Bundesamt für Verfassungsschutz wegen vier Jahrzehnte langen Rechtsbruchs verurteilt
Internationale Liga für Menschenrechte
Am 3. Februar 2011 hat das Verwaltungsgericht Köln sein Urteil in dem Verfahren Dr. Gössner ./. Bundesrepublik Deutschland verkündet, in dem es um die fast 40jährige geheimdienstliche Beobachtung des Bürgerrechtlers Rolf Gössner geht. Das Urteil lautet:
"Es wird festgestellt, daß die Beobachtung des Klägers bis zum 13. November 2008 einschließlich der während dieses Zeitraumes erfolgten Erhebung und Speicherung von Daten zu seiner Person rechtswidrig gewesen ist. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens."
Hintergrund-Informationen zur Überwachungsgeschichte und zum Verfahrensverlauf
I. Zur Last gelegt wurden dem Kläger Rolf Gössner berufliche und ehrenamtliche Kontakte zu angeblich "linksextremistischen" und "linksextremistisch beeinflußten" Gruppen und Veranstaltern – wie etwa DKP, Rote Hilfe oder die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), aber auch zu Presseorganen wie Demokratie und Recht, Blätter für deutsche und internationale Politik, Geheim oder Neues Deutschland, in denen er – neben vielen anderen Medien – veröffentlichte, denen er Interviews gab oder in denen über seine Aktivitäten berichtet wurde. Mit seinen Kontakten, publizistischen Beiträgen, Vorträgen und Diskussionen habe er diese Gruppen und Organe "nachhaltig unterstützt", so der Vorwurf des BfV an den parteilosen Bürgerrechtler.
"Hier wurde aus vollkommen legalen und legitimen Berufskontakten eine verfassungswidrige 'Kontaktschuld’ Gössners konstruiert", so die Internationale Liga für Menschenrechte, "die schließlich als waghalsige Begründung für seine jahrzehntelange geheimdienstliche Beobachtung herhalten muß. Dies ist ein ungeheuerlicher Vorgang.
Das BfV begnügte sich nicht allein mit den Kontakten Gössners, sondern machte sich inzwischen auch an die Interpretation seiner öffentlichen Äußerungen, maßt sich damit eine Deutungshoheit über seine Texte an und übt sie in geradezu inquisitorischer Weise aus. Diese ideologisch gesättigten Textinterpretationen "führen uns in die tiefsten 1960er und 70er Jahre des Kalten Krieges" (so Anwalt Udo Kauß): Da wird schon zum "Verfassungsfeind", wer das KPD-Verbotsurteil kritisiert oder den Begriff "Berufsverbote" verwendet, die es in der Bundesrepublik angeblich nie gegeben habe. Da diffamiert die Bundesrepublik und ihre Staatsorgane, wer – wie der Geheimdienstkritiker Gössner – den Verfassungsschutz in Frage stellt und wird mit Verfassungsschutzbeobachtung nicht unter vier Jahrzehnten bestraft.
II. Nachdem Rolf Gössner bereits im Frühjahr 2006 gegen die Bundesrepublik Deutschland Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln wegen dieser ununterbrochenen und rekordverdächtigen Geheimdienst-Beobachtung eingereicht hatte, kam es Ende 2008 zur ersten mündlichen Verhandlung. Wenige Tage davor teilte das BfV dem Gericht überraschend mit, daß die Beobachtung nach 39 Jahren eingestellt worden sei und alle erfaßten Daten löschungsreif seien.
Die Liga hält die Einstellung der Beobachtung Ende 2008 für einen ersten großen Erfolg in diesem Verfahren, der ohne Klage wohl nie zustandegekommen wäre. Der Kläger, der ansonsten wohl immer noch und bis ins hohe Rentenalter unter Bewachung stünde, wird in diesem Verfahren von ver.di – Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union und vom Verband Deutscher Schriftsteller unterstützt. Zuvor hatten zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Juristenvereinigungen und Schriftsteller – unter ihnen Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Horst-Eberhard Richter – gegen seine Überwachung protestiert. 2008 ist Rolf Gössner als einer der Mitherausgeber des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Report – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" die Theodor-Heuss-Medaille der Theodor-Heuss-Stiftung verliehen worden – für "vorbildliches demokratisches Verhalten, bemerkenswerte Zivilcourage und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl".
Rolf Gössners Klage war auf vollständige Auskunft des BfV über alle zu seiner Person gespeicherten Daten gerichtet. Außerdem sollte die Rechtmäßigkeit der Gesinnungsschnüffelei und Datenerfassung gerichtlich überprüft werden. Inzwischen verpflichtete das Gericht das BfV dazu, Gössners gesamte Personenakte vorzulegen.
Dies ist auch geschehen – allerdings zum größten Teil mit entnommenen Seiten und geschwärzten Textstellen: Von allen über 2.000 vorgelegten Aktenseiten sind etwa 85 Prozent ganz oder teilweise unleserlich oder manipuliert oder gar nicht vorgelegt worden; nur rund 15 Prozent sind offen und vollständig lesbar.
Die Verheimlichung ganzer Aktenteile geht auf umfangreiche Sperrerklärungen des Bundesinnenministeriums (BMI) als oberster Aufsichtsbehörde des BfV zurück. Begründung: Würde ihr Inhalt bekannt, könnte dies dem "Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten"; die Funktionsfähigkeit des Verfassungsschutzes (VS) würde beeinträchtigt, wenn verdeckte Arbeitsweise und operative Interessen bekannt werden ("Ausforschungsgefahr"). Die Geheimhaltung diene aber in erster Linie dem Schutz der Informationsquellen, deren Identität nicht enttarnt werden dürfe ("Quellenschutz"), weil ansonsten eine "Gefährdung von Leben, Gesundheit oder Freiheit" von V-Leuten, Hinweisgebern und VS-Bediensteten zu befürchten sei.
III. Gegen diese Aktenverweigerung klagte Rolf Gössner parallel vor dem hierfür zuständigen Bundesverwaltungsgericht, um Sperrerklärungen und Geheimhaltung in einem so genannten In-camera-Verfahren überprüfen zu lassen. Dabei handelt es sich um ein rechtsstaatlich hoch problematisches Geheimverfahren ohne Mitwirkungsmöglichkeit des Klägers. Nach ihrer Auswertung der gesperrten Aktenteile in geheimer Sitzung kamen die höchsten Verwaltungsrichter zu dem von BMI und BfV geforderten Ergebnis, daß die entsprechenden Aktenteile weiterhin aus Gründen des Quellenschutzes, der Ausforschungsgefahr und des Staatswohls geheim gehalten werden müßten. Damit konnte das Verwaltungsgericht Köln nur auf solch eingeschränkter Informationsbasis seine Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit dieser Dauerbeobachtung treffen.
Trotz dieser höchstrichterlich gebilligten Beweismittelverweigerung im staatlichen Geheimhaltungsinteresse ist die verbleibende Dokumentensammlung (Personenakte) dennoch recht aufschlußreich: So erstaunt etwa, wie viele Behörden, andere Stellen und Personen sich in diesem Fall als denunziatorische Zuträger für den Verfassungsschutz betätigt haben und wie viele Spitzelberichte über Gössners Vorträge und sonstige Aktivitäten angefertigt worden sein müssen.
IV. Dieses Verfahren hat nach Auffassung der Liga über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung, denn es geht um ein brisantes Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtler betrifft: Welche Grenzen sind den kaum kontrollierbaren Nachrichtendiensten und ihren geheimen Aktivitäten gezogen – gerade im Umgang mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger Menschenrechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen?
Dazu RA Kauß: "Die geheimdienstliche Langzeitüberwachung eines Anwalts, Publizisten und Menschenrechtlers verletzt Persönlichkeitsrechte, Informantenschutz, Mandatsgeheimnis und die ausforschungsfreie Sphäre, die für regierungsunabhängige Menschenrechtsgruppen unabdingbar ist". Dazu zählten eben auch berufliche Kontakte zu "inkriminierten" Gruppen und Personen, die der Verfassungsschutz für beobachtenswert hält. "Kritischer Dialog und offene politische Auseinandersetzung dürfen nicht unter geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt werden", ergänzt Liga-Vizepräsident Rolf Gössner: "Das würde keine freiheitliche Demokratie auf Dauer aushalten."
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