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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Carl Schmitt, Kronjurist der Rechten (Auszug)

Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer, Berlin

Das Verhältnis von Staatsgewalt und Recht ist ein uraltes Thema, das immer wieder neu aufgeworfen und diskutiert wird. Nachdem 1990 viele davon ausgingen, daß nach dem Zusammenbruch des "Gewaltregines" im Osten eine Zeit des dauerhaften Friedens kommen würde, führten 1999 die USA den ersten NATO-Aggressionskrieg. Seit dem mörderischen Anschlag auf das World-Trade-Centre 2001 begann der "Krieg gegen den Terror", dessen Ende nicht abzusehen ist und der das alte Völkerrecht zu sprengen droht, ohne daß ein neues Völkerrecht in Sicht ist. Deutschland wird "am Hindukusch verteidigt", in einem Großfernsehfilm nach dem anderen werden die Kriege des dritten Reiches auf die deutschen Opfer fremder Gewalt fokussiert, die Ursache dieser Kriege verschwindet im Nebel der Pseudoerinnerung und von Liebesdramen. [...]

Am 30. Januar 1933 wurde, gestützt auf Kräfte des Kapitals, die eine Wiederaufnahme des Kampfes um die Weltherrschaft für möglich hielten, Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler berufen. Der Weg zur Entfesselung der Staatsgewalt nach innen und dann nach außen war frei.

Die "Politische Theologie" des Carl Schmitt

Die "neue Ordnung" wurde auf zwei Wegen durchgesetzt, durch Gesetzgebung und durch eine Atmosphäre des Terrors. Dabei spielten eine besondere Rolle die staatlich sanktionierten Morde am 30. Juni 1934, auf die ich noch später eingehen werde. Der entscheidende gesetzgeberische Schritt war nach dem Reichstagsbrand die Annahme des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich am 24. März 1933. Die Kommunisten waren bereits verhaftet oder auf der Flucht, mit Ausnahme der Sozialdemokraten stimmten alle anderen Parteien in einer Atmosphäre des Druckes und Terrors verbunden mit nationaler Begeisterung dem Gesetz zu. Es sah vor, daß Reichsgesetze auch durch die Reichsregierung beschlossen werden können. Sie können auch von der Verfassung einschließlich der Grundrechte abweichen. Die Juristen wurden schrittweise zum Instrument des Terrors. Nach 10monatiger Verhandlung urteilten US-amerikanische Richter in einem Folgeprozeß zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß grundsätzlich über die Rolle der NS-Juristen. [J. Perels, Der Nürnberger Juristenprozeß im Kontext der Nachkriegsgeschichte, Kritische Justiz. Heft 1/1998, Der allgemeine Teil wurde damals durch das zentrale Justizamt für die britische Zone veröffentlicht. Vgl. dazu weiter K. Unger, Hitlers Juristen, in: junge Welt vom 5. Dezember. 2002.] "Ab 1933 entwickelten sich nebeneinander zwei Methoden, durch die das Justizministerium und die Gerichte für terroristische Funktionen zur Unterstützung des Naziregimes ausgerüstet wurden", Verschärfung des Strafrechts und Erhöhung des Spielraums der Gerichte (S. 47).

Besondere Verschärfungen wurden gegen Polen und Juden festgelegt, die in einer 13. VO zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943 ihre äußerste Zuspitzung erreichen: "Strafbare Handlungen von Juden werden durch die Polizei geahndet" (S. 54). Das Ganze wird begleitet durch die Einrichtung von Sondergerichten bis zum Volksgerichtshof und von Standgerichten. Dieses US-amerikanische Urteil wurde allerdings von der BRD-Rechtsprechung nicht berücksichtigt, 1968 wurde im Rehseprozeß ein Beisitzer im Volksgerichtshof freigesprochen. Nahezu alle Staatsdiener des Dritten Reiches hatten dann nach dem Gesetz zu Art. 131 GG das Recht, ihre Wiedereinstellung zu verlangen. Es handelte sich um mehr als eine halbe Millionen Menschen (Unger).

Bereits am 3. Februar 1933 hatte Hitler in einer Begegnung mit den Spitzen der Reichswehr und der Reichsmarine von der "Eroberung neuen Lebensraums im Osten" gesprochen, der rücksichtslos germanisiert werden solle. Hitler hatte unablässig – mit Ausnahme einer kurzen Periode nach den deutsch-sowjetischen Abkommen 1939 – die Gefahr eines russisch-bolschewistischen Angriffs an die Wand gemalt, plante aber selbst im Sinne seiner Ausführungen in "Mein Kampf" den großen Angriff im Osten: Wenn "wir ... heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken." An die Stelle des germanischen Kerns sei dort das Judentum getreten. "Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird." Das Schwert müsse dem deutschen Pflug den Boden geben. [K. Pätzold/M. Weißbecker, Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Leipzig 1995, S. 234 f., A. Hitler,. Mein Kampf, München 1941, S. 742 f.]

In Vorbereitung des Kampfes um die Weltherrschaft wurde im März 1936 das entmilitarisierte Rheinland besetzt und damit eine Fessel des Versailler Vertrages zerrissen, Deutschland nahm seit dem 14. Oktober 1933 an den Abrüstungsverhandlungen nicht mehr teil, trat fünf Tage später aus dem Völkerbund aus, führte 18 Monate später unter Verletzung des Versailler Vertrages die allgemeine Wehrpflicht ein und stellte offiziell eine Luftwaffe auf, besetzte die Tschechoslowakei, alles vom Westen toleriert, in der Hoffnung, der Krieg würde sich gegen die Sowjetunion richten. Es folgte der Angriff auf Polen und dann am 22. Juni 1941 der Einmarsch in die Sowjetunion. Die blitzkriegverwöhnten deutschen Armeen aber scheiterten hier. Auf das Schuldkonto des deutschen Imperialismus kamen über 40 Millionen Menschen, davon 20 Millionen Bürger der Sowjetunion, 6 Millionen Juden wurden ermordet. Es war der verheerendste Krieg der Menschheitsgeschichte. [Deutschland im zweiten Weltkrieg, Bd. 6, Berlin 1985, Leitung Wolfgang Schumann und Olaf Groehler, S. 781.]

Als Kronjurist des Nazireiches trat zeitweilig Carl Schmitt auf. Er wurde bekannt durch Arbeiten über die Diktatur, vor allem über die Diktatur des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 der Weimarer Verfassung. 1926 hat er die Diktatur lexikalisch definiert als "Ausübung einer von rechtl. Schranken befreiten staatl. Gewalt zum Zweck der Überwindung eines abnormen Zustands, insbes. Krieg u. Aufruhr". [C. Schmitt, Diktatur, in: Staat, Großraum, Nomos, Berlin: Duncker & Humblot 1995, S. 13.] Am deutlichsten hatte er seine Position zum Begriff des Politischen und zur Rolle der Unterscheidung von Freund und Feind in seiner Arbeit "der Begriff des Politischen" 1927 herausgearbeitet. [C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles l923–1939, Marburg 1940.] Zum Staat gehöre das "jus belli d.h. die reale Möglichkeit im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen. … Die Entwicklung der militärischen Technik scheint dahin zu führen, daß vielleicht nur noch wenige Völker übrig bleiben, denen ihre industrielle Macht es erlaubt, einen aussichtsreichen Krieg zu führen, während kleinere Völker freiwillig oder notgedrungen auf das jus belli verzichten". "Erklärt ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, so stellt es sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde." (S. 72)

Das war 1927, Deutschland hatte nur ein 100.000-Mann-Heer, der Versailler Vertrag galt noch, nur Zukunftsmusik, allerdings die einer Kriegstrompete.

Innenpolitisch war Carl Schmitt ein entschiedener Fürsprecher der Diktatur, und zwar damals der Diktatur des Reichspräsidenten, also Hindenburgs. Seine "Politische Theologie" von 1922 leitete er mit den Worten ein: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" [C. Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Auflage München und Leipzig:Duncker & Humblot 1934, S. 11.]. Der essayhafte Stil mag damals viele beeindruckt haben. Hinter ihm aber verbarg sich eine politische Absicht, die sich inhaltlich von den Absichten Hitlers nicht unterschied und Schmitt nach dem Machtantritt der deutschen Faschisten zu deren Kronjuristen zu machen versprach. Schmitt trat sofort in die NSDAP ein. Ein Jahr später rechtfertigte er in der von ihm herausgegebenen Deutschen Juristenzeitung unter der zynischen Überschrift "Der Führer schützt das Recht" die 87 Morde am 30. Juni 1934 und den folgenden Tagen vor allem an der SA-Führung und weiteren Mißliebigen, darunter auch General von Schleicher und dessen Frau.

Schmitt war auf dem besten Wege, Kronjurist Hitlers zu werden. Nach Auseinandersetzungen im Wettstreit um die Rolle des Kronjuristen ging Schmitt vom Staatsrecht zum Völkerrecht über. Er wollte jetzt auf diesem Gebiet für die voraussehbare Außenpolitik Hitlers die theoretischen Grundlagen schaffen und sich so wieder als Kronjurist bewähren. Auf einer Tagung hielt er ein Referat zum Thema "Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht" [Erweiterte Fassung dieses Referats in C. Schmitt, Staat, Großraum, Nomos, Berlin 1995.]. "Eine Großraumordnung gehört zum Begriff des Reiches, der hier als eine spezifisch völkerrechtliche Größe in die völkerrechtswissenschaftliche Erörterung eingeführt werden soll. Reiche in diesem Sinne sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen." (S. 295)

Schmitt beendet dann die erste Fassung mit den Worten, daß heute ein machtvolles Deutsches Reich entstanden sei, "mit Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein". Und damit jeder weiß, wem diese Theorie angeboten wird, schließt er dann: "Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große völkerrechtliche Zukunft verliehen" (S. 305f). [...]

Grenzen des bürgerlichen "Rechtsstaates"

Der Begriff des Rechtsstaates hat in der Zeit des Kalten Krieges als "Kampfbegriff" gewirkt. Er diente und dient einer mystischen Überhöhung der politischen Ordnung der Bundesrepublik und hat in der Abwehr dieses Vorgehens zur Unterbewertung des Rechts in der Bevölkerung beigetragen. Hermann Klenner wandte sich gegen den Rechtsstaat als Alternative zum Machtstaat, weil auch er ein Machtstaat sei. Aber im Rechtsstaat, "in dem die Legislative an die Staatsverfassung samt Menschenrechten, die Exekutive wie die Judikative an die Gesetze gebunden sind", bestünden "die besten Chancen für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, die geringsten Chancen für Absolutismen und Diktaturen". [H. Klenner, Rechtsstaat versus Machtstaat, aufklärungshistorisch betrachtet, Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 29 März 1997, S. 38.] Nur durch eine solche "formale" Sicht wird auch deutlich, daß der Rechtsstaat nicht alles ist. Für sich genommen garantiert er weder die Befreiung von der Geißel der Arbeitslosigkeit noch von der des Hungers, der Bürokratie, selbst des Krieges. Rechtsstaatlichkeit ist ein Faktor gesellschaftlichen Fortschritts. Aber sie garantiert ihn nicht. Auch eine unabhängige Justiz ist Bestandteil der Gesellschaft, ihres politischen Systems, wird von ihren politischen Kämpfen beeinflußt. Sie schließt, wie die Erfahrungen der Bundesrepublik zeigen, Berufsverbote, selbst Aggressionskriege nicht aus. Auf dem Boden des Rechtsstaates können Kämpfe für den Fortschritt geführt, aber auch Angriffe gegen ihn vorgetragen werden.

Gegenwärtig vollzieht sich eine Renaissance Schmittschen Denkens. Am 11. Juli dieses Jahres erschien in der Berliner Zeitung eine Rezension des Buches von Christian Linder "Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land", Berlin 2008: "Lindens so lehrreiches wie in seiner Stimmenvielfalt glänzend arrangiertes Buch muß Carl Schmitt nicht entdämonisieren. Der Biograf bricht keine Stäbe, er spürt Schmitts Denkwegen nach, markiert Abzweige und Verirrungen und weitet den Blick für geistige Höhen und politische Abgründe der deutschen Geschichte. Ob Freund oder Feind, an Carl Schmitt kommt kein politisch Denkender vorbei." Im Tagesspiegel sekundiert am 15. September 2008 Nicolas Stockhammer: "Carl Schmitt ist eine konservative Urgewalt … Der verwegene Plettenberger bleibt als Mensch ein kurioses Faszinosum. Seine Biographie gibt Rätsel auf … Die Zeit scheint reif, seine zu Unrecht verteufelten Schriften wertfrei und systematisch zu lesen". Noch wesentlich gewichtiger ist die geistige Nachfolge des Schmittianers Otto Diepenheuer. Schon der Titel seines Buches "Selbstbehauptung des Rechtsstaates" markiert eine Position. [O. Diepenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Paderborn, München, Wien, Zürich, 2007.] Seine Ausgangsthese lautet: "Das Grundgesetz ist für den terroristischen Ernstfall nicht gerüstet" (S. 22). Der eigentliche Gegner aber ist das Bundesverfassungsgericht. Es "verschärft in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz die rechtliche Asymmetrie im Kampf gegen den Terror" (S. 25). Der Staat, "darf seiner grundrechtlichen Schutzpflicht für das Leben seiner Bürger nicht mehr nachkommen und liefert – im Namen der Menschenwürde – Leben und Menschenwürde seiner Bürger dem Menschen verachtenden Terrorismus aus." (S. 27) Er stellte rhetorisch die Frage: Darf der Staat "um seiner Existenz und Handlungsfähigkeit willen in letzter Konsequenz auch unschuldige Menschen opfern? … gilt der Satz: Not kennt kein Gebot? Gehören Folter, Internierung ohne Rechtsschutz, die Reduzierung des Menschen auf sein nacktes Leben zu den unangenehmen, aber unvermeidlichen Begleiterscheinungen des aufgezwungenen Kampfes? (S. 32) Es sei rechtsethisch verwerflich, sich selbst die rechtsstaatlichen Hände in menschenwürdegetränkter Unschuld zu waschen, während andere (also die USA – U-J. H.) die Drecksarbeit der Selbstbehauptung rechtstaatswidrig erledigen sollen, auf daß man sich über Guantanamo, CIA-Gefängnisse, Folter und Flugzeugabschüsse echauffieren kann." (S. 33) Der Ernstfall bezeichne juristisch die Ausnahmelage (S. 37), wobei ein Bezug auf Carl Schmitt nicht fehlen darf, dem auch mit dem Zitat, "souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" (S. 40) weiter die Reverenz erwiesen wird.

Einen wesentlichen Fortschritt bildete die Ächtung der Gewalt, die Aufhebung des "jus ad bellum" der Staaten nach dem Sieg der Antihitlerkoalition. Gemäß Artikel 2 Punkt 4 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 haben alle Mitglieder, "jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt" zu unterlassen. Von dem Gewaltverbot gibt es gemäß Kap. VII der Charta nur zwei Ausnahmen. Erstens hat jeder Staat bei einem bewaffneten Angriff auf ein Mitglied der Vereinten Nationen das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Entsprechende Maßnahmen sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen (Art. 54). Zweitens kann der Sicherheitsrat – und nur er – feststellen, ob eine Bedrohung, ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt und entsprechende Maßnahmen bis hin zu militärischen Sanktionen ergreifen (Art. 39ff).

Die neue Weltordnung ist der Versuch der USA, ihre ökonomische Vorherrschaft dauerhaft politisch-militärisch abzusichern, eine pax americana nach dem Vorbild des alten Rom zu begründen, dessen Beispiel mehr und mehr in die Diskussion kommt. Das ist natürlich nicht derselbe Imperialismus wie vor 1914. Es ist eine neuartige Kombination von Konzernmacht (1999 waren von den 200 größten Konzernen der Welt 76 in den USA beheimatet) [W. Wolf, Fusionsfieber, Köln 2000 S. 50.], Finanzmacht und der Macht eines einzigen Nationalstaats. Am 20. März 2003 begann der nun schon dritte völkerrechtswidrige Krieg der USA (und Großbritanniens), diesmal gegen den Irak, in unvergleichlicher Weise monatelang auf offener Bühne vorbereitet, die eigene Macht und die Ohnmacht des Weltsicherheitsrates und des "alten Europa" (Donald Rumsfeld am 22. Januar 2003) unverhohlen zur Schau stellend. Das VII. Kapitel der UN-Charta war vor aller Welt zur Makulatur erklärt worden.

Aus der Anerkennung der Vormachtstellung der USA wird zunehmend nicht nur dort die Negation des Völkerrechts abgeleitet. So schreibt Sibylle Tönnies: Wenn die Menschheit das Glück beim Schopfe packe, könne "das Völkerrecht gerettet werden – und zwar durch seine Zerstörung", durch die Aufhebung der Souveränitätsgrenzen. Die neue Gewalt hätte allerdings nicht militärischen, sondern polizeilichen Charakter, "und dadurch würde das Völkerrecht andererseits gerettet und vollendet werden". Das Angriffskriegsverbot würde endlich exekutiv durchgesetzt. [S. Tönnies, Ist das Völkerrecht noch zu retten? Blätter für deutsche und internationale Politik, 2003, H. 7 S. 781.] 2005 stellt sie eine Störung des Prozesses der Weltzentralisierung in Frage, der das Welt-Gewaltmonopol – entgegen den Wünschen der Menschheitsuniversalisten – nicht um die Vereinten Nationen, sondern um die USA herum kristallisiert. [S. Tönnies, Souveränität und Angriffskriegsverbot, Aus Politik und Zeitgeschichte, a.a.O. 22 2005, S. 44, 46.] Die eigentliche Gefahr dieser Argumentation ist, daß damit eine Legitimation aller Kriege von "Demokratien" gegen "Diktaturen" begründet wird.

Jedenfalls bei den Völkerrechtlern dominiert aber im alten Europa in Bezug auf den Irakkrieg – beim Angriff auf Jugoslawien war es noch anders – immer noch die traditionelle Position der Verteidigung der rechtlichen Gleichheit der Staaten, der Ablehnung der "humanitären Intervention", wobei so unterschiedliche Autoren wie Norman Paech und Dieter Blumenwitz genannt werden können. [N. Paech, Interventionsimperialismus, Blätter a.a.O. 2003 H. 10 und – sehr ausführlich – D. Blumenwitz, Die völkerrechtlichen Aspekte des Irak-Konflikts, in: Zeitschrift für Politik, 2003 H. 3 S. 300.]

Der Schutz der territorialen Unversehrtheit und der politischen Unabhängigkeit erfordert von den früheren Kolonien oder Halbkolonien eine kluge Politik, die vor allem das eigene Volk überzeugt. Das gilt etwa für die Blockade Kubas, die Auseinandersetzung mit kolumbianischem Eindringen in Ecuador, die Separierungspläne der reichen Provinzen in Bolivien, wie für Terroranschläge in Tibet oder die Nichtachtung der Vereinbarungen über die Entwicklung Palästinas. Wenn aber die Bereitschaft zur Gewaltanwendung wächst, in Hoffnung auf internationale, vor allem US-amerikanische Unterstützung, ist die Bereitschaft zur Gegengewalt unvermeidlich. Es bedarf also sowohl der Verteidigung des geltenden Rechts gegen seine Verletzung, eines Kampfes, der auch juristisch zu führen ist, als auch des Bewußtseins, daß nur Macht "Machtmißbrauch wirklich zu verhindern" vermag. [U.-J. Heuer, Das Ende der DDR und der Epochenumbruch, Marxistische Blätter 2004 H. 5 S. 18f., S. Prokop, Glanz und Elend des Jahres 1989/90, in: Ansichten zur Geschichte der DDR, Hrsg. L. Elm, D. Keller und R. Mocek, Bd. IX,X Bonn Berlin 1998. S. 164.] Auch der Weltsicherheitsrat steht nicht über den Interessen. Bei unterschiedlichen Grundinteressen kann man letztlich nicht juristisch argumentieren, muß man die Gefahren aufdecken, die von bestimmten Interessen ausgehen, und gegen sie kämpfen.

Aus einem Vortrag bei der Leibniz-Sozietät in Berlin am 9. Oktober 2008