoberrevolution