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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Bockig bleiben! Momentaufnahmen von und mit Marga Legal

Armin Stolper, Berlin

Der blendend schöne Spätseptembertag, den wir zu einem Ausflug mit dem Auto in die Umgebung der Großstadt benutzten, war für Marga ein besonderer Genuß. Immer wieder zeigte sie sich entzückt vom Grün der Bäume und vom Blau des Himmels, ließ sich sagen, welche Früchte noch auf den Feldern standen, wo schon abgeerntet war, wo neue Häuser gebaut worden waren, und immer wieder ermahnte sie Ellen am Steuer, ja nicht zu schnell zu fahren, damit sie die Natur und die Menschensiedlungen, die wir durchfuhren, besser wahrnehmen konnte. Aber Ellen fuhr schon nur 50 Kilometer und geriet so in den Konflikt zwischen den Wünschen der alten Schauspielerin und den Bedrängnissen durch die ihr folgenden Autofahrer.

Während der Fahrt las ich vor, was Max Burghardt in seinem Erinnerungsbuch über die Legals geschrieben hat, und sie hörte gespannt zu. Bei seinen Verhandlungen mit dem Dirigenten Erich Kleiber in der Schweiz sei er auch auf den früheren Staatsopern-Intendanten Ernst Legal zu sprechen gekommen. Kleiber sagte: "Ein echter Lausitzer, rauhe Schale, knurrig, kauzig und voller Humor und Herz. Ein herrlicher Schauspieler." Burghardt erzählte dem Dirigenten, daß er gute Beziehungen zu Legal habe und seine Tochter "eine ausgezeichnete Schauspielerin im Demokratischen Sektor von Berlin sei". Die Rede über ihren Vater veranlaßte die Dreiundneunzigjährige zu der Bemerkung: Ja, als Intendant sind sie ihm alle ins Arschloch gekrochen, aber als er tot war, war nicht mal das Arschloch vorhanden, in das sie hätten kriechen können. Da war er mit einem Male vergessen.

In Bernau, wo wir vor dem PDS-Büro auf der sonnenüberfluteten Straße sitzen und an unserem Eis lecken, läßt sich Marga ausführlich über die Eröffnungspremiere am Vortage im Maxim-Gorki-Theater erzählen. Natürlich will sie vor allem wissen, wer mitgespielt habe, und als ich ihr Namen von älteren Mitgliedern wie der Werner, der Lennartz, dem Manchen nenne, fällt jedes Mal das Urteil von ihren Lippen: Gute Schauspieler. Natürlich weiß sie auch das Talent der Thalbach zu schätzen, die die Titelrolle in der "Heldin von Potsdam" spielt. Auf ihre Frage, wie ich denn das Stück und die Aufführung fände, sage ich, daß ich nicht das große Geschütz auffahren möchte; immerhin mache man hier den Versuch, mit den Mitteln der Satire und der Ironie sich brennenden Themen der Gegenwart – Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und dergleichen – zu nähern. Manches überzeuge, manches nicht. Marga erwidert: Ist doch gut, daß sie so was machen. Das geh ich mir ansehen. Und Ellen sagt: Ich auch.

Im Theater im Palais am Festungsgraben, unweit ihrer alten Wirkungsstätte, dem Maxim-Gorki-Theater, befragte sie an einem Nachmittag der Theaterkritiker Christoph Funke nach ihrem Leben. Das sprudelte nur so aus ihr heraus. Während der berüchtigten zwölf Jahre hatte sie – der Vater ihrer Mutter war Jude – Berufsverbot. Was sich in der Bundesrepublik heute auf ihre Rente auswirkt; schließlich fehlen hier zwölf Jahre. Man faßt es nicht: Die Witwe des Blutrichters Freisler erhielt in diesem Staat eine hohe Rente – schließlich war ihr Mann ordentlich besoldeter Beamter – aber die Schauspielerin Marga Legal als "Vierteljüdin", von den Nazis mit Berufsverbot belegt, wird dafür zusätzlich noch bestraft. Erst jetzt verstand ich, warum sie sich manchmal auch im hohen Alter nach ein paar Drehtagen sehnte. Natürlich freute sie sich, wenn sie gebraucht wurde, aber das dadurch zusätzlich verdiente Geld war auch nicht zu verachten.
Alles, was Marga an diesem Nachmittag im TiP erzählte, war Geschichte, Theatergeschichte und wurde in den zwei Stunden zu lebendiger Gegenwart. Ihr großes Anliegen sei es immer gewesen, Menschen aus kleinen Verhältnissen ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Dabei gestand sie, auch manches "beschissene" Stück gespielt zu haben, womit sie freilich nicht eins wie "Nacktes Gras" von Alfred Matusche meinte, bei dessen Uraufführung 1958 sie die Ärztin und Widerstandskämpferin Margret in der Todeszelle spielte; auch manchen Fehler gemacht zu haben, gab sie zu, wobei sie aber durchaus nicht ihre Abgeordnetentätigkeit in der Volkskammer meinte; auch nach 1989 manche Stunde der Verzweiflung durchgemacht zu haben, wobei sie sich angesichts solcher Schicksale wie dem von Tucholsky immer wieder gesagt habe: Halt bloß die Klappe; denk daran, was andere durchlebt und durchlitten haben. Daß ihre große Liebe zu Heine und Fontane nicht nur ein Lippenbekenntnis war, erlebte man, als sie Texte beider Dichter aus dem Stegreif zum besten gab. Große Lust hätte sie, eine vitale Stadtstreicherin zu spielen, eine, die nicht aufgibt. Ihr Credo berührte mich stark: "Bockig bleiben, nicht aufgeben, als Mensch mit anderen Menschen in Kontakt kommen, sich davor zu hüten, so gut es geht, im Alter nicht einsam zu werden."

In meiner "Lebenslangen und arbeitsreichen Liebeserklärung an Gerhart Hauptmann" steht: "Als ich jetzt die achtundachtzigjährige Schauspielerin Marga Legal nach ihrem Verhältnis zu Hauptmann fragte, sagte sie: Mein Liebchen, ich habe ganz bestimmt einiges von ihm gespielt, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern, das Elend des Alters ist, ich vergesse alles. Ich erwiderte: das ging Hauptmann ähnlich. Als man ihm aus seinen Manuskripten vorlas, die er in Mappen gesammelt zu liegen hatte, habe er manches Mal verblüfft gefragt, was, das habe ich geschrieben? Das ist ja gar nicht so schlecht ... Siehst du, mein Liebchen, sagte Marga, das finde ich gut, das macht mir den Hauptmann doch sehr sympathisch. Manchmal höre ich noch ihre Stimme und auch ihr Gelächter über die Hauptmann-Erinnerung habe ich noch im Ohr." Und es ist auch im Gespräch mit Ellen zu hören, wenn wir vom Weißenseer Friedhof kommen und im Prenzlauer Berg irgendwo einen Kaffee trinken.

Wenn wir das nächste Mal zusammentreffen, werde ich Ellen das Journal des Maxim-Gorki-Theaters zeigen, das im Jahre 1961 herausgegeben wurde und in dem es ein kleines Bild gibt, auf dem Marga Legal mit Gérard Philippe und Wilhelm Koch-Hooge bei den Dreharbeiten zu dem Film "Tyl Ulenspiegel" in Nizza zu sehen ist. Über diese Arbeit mit dem bekannten und beliebten französischen Schauspieler, der die Titelrolle spielte und Regie führte, sagte Marga damals:

Es war Nacht, die Abschiedsszene zwischen Til und Nele wurde vorbereitet. Menschen liefen hin  und her, Schweinwerfer wurden gerichtet, die helle Stimme des Kameramanns Christian Matras gab den Beleuchtern die letzten Anweisungen, die Schauspieler spazierten auf und ab … In diesem Tumult stand Gérard Philippe in seinem Kostüm an einen Baum gelehnt, innerlich ganz beschäftigt mit der Szene, die nun folgen sollte, abwesend, aber doch mit großem Appetit eine Banane verspeisend und mechanisch mal diesen oder jenen Arm, an dem noch gebürstet oder geknöpft wurde, in die Höhe hebend. Von Zeit zu Zeit fragte er mit sanfter Stimme: "Mes enfants, prêt?"(Meine Kinder, fertig?), um sofort wieder zurückzusinken in Gefilde des Ausruhens, die scheinbar gar nichts mit dieser Welt zu tun hatten, und so voll Konzentration für gerade diese Welt waren. Und Sie müssen mir schon verzeihen, lieber Monsieur Gérard, daß mir gerade das so gut gefallen hat. In diesem Augenblick war nämlich alles, was unseren Beruf schön und seltsam macht, bewußt und unwirklich, und es war alles das, weshalb man zum Theater gegangen ist.


Armin Stolper, Berlin
Bockig bleiben!
Für Marga Legal

Kennenlernte ich sie in der Todeszelle
Im "Nackten Gras" von Alfred Matusche
Auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters,
In der sie einer Mitverurteilten Mut zusprach;
Das war zu der Zeit, als dieses Land,
Für das sie in der obersten Volksvertretung saß,
Gerade zehn Jahre alt geworden war.
Später erfuhr ich, daß sie bei den Nazis
Berufsverbot hatte, weil ihr Großvater
Mütterlicherseits Jude war. Noch später,
Daß dieser Tatbestand für ihre Rente
In der Bundesrepublik, in der Freislers Witwe
Eine hohe Pension bezog, sich negativ auswirkte;
Dennoch freute sie sich, wie sie schrieb,
Über die Wiedervereinigung, auch wenn sie,
Dadurch ihre Heimat verloren hatte.
Als sie 90 wurde, befragte ein Theaterkritiker sie
Nach ihrem Leben, das sprudelte nur so
Aus ihr heraus und nichts mehr war da
Vom Alter, das eine Strafe sei, besonders
Wenn die Kraft der Augen erlahmt, die Rede;
Mit ihr erlebten wir noch einmal ihr Leben
Auf der kleinen Bühne des TiP,
Gleich neben dem Gorki, ein lebendiges Kolleg
Über ein Jahrhundert Theatergeschichte,
Hielt sie uns an diesem Tage, in dem sie einige
Unverwechselbare große Gestalten
Auch kleiner Leute geschenkt uns hatte,
Aber auch das adlige Fräulein von Bomst.
In Fontanes "Frau Jenny Treibel", dem Dichter,
Den sie, die Berlinerin, ins Herz geschlossen.
Der junge Mensch, der sie auf der
Verkehrsüberlasteten Straße in Weißensee
Unweit ihrer letzten Wohnstätte überfuhr,
Sie war damals 93, kam mit einer milden Strafe
Davon, was, wie ich denke, im Sinne von ihr,
Der großen Menschenfreundin und guten Genossin
Gewesen sein mochte. Am Tag, als sie 95
Geworden wäre, erhielt der Club im Prenzlauer Berg,
In dem sie ein gern gesehner Gast war, ihren Namen,
Und drei junge Frauen schenkten ihr und uns
Eine Stunde mit herrlichen Poesien Heinrich Heines,
Gesprochen, gesungen, gefühlt …
Dankbar für solches Gedenken konnte Margas Stimme
Man hören: Der hat’s uns vorgemacht
Mit Charme und politischer List,
Dieses BOCKIG BLEIBEN, was mein
Wahlspruch immer war und blieb bis heute.
Glückwunsch zum 100., liebe Marga,
Und ewiges Leben im Herzen derer, die
Dir und Deinem Wahlspruch folgen – auch heute!