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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Chile tanzte

Dr. Hartmut König, Berlin

 

Als die Unidad Popular in Chile gesiegt hatte und die Hoffnung in den Straßen ihren Rhythmus fand, schrieb ich darüber ein Lied: Chile tanzt. Allende zog ein in die Arbeiterstuben. Allende hat sich in Bauernhütten verschanzt. Neben Gewehren atmet das Volk und tanzt. Nicht dass die Gefährdungen dieser jungen Volksfront außer Sichtweite geraten waren. Aber meine Freude war so übermächtig, wie im April 1974 wieder, als in Portugal die Nelkenrevolution siegte, oder im Mai 1975, als Saigon von den amerikanischen Interventen und ihren Vasallen befreit war. Nur hatten mich da die tragischen Rückschläge in Chile bereits daran erinnert, dass die Geschichte dem bejubelten Sieg manchmal eine bittere Niederlage folgen lässt.

Dabei hatten wir zu den X. Weltfestspielen in Berlin in die Lieder der »Intis« und »Quilas« mit solcher Leidenschaft eingestimmt und den Versen Pablo Nerudas so sehr jene neue Erde gewünscht, auf der sie wie Samenkörner üppig gedeihen könnten. Wochen später stürzten die verfluchten Generäle Chile in ein Blutbad. Die Damen der Oberschicht hatten sich von ihren Mägden die Kochtöpfe aushändigen lassen und den Takt der Gewehrläufe vorgegeben. Die CIA führte ihre willigen Satrapen auf den Weg zur antisozialistischen Umkehr.

Jeder von uns kennt die Sequenzen des Sturzes: Die Moneda brennt, Allende kann vor seinem Tod den Traum von den breiten Alleen in den Äther rufen, auf denen das befreite Volk einst in eine bessere Zukunft schreiten wird. Dann verstummt auch der letzte Sender der UP. Sie erschlagen den Sänger Víctor Jara, und wie ihn so viele Künstler, Arbeiter, Angestellte, Politiker, Intellektuelle, Schüler und Studenten. Sie foltern und quälen. Pinochet erklärt seinen Coup als eine gute Rasur. Manchen, wie Gladys Marín, der Generalsekretärin des Kommunistischen Jugendverbandes, gelingt die Flucht in eine Botschaft oder außer Landes. Clodomiro Almeyda, Luis Corvalán und andere Aktivisten der Unidad Popular finden sich in Konzentrationslagern wieder. Es ist der Moment für einen gewaltigen Aufschrei der anständigen Welt. Die DDR, deren Weg von Fehlern und Irrtümern begleitet ist, zeichnet sich hier aus. Ihre Solidarität gründet auf der wahrhaftigen Anteilnahme einer großen Mehrheit des Volkes. Keineswegs nur aus familiären Gründen ist Erich Honecker ein wichtiger Impulsgeber und wird es in fairen Erinnerungen der Deutschen und Chilenen bleiben.

An jenem 11. September 1973, an dem die putschenden Militärs die frei gewählte Regierung Allendes stürzen, arbeite ich seit kurzer Zeit als Chefredakteur der »Welt Studenten Nachrichten« beim Internationalen Studentenbund (ISB) in Prag. Als die Nachrichten vom Angriff auf den Präsidentenpalast Moneda verbreitet werden, trifft sich das ISB-Sekretariat mit dem chilenischen Repräsentanten, Alejandro Yanez. Welche Informationen sickern beim damaligen Stand der Informationstechnik außer Landes? Was kann man von Prag aus tun? Wir bilden eine Chile-Kommission, die internationale Studentenaktionen in aller Welt koordinieren soll. Ich werde deren Mitglied und schlage zwei Projekte vor. Eine Víctor-Jara-Gedenkveranstaltung in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Sie findet im Februar 1974 als Teil des Festivals des politischen Liedes mit so vielen Teilnehmern statt, dass selbst alle Aufgänge des Theatersaals belegt sind und es des Einspruchs von Werner Lamberz bedarf, damit die Feuerwehr das Konzert beginnen lässt. Joan, die Witwe Víctor Jaras, ist gekommen und Carlos Altamirano, der Generalsekretär der Sozialistischen Partei Chiles. Joan steht mit ein paar roten Nelken vor all denen, die in diesem Moment mit ihr trauern. Die Tänzerin aus England hatte sich vor Jahren während eines Gastspiels in Victor verliebt. Erst durch ihre späteren Veröffentlichungen werden wir wissen, in welchem Zustand sie ihren toten Mann das letzte Mal sah und wie einsam sie Victors Sarg folgen musste, der heimlich auf einem Karren zum Friedhof gezogen wurde. Die Medien des Mainstreams haben dann seine Lieder in den Archiven begraben. Lateinamerikanische Gruppen führen sie aber im Repertoire. Gerade heute, wo neue politische Konstellationen auf ihrem Kontinent Hoffnung machen, sind sie nützlich. Auch mir kommen die Zeilen in Erinnerung: Bauer, steh auf…Über dein Leben verfüge endlich selber. Und das Herz brennt.

Der zweite Vorschlag: ein internationaler »Pablo-Neruda-Wettbewerb«, zu dem Arbeiten verschiedener Genres eingereicht werden können. Im Mai 1974 werden in Budapest von Hortensia Bussi de Allende, der Witwe des aus dem Amt geputschten Präsidenten, die Preise übergeben. In ein Buch über den Verrat der Generäle schreibt sie mir einen Dank. Für eine Idee aus sicherer Deckung, während Widerstand in Santiago den Kopf kostet, wirkt er unverdient, und doch berührt er mich sehr.

Am 14. September 1976 organisiert die FDJ im schönen, also alten Friedrichstadtpalast eine Veranstaltung zum 60. Geburtstag Luis Corvaláns, zu der auch Gladys Marín gekommen ist. Ein Fest kann es nicht werden, denn der Generalsekretär der chilenischen KP wird in Tres Álamos gefangen gehalten. Zwei Millionen Kartengrüße sind von Jugendlichen der DDR an den Kommunisten, den seine Freunde »Lucho« nennen, abgeschickt worden. Welche Wirkung solche Aktionen haben können, schilderten schon Mikis Theodorakis und Angela Davis nach ihrer Befreiung. Aber dann gibt es doch noch ein Fest. Am Tag, als wir von Luis Corvaláns Freilassung erfahren. Es ist der 17. Dezember 1976. Ich bin zu der Zeit im FDJ-Zentralrat für internationale Beziehungen zuständig und wir haben eine Sitzung, als aus dem Erdgeschoss ein Jubelschrei der Kraftfahrer durchs Treppenhaus schallt. Die haben es im Radio gehört: Corvalán ist frei! Nun gibt es keine Sitzung mehr, sondern wir organisieren eine spontane Fete mit Vertretern der Unidad Popular in Berlin. Gut, dass die Gitarre ein paar spanische und lateinamerikanische Songs spielen kann. Wir sitzen lange beisammen, trinken und singen. Ein schöner, unvergesslicher Tag!

Aber es sitzt eben auch die Trauer am Tisch. Trauer über die Erschlagenen. Über das Leid der Gefolterten und Geflohenen, die dem Land eine Idee gegeben hatten, die man nicht erschlagen kann. Die UP war 1970 mit einem heißblütigen Programm in den Wahlkampf gezogen:

  • Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens. Das hieß Beteiligung der Werktätigen und des ganzen Volkes durch ihre Organisationen an der Beschlussfassung und Kontrolle.
  • Nationalisierung der Bodenschätze, Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien. Das bedeutete die Brechung der Macht des in- und ausländischen Monopolkapitals, Überführung der großen Kupfer-, Salpeter-, Jod-, Eisen- und Steinkohleminen, der Produktion und Verteilung von Elektroenergie, des Transport- und Nachrichtenwesens, der Erdöl-, Zement- und Zelluloseindustrie, des Hüttenwesens, des Außenhandels, der Rüstungsmonopole, aber auch des Finanzsystems, insbesondere der Privatbanken und Versicherungsgesellschaften, in staatliches Eigentum.
  • Eine tiefgreifende Bodenreform. Das hieß Enteignung der Güter jenseits festzulegender Maximalgrößen, bessere Nutzung von verlassenem Land. Vorzugsweise Organisation der enteigneten Ländereien in genossenschaftlichen Eigentumsformen.
  • Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit. Alle Chilenen im arbeitsfähigen Alter sollten über einen Arbeitsplatz mit angemessener Entlohnung verfügen. Dafür galt es, die Ressourcen des Landes zu nutzen und die Technik zu modernisieren. Ziel des wirtschaftlichen Aufschwungs sollte es sein, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und die einem würdigen und menschlichen Leben entsprechenden Bedürfnisse und Wünsche der arbeitenden Bevölkerung zu befriedigen.
  • Eine soziale Wohnungspolitik mit dem Ziel, dass jede Familie eine eigene Wohnung hat. Die monatlichen Aufwendungen dafür sollen in der Regel 10 Prozent des Familieneinkommens nicht übersteigen.
  • Weitere soziale Verbesserungen wie kostenlose Einschreibung, Bücher und Lernmaterialien für alle Grundschüler, täglich ein halber Liter Milch für alle Kinder, gerechte Renten, kostenlose ärztliche Betreuung in den Krankenhäusern, rasche Erweiterung des Systems der Kinderkrippen und -gärten. (1)

All das, von sechs Parteien getragen, lag wie ein aufgeschlagenes Buch vor der Wählerschaft, und jeder las dieses Programm durch das Brennglas seines Standes und seiner sozialen Erfahrungen. Wo zwei Prozent der chilenische Familien über annähernd die Hälfte des Geldeinkommens verfügten und 4,2 Prozent von Chiles Bevölkerung, die Latifundistas, 80 Prozent des Acker- und Weidelandes besaßen, war die Zeit reif, dass Salvador Allende die höchste Stimmenzahl erhielt. Und zugleich: Wo sich 46,2 Prozent des Aktienkapitals der 30 größten Industrieunternehmen im Besitz ausländischer Konzerne befanden und der Bergbau, der 85 Prozent aller Exporterlöse Chiles erbrachte, von US-Konzernen dominiert wurde, wo 25 Prozent der Weltkupferreserven lockten, da war dieses Programm einer Volksregierung nicht nur wegen kollabierender Ausbeutungschancen, sondern wegen des politischen Ansteckungspotentials ein ungeheurer Dammbruch. Die Reaktion musste reagieren und zögerte nicht. (2)

Ist es schon nicht gelungen, die demokratische Wahl Allendes zu verhindern, so finden sich in der Folgezeit unzählige Beweise für die verräterische Allianz der einheimischen Oligarchie mit der CIA und dem Pentagon, die ihrerseits mit den größten involvierten US-Konzernen kooperieren. Der CIA-Plan »Centaur« setzt auf Chaos und Destabilisierung. Er endet in Mord, Verfassungsbruch, herbeigeputschter Diktatur und bestätigt die bis in die Gegenwart fortgeschriebene Erkenntnis, dass der staatliche Beitrag der USA zu Frieden und Gerechtigkeit in der Welt mit deren Teilnahme an der Anti-Hitler-Koalition endete.

Der chilenische Traum - Schnee von gestern in einer veränderten Welt, die ihr zu sozialem Wettbewerb zwingendes Gleichwicht verloren hat? Und wie allein stehst du als Rufer dieses Traums da, wo doch der außer Rand, Band und Kontrolle geratene Marktradikalismus mit Hohngelächter auf solche Elogen pfeift? Und der nicht wenige Claqueure findet, wenn er den Visionen der Unidad Popular genüsslich das Scheitern der sozialistischen Gemeinschaft als glücklich verpasstes Unheil serviert? Ich sage mir: Das Argument wabert nicht ohne deine Schuld unter den Demagogen. Aber Abwege kreuzigen nicht das Ziel. Umso sorgfältiger musst du die Spreu vom Weizen trennen. Schau dich doch um: Die Neugier auf ein anderes Leben wächst mit der Einsicht, dass der Kannibalismus dieser profitbesoffenen Gesellschaft immer mehr Menschen eine lebenswerte Perspektive raubt. Da ist wieder Raum für Träume. Wo Che mehr ist als Dacia. Und das Ho-Chi-Minh-T-Shirt mehr als ein trendiger Schweißfänger. Denn man googelt schon nach den Ideen dahinter. Und Allende ist kein vergessener Held. Man wird presente rufen, wenn die Zeit für sein Programm gekommen ist. Und tanzen, will ich hoffen.

 

»Es wächst das Brot uns nicht von allein. / Und auf den Feldern reift uns kein Krug voll Wein. / Das Wasser fließt nicht von selbst bergauf. / Und auch die Kriege hören nicht von selber auf.« So beginnt das »Friedenslied« - vielen Radiohörern aus den 60er Jahren noch in guter Erinnerung -, dessen Text und Musik vom Mitglied der DDR-Formation »Team 4« und des »Oktoberklub« Hartmut König stammen. Unser Autor, geboren 1947, übernahm später leitende Funktionen auf dem Gebiet der internationalen Arbeit und der Kultur in der FDJ und der SED (Mitglied des Zentralkomitees 1986 bis 1989), er war Mitglied des Weltfriedensrates und Vizepräsident des Friedensrates der DDR.

 

Anmerkungen:

(1) Vgl. Auszüge aus dem Programm der Unidad Popular, in »Chile. Ein Schwarzbuch«, Köln, 1974, S. 14 ff.

(2) Vgl. ebenda, S. 20, S. 43.