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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Brokdorf, Wackersdorf und »Ansätze von Staatsterrorismus«

Harald W. Jürgensonn, Ellingstedt

Gerade mal 42 Tage sind seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vergangen, als es im schleswig-holsteinischen Brokdorf zu einer bis dahin beispiellosen Gewaltexplosion kommt. 30.000 Menschen wollen sich wehren gegen das Kernkraftwerk der PreussenElektra, sie werden gejagt von mehreren tausend Polizisten, zu Lande und aus der Luft. Wasserwerfer fegen die Menge wie Unrat vom Gelände, tieffliegende Hubschrauber drücken Fliehende zu Boden, Gasgranaten werden eingesetzt und verseuchen die Luft. Polizei und Bundesgrenzschutz, bewaffnet mit Gewehren und Maschinenpistolen, sperren Straßen schon bei Hamburg, Zigtausende kommen nicht durch, um ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen. Der westdeutsche Staat zeigt an diesem 7. Juni 1986, was er hat: sein uneingeschränktes Gewaltmonopol. Und das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« nennt die Demonstranten »Krawallos«, »KBW-Maulhelden« und »Gewaltapostel« mit »kommunistischer Brokdorf-Ausrüstung«. Das Kapital kann sich auf seine Schergen verlassen.

Am selben Tag, rund 750 Kilometer südlich von Brokdorf, im bayerischen Wackersdorf. Auch hier wollen 30.000 Bürgerinnen und Bürger klarmachen, dass sie gegen Atomkraft allgemein und die hier geplante Wiederaufbereitungsanlage im Besonderen sind. 3.000 Polizisten marschieren auf, am 4,8 Kilometer langen und 15 Millionen D-Mark teuren stählernen Bauzaun gibt es rund 400 Verletzte und 48 Festnahmen. Kernkraftgegnern aus Österreich wird die Einreise verweigert. Der damalige bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß nennt das Vorgehen der schwerbewaffneten Polizisten »notwendige Entschlossenheit«, »Der Spiegel« strapaziert wieder die Bezeichnungen »Krawallos« und »Militante« für Menschen, die ihr im Grundgesetz verankertes Demonstrationsrecht wahrnehmen. Für kommende Demonstrationsunterdrückungen bekommen die Beamten Blendschockgranaten und Gummischrotgeschosse, ein Jahr später geht die Polizei mit einer noch nie dagewesenen Brutalität auf friedliche Demonstranten los – von »Knüppelorgien« und »Hetzjagden« ist unwidersprochen die Rede. Jetzt greift sogar der Regensburger Polizeipräsident Wilhelm Fenzl ein und fordert staatsanwaltliche Ermittlungen gegen die ihren Gewaltrausch auslebenden Beamten.

Hunderttausende gehen in den 80er Jahren auf die Straße. Sie haben Angst vor den Folgen eines Atomunfalls, wollen die gefährliche Atomenergie verhindern. Zuerst demonstrieren sie, dann kämpfen sie. Es ist ein Kampf, der längst entschieden ist. Baugenehmigungen sind geräuschlos erteilt worden, Einsatzpläne liegen in den Schubladen von Polizei und Bundesgrenzschutz. Während Politiker und Kernkraft-Lobby die Atomgegner verspotten und mit Häme überschütten, wird schon gebaut. Und während viele AKW-Gegner mit friedlichen Kundgebungen etwas erreichen wollen, rüsten einige von ihnen im Untergrund auf. »Wurfanker geschweißt, Solidaritätspreis 10,-, massiv, 30 cm, 3 gebogene Widerhaken« werden in Bremen zum Einreißen von Zäunen angeboten, Schwärme von Aluminium-Drachen sollen den Funkverkehr von Polizeihubschraubern stören, es gibt Gasmasken, Mundtücher und Augentropfen gegen die Auswirkungen von Tränengas, Stahlkugeln zum Beschuss der Polizei, und es gibt Planspiele zum Sperren von Straßen und Fällen von Lichtmasten. Gleichzeitig fordert der Bonner FDP-Staatsminister Jürgen Möllemann die enge Zusammenarbeit der Antiterrorgruppe GSG 9 mit Mobilen Einsatzkommandos der Polizei zum Wohle der Atomindustrie, zum Schaden der Bürger.

Es gibt viele Zusammenstöße zwischen Atomgegnern und Ordnungsmacht. Es gibt hunderte Verletzte, es gibt Tote. Es gibt Brutalitäten, auf beiden Seiten. Und es gibt Ohnmacht – auf beiden Seiten. Ohnmächtig müssen die Brokdorf-Gegner erleben, wie das AKW am 8. Oktober 1986 als weltweit erste Atomkraftanlage nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl in Betrieb genommen wird. Ohnmächtig müssen Polizei und Staat erkennen, dass sie Wackersdorf, dessen strahlendes Inventar letztlich der zerstörerischen Kraft von 5.000 Hiroshima-Bomben entsprechen sollte und von CSU-Strauß als »so gefährlich wie eine Fahrradspeichenfabrik« eingestuft wurde, nicht halten können – im April 1989 kommt hier der endgültige Baustopp.

Widerstand wurde strafbar und Pflicht zugleich

Was vor 30 Jahren passierte, hatte große Auswirkungen auf das gesamte Westdeutschland. Es war Wut auf beiden Seiten, Wut aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus. Aus dieser Wut folgte Militanz, folgte Aufrüstung, folgten Schlachten, die man bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. Von Bildern und Berichten aus dem faschistischen Chile, aus Südafrika. Widerstand wurde strafbar und Pflicht zugleich. Die Medien, damals noch beschränkt auf Radio, Fernsehen und Gedrucktes, bezogen mehrheitlich Stellung gegen diejenigen, auf deren Seite sie eigentlich hätten stehen sollen – ihre Hörer, Zuschauer und Leser. Sie setzten Unrecht ins Recht und machten sich damit zu einem willigen und wichtigen Helfer der Herrschenden. Dass diese Herrschenden nicht die Politiker in Bonn und den Landeshauptstädten waren – drauf gepfiffen. Die Herrschenden saßen in den Chefetagen der Energiekonzerne – und die Politiker waren ebenso ihre Handlanger wie eben diese Medien.

Es wird vermeintlich objektiv berichtet. Zum Beispiel über den Hamburger Kessel am Tag der großen Brokdorf-Schlacht. Am 8. Juni 1986 macht die Polizei in der Hansestadt Jagd auf Menschen, die mit ihren Autos zur Demo nach Schleswig-Holstein wollen. Die Einkesselung beginnt um 12 Uhr mittags, und erst lange nach Mitternacht sind die letzten Demonstranten abtransportiert und auf Polizeiwachen im gesamten Stadtgebiet verteilt. Den Eingeschlossenen wird bis zum Abend der Gang zur Toilette verwehrt, Innensenator Rolf Lange spricht von »Gewalttätern«, »polizeibekannten Sympathisanten der RAF« und »Leuten aus der Hafenstraße und sogenannten Autonomen«, es gibt 838 Ingewahrsamnahmen und 22 Festnahmen. Übrig bleiben von dieser Willküraktion letztlich jedoch nur 15 eingeleitete Ermittlungsverfahren, sieben davon wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz.

Noch während die Bilder von den »Randalierern« und »Chaoten« wie Trophäen in den Nachrichten gezeigt werden, handeln Hamburgs Taxifahrer. Sie bieten mehreren hundert Eingekesselten eine kostenlose Heimfahrt an. Zwanzig Minuten später attackiert die Polizei rund vierzig hupende und blinkende Taxis und Privatautos mit Gummiknüppeln, schlägt wie ein wütender Mob die Scheiben ein. Ein Pyrrhussieg. Denn vier Tage später demonstrieren in Hamburg 50.000 Menschen, an der Spitze rund hundert Taxis, gegen diese Eskalation der Willkür. Das Verwaltungsgericht erklärt den Polizeieinsatz später für rechtswidrig, vier verantwortliche Polizeiführer werden wegen 861-facher Freiheitsberaubung unter Vorbehalt einer Geldstrafe verwarnt, jedem Eingekesselten werden 200 D-Mark Schadensersatz zugesprochen. Die Berichterstattung hierüber fällt ungleich schmaler aus. Auch dass sich hieraus die Gründung des »Hamburger Signals« ergibt, einer Vereinigung Hamburger Polizisten, die sich gegen den brutalen Einsatz aussprechen, bleibt eine kleine Meldung. Aus dem »Hamburger Signal« wird später die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten. Das aber ist nicht so spektakulär wie das Festsetzen von »Kommunisten« und »Chaoten«.

Auch im Süden Republik taten sich Dinge, die nicht sehr schlagzeilenträchtig waren, dennoch zum Geschehen gehörten. Am Osterwochenende 1986 kommen 100.000 Menschen zum Bauzaun Wackersdorf, der mittlerweile zur mehrere Meter hohen Stahlsperre mit Stacheldraht geworden ist. Zum ersten Mal eröffnet die Polizei das Feuer mit CS-Kampfgas – stundenlang dauert der Angriff. Ein 38-jähriger an Asthma leidender Mann erstickt – spätestens sein Tod ist der Auftakt für wütenden Protest, den »Der Spiegel« als »nahezu das gesamte mobile Randale-Potential der Bundesrepublik« bezeichnet. Bereits am 2. März 1986 starb die 61-jährige Wackersdorfer Hausfrau Erna Sielka – sie erlitt am Bauzaun einen Herzinfarkt.

Beamte durchsuchen sogar die Bauernhöfe im Umland. Die Bewohner wehren sich auf ihre Weise: Sie bringen den Protestteilnehmern belegte Brote und heiße Getränke, alte Frauen schleppen Steine aus dem Gleisbett der nahen Bahnlinie zum Bauzaun und verteilen sie an vermummte Demonstranten. Die rot-grüne Landesregierung Hessens schickt zwei Wasserwerfer, ein Wasserwerfer aus West-Berlin wird am Kontrollpunkt Drewitz von den Grenzschützern der DDR festgesetzt. Letztlich sind 41 Wasserwerfer im Wackersdorfer Dauereinsatz – um sie rund um die Uhr zu befüllen, wird der Bevölkerung das Wasser abgedreht. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ludwig Stiegler sieht im Vorgehen der Polizei »Ansätze von Staatsterrorismus«. Es geht nicht mehr nur um eine Wiederaufbereitungsanlage, es geht um Bürgerrechte.

Niederlagen gesteht man nicht ein

Diese »Pfingstschlacht« wird zum Fiasko. Über hundert Polizeibeamte scheiden danach aus dem Dienst aus. Deutschlandweit wird über den Einsatz von Gummigeschossen und Schusswaffen diskutiert. Dass die Atompolitik der BRD mit ihrer Machtdemonstration den Abbau demokratischer Grundrechte betreibt, scheint kaum jemanden zu stören. Der Bayerische Rundfunk schaltet sich am 22. Mai aus dem ARD-Programm aus, weil in Dieter Hildebrandts Satire-Sendung »Scheibenwischer« ein atomkraftkritischer Sketch vorkommt. Was der BR-Intendant in vorauseilendem Gehorsam nicht zeigen will, wird zum Publikumsmagneten der bayerischen SPD-Ortsverbände – sie zeigen das Video sogar in den Münchner Kammerspielen.

»Feuer und Flamme für diesen Staat!«, »Aufruhr, Widerstand – es gibt kein ruhiges Hinterland!« skandieren die einen, die anderen spotten »Atomkraftgegner überwintern bei Kerzenschein mit kaltem Hintern«. »Der Spiegel«, von seinem Gründer und gottvaterähnlichem Über-Chef Rudolf Augstein einst als »Sturmgeschütz der Demokratie« überzeichnet, gefällt sich in Hetze gegen Kommunisten, gegen »Gewaltapostel von KPD, KPD/ML, KB und KBW, Trotzkisten und Anarchisten«, die »von Brokdorf nicht lassen« wollen. Gezeigt werden Demonstranten mit rot-gelben Fahnen, Stahlkugeleinschläge an Polizeiautos, beschlagnahmte Wurfanker, Gasmasken, Hämmer und Messer. Opfer der Polizeigewalt sehen die Leser nicht. Die Antiatombewegung wird bewusst kriminalisiert. Gleichzeitig ist es die hohe Zeit linker Buchläden, linker Verlage, linker Zeitungen – und beginnender linker Resignation. Warum noch den Mund aufmachen, wenn man eh sofort aufs Maul bekommt.

Polizei und Justiz schweben wie düstere Wolken über jeder Demo, über jeder atomkritischen Versammlung. Gleichzeitig, und zwar am Tag der Brokdorf-Schlacht, dem 7. Juni 1986, zeigt man Liberalität: CSU-Bundesinnenminister überreicht der Filmemacherin Margarethe von Trotta das Filmband in Gold des Bundesfilmpreises – für ihr Werk »Rosa Luxemburg«. Niederlagen gesteht man nicht ein: Als man nach dem erzwungenen Baustopp von Wackersdorf die Wiederaufbereitung von Brennelementen nach La Hague und Sellafield auslagert, sind es »Kostengründe«, die vorgeschoben werden. Nur nicht am Nimbus der Herrschenden kratzen – um nicht noch Nachahmer zu animieren, sich gegen ähnliche Projekte zu wehren. Schließlich hatte Franz-Josef Strauß 1980 die Losung ausgegeben, in Bayern gebe es stabile politische Verhältnisse und »eine industriegewohnte Bevölkerung«.

Brokdorf und Wackersdorf, zwei Symbole des Widerstands. Wackersdorf ist Geschichte, ein kleiner Ort in der Oberpfalz. Brokdorf ist am Netz, ein Ort, an dem sich am 6. Mai 2016 die 358. Mahnwache versammelte. Spätestens am 31. Dezember 2021 muss das AKW abgeschaltet werden – und bleibt eine tickende Zeitbombe. Der Evakuierungsradius im Ernstfall wird mit 100 Kilometern angegeben – Hamburg, Bremen, Elmshorn, Lübeck und Kiel wären dann Geisterstädte. Auch sie dann, wie vor dreißig Jahren schon der AKW-Neubau, mit Herrschaftsmacht und Polizeigewalt geschützt. Diejenigen, die bis dahin Milliarden mit einem der lebensgefährlichsten Stoffe der Welt verdient haben, wird es nicht stören. Sterben werden diejenigen, die die Lebensgefahr verhindern wollten. Und dass Wackersdorf verhindert wurde, ist einerseits ein Erfolg. Andererseits nur die Verlagerung des Problems. Denn auch in Sellafield und La Hague wohnen Menschen. Aber das ist eine andere Geschichte.