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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Bitte um Nachsicht, lieber Arnold Zweig!

Armin Stolper, Berlin

Ich möchte diese Zeilen mit einer Bitte an meine Leserinnen und Leser eröffnen: Ehrt diesen großen deutschen sozialistischen Dichter, dessen 125. Geburtstag wir am 16. November 2012 begehen, indem ihr euch nutzt und lest, was ihr kriegen könnt von ihm und über ihn! Das "über ihn" wird euch leicht gemacht, denn es gibt zwei vorzügliche nicht allzu umfangreiche Bücher von Heinz Kamnitzer, dem langjährigen Freund, Berater und Nachlasswalter im persönlichen Auftrag, nämlich "Der Tod des Dichters" (1998) und "Ein Mann sucht seinen Weg" (2000), die beide im GNN Verlag in Schkeuditz erschienen und nach wie vor erhältlich sind. Man wird nicht leicht etwas anderes finden, das so wie diese beiden Publikationen den Zugang zu Zweig, das Kennenlernen seines Lebens, den Einblick in das Schaffen des ungeheuer fruchtbaren Schöpfers einer Prosa und Essayistik von Weltruhm ermöglicht und den Weg zu ihm mit Genuss beschreiten heißt. Und wenn man neugierig gemacht sein mag und Lust verspürt, Kamnitzers Urteil durch eigene Lektüre zu überprüfen, dann lese man die Bücher dieses Dichters erneut oder zum ersten Mal, und man wird beschenkt werden wie selten von einem Verfasser "dicker Wälzer", die einen an der Menschheit ernster Gegenstände aus dem vergangenen Jahrhundert und davor, zu unterhalten und zu begeistern vermögen wie wenige ihrer Art.

Die Älteren von uns können vielleicht auf die Ausgaben des Aufbau Verlages zurückgreifen, in dem seine Ausgewählten Werke in 16 Bänden allein in den Jahren von 1957 bis 1967 erschienen sind und danach viele Neuauflagen erlebten. Man findet dort: "Die Zeit ist reif", "Junge Frau von 1914", "Erziehung vor Verdun". "Der Streit um den Sergeanten Grischa", "Die Feuerpause", "Einsetzung eines Königs" "Novellen um Claudia". "de Vriendt kehrt heim", "Das Beil von Wandsbek", "Traum ist teuer", zwei Bände mit Novellen, einen Band mit Dramen, zwei Essay-Bände sowie einen Band mit dem Titel "Jahresringe", der Gedichte und Spiele enthält.

Man kann nicht sagen, dass dieser Verlag, nachdem er nach 1989 in private Hände übergeführt wurde - fragen wir nicht, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen - sich dem Werk Arnold Zweigs gegenüber weniger verpflichtet gesehen hätte. Geplant war eine Ausgabe seiner Werke in 13 Bänden, die gemeinsam von der Humboldtuniversität zu Berlin und der Akademie der Künste unter der wissenschaftlichen Leitung von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit Julia Bernhard veranstaltet wurde, als deren besonderes Verdienst man die Neu- und Erstausgaben verschiedener Essay-Bände (neben den bekannten Romantiteln) werten muss, darunter den Emigrationsbericht "Dialektik der Alpen" und "Freundschaft mit Freud". Und auch im Taschenbuchverlag von Aufbau erschienen zahlreiche Bücher, die im Unterschied zu den großen Bänden teilweise heute vergriffen sind.

Es ist ein Jammer, dass die schöngestalteten Bücher mit ihrem umfangreichen Apparat, der Nachworte und Anmerkungen enthält, nicht den Absatz im "vereinigten Deutschland" fanden und finden, wie man geglaubt hat, und dass deshalb der Plan dieser Neuausgabe nicht erfüllt, sondern nach 11 Bänden aufgegeben wurde. Schön, die Bücher sind nicht gerade billig, ihr Preis liegt zwischen 23 und 40 Euro, aber der eigentliche Grund mag der Dichter selber sein; er gilt dem bürgerlichen Feuilleton der Jetztzeit mehr oder weniger als lupenreiner Sozialist, als unnachsichtiger Kritiker des Krieges der Weißen Männer, als linientreuer DDR-Literat, der sich allem Werben (wenn es nun einmal stattfand), aber vor allem allen Vorwürfen seiner unbeugsamen Haltung gegenüber als unempfindlich erwies. Und wer glaubt, den Dichter Zweig, der jahrelang das Amt des Präsidenten der Akademie der Künste und andere Funktionen innehatte, als kritiklosen, ja angepassten Schriftsteller des sowjetzonalen Ulbricht-Staates charakterisieren zu können, der beweist nur, dass er beispielsweise die beiden Bände nicht gelesen hat, die den Briefwechsel zwischen Lion Feuchtwanger und ihm enthalten, der 1984 ebenfalls im Aufbau Verlag erschien. Keine der so oft beschworenen Probleme unserer Kultur und der Politik, der tatsächlichen wie der vom Gegner hochgejubelten, sind darin ausgespart, und es gereicht beiden ein Leben lang miteinander befreundeten Dichtern zur Ehre, dass sie nie einen Bogen um welchen heißen Brei auch immer machten, mochte es sich um den Streit handeln, der bei dem Wandsbek-Film entstanden war, um angeblichen Antisemitismus hierzulande - Feuchtwanger wie Zweig waren ihrer jüdischen Herkunft wegen von Hitler ins Exil getrieben worden - um die Verzögerung bei der Herausgabe ihrer Bücher vorsätzlich im Westen aber gelegentlich auch im Osten oder um Auseinandersetzungen mit engstirnigen Funktionären in einflussreichen Stellungen und Ämtern wegen Fragen der Kultur-Politik.

Es ist unmöglich, auf dem mir zur Verfügung stehenden Raum auch nur annähernd auf das Werk dieses aus dem schlesischen Glogau gebürtigen Dichters einzugehen, der trotz aller berechtigten und umfassenden Kritik an den Kriegen des deutschen Imperialismus und Faschismus, an den zerstörerischen Kräften des deutschen Militarismus und seiner völkerfeindlichen Fratze nicht müde wurde, das Lob der deutschen Stämme und ihrer Vielfalt - "Ja, Deutschland war groß, weiträumig, bewohnt von Stämmen, die sich reizvoll ergänzten, liebenswürdig unterschieden" - zu singen. Ja, Zweig war wie Brecht, wie die Seghers, wie Becher und andere unserer Dichter, zu denen ich auch einen wie Martin Andersen Nexö zählen möchte, ein kundiger und leidenschaftlicher Befürworter der Menschen und ihrer Unterschiede in den deutschen Landen, aus deren vernünftigen und freundlichen Umgang miteinander ein Deutschland, gekennzeichnet durch Anmut und Würde, Leidenschaft und Verstand, hervorgehen könnte und nicht eins, das mit Deutschland, Deutschland, über alles in der Welt die anderen Völker das Fürchten und Hassen lehrte. Und vergessen wir nicht: Zweig war nicht von Anfang einer, der alles gewusst hat, was man in seinen Epen finden kann; er war ein leidenschaftlich Suchender und selber Lernender, wie er uns das beispielsweise in den autobiographisch gefärbten Gestalten erleben lässt; Zweig ist ein lebendiges Beispiel dafür, dass Regieren nichts anderes als Regieren lernen heißt, was Irrtümer, Niederlagen, Dummheiten bis hin zu verbrecherischen Handlungen einschließt, die man aus ihren historischen Kontexten nicht lösen und einfach moralischen Urteilen unterwerfen darf.

Dass einer erst spät zu einem leidenschaftlichen Leser Zweigs wurde, dafür bin ich selbst, heute 78-jährig, ein Beispiel. Als Dramaturg habe ich an den verschiedenen Berliner Bühnen auch Schuld auf mich geladen, weil ich nicht mit Nachdruck und Verve für die Aufführung der Stücke dieses Dichters eingetreten bin. Da hatten wir immer Ausreden, haderten mit dem Verfasser und belehrten ihn, statt ihn auf die Bühne zu bringen und seine Ansprache halten zu lassen. Erst dieser Tage las ich wieder seine Essays, in denen er sich zu "Volksbühnen als politische Anstalten", zu "Antike und moderne Volksbühne" in den fünfziger Jahren äußert; ich war berührt und beschämt zugleich, dieser Stimme in meinem Leben als Dramaturg nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Noch schwerer aber fällt mir das Eingeständnis, dass ich erst nach 89 - und da war ich schon 55 Jahre alt - das große Romanwerk Zweigs mit großer Liebe, die ständig neu beschenkt und, wenn man so will, auch erwidert wurde, gelesen und immer wieder gelesen habe. Und als ich in den letzten Wochen "Einsetzung eines Königs" erneut las - ein Buch, das die verzwickten und abenteuerlichen, nichtsdestoweniger verbrecherischen Methoden beschreibt, die der deutsche Imperialismus anwendet, um in der Zeit des Ausgangs des Ersten Weltkrieges und in der vermeintlichen Hoffnung, das neu entstandene Räterussland durch den Brester Friedensvertrag und die Abtrennung der Ukraine, der Schaffung eines neuen deutschen Staatengebildes im Osten, in die Knie zwingen zu können, da hatte ich keineswegs das Gefühl, einer Politik und ihren Machern zu begegnen, die mich nichts mehr angingen; vielmehr wurde ich am Beispiel dieses heute 75 Jahre alten Romans auch kundig gemacht über das, was gegenwärtig deutscher Imperialismus, Unterdrückung anderer, schwächerer Völker, Kriegsdrohung und Kriegsgefahr angeht. So wie Zweig sich seine sozialistische Überzeugung "erschrieben" hat, so können wir aus seinen Erkenntnissen Nutzen ziehen, wenn wir - und das mit Genuss - in seinen Werken lesen. Denn Arnold Zweig ist ein deutscher Romancier, der zu den ersten und besten, aber auch unterhaltsamsten des zwanzigsten Jahrhunderts zählt; auch Liebhaber großer Liebesgeschichten kommen voll auf ihre Kosten.