Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
Drei Archivdokumente des Auswärtigen Amtes
Dokument Nr. 1 [1]
Schreiben der Deutschen Botschaft in Luxemburg an das Bonner Auswärtige Amt
Luxemburg, den 9. April 1969
Betr. Europäische Sicherheits- und Friedenskonferenz
Hier: Wiederaufleben der Reparationsforderungen gemäß Londoner Schuldenabkommen
Durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 [2] gelang es dank des Entgegenkommens unserer amerikanischen Freunde, die gewaltigen Reparationsforderungen der Feindstaaten des letzten Weltkrieges bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zurückzustellen, d.h. unsere Gegner des letzten Weltkrieges ad kalendas Graecas [3] zu vertrösten. Eigentlich müsste es doch unser Interesse sein, diesen Zwischenzustand des Nichtzustandekommens eines Friedensvertrages so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, um diese Forderungen unserer einstigen Gegner durch Zeitablauf einer Verwirkung oder Verjährung zuzuführen. Anders ausgedrückt: man sollte schlafende Hunde nicht wecken.
Neuerdings wird nun aber als Fernziel unserer Entspannungspolitik gelegentlich im Westen, aber auch – siehe die neuesten Beschlüsse der Warschauer Paktstaaten in Budapest vom Februar 1969 – im Osten von dem Plan einer europäischen Sicherheits und Friedenskonferenz gesprochen. Bisweilen wird zum Ausdruck gebracht, dass das Ergebnis dieser Konferenz ein europäischer Sicherheits- und Friedensvertrag sein müsse, der gewissermaßen den Abschluss des zweiten Weltkrieges und der durch ihn in Europa aufgekommenen Probleme darstelle. Es muss m.E. in diesem Zusammenhang mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Unterzeichnerstaaten des Londoner Schuldenabkommens zu gegebener Zeit die Frage anschneiden oder die These aufstellen werden, dass mit einem solchen Sicherheits- und Friedensvertrag die im Londoner Schuldenabkommen zurückgestellten Reparationsforderungen aus dem zweiten Weltkrieg wieder aufleben. Denn wann sollen eigentlich nach dem Willen der Unterzeichner des Londoner Schuldenabkommens (zu denen übrigens ausser Jugoslawien kein kommunistischer Staat gehört) die Reparationsforderungen der geschädigten Feindstaaten des zweiten Weltkrieges wieder zur Verhandlung stehen, wenn nicht bei der im Anschluss an einen solchen umfassenden Friedensvertrag. Angesichts unserer gesicherten Währungslage könnte – zumal wenn inzwischen eine weitere Lockerung des NATO-Verbandes eingetreten ist – die Begehrlichkeit unserer jetzigen Partner und einstigen Gegner zu einer Front von Gläubigern führen, die uns – jedenfalls rechtlich – in eine äusserst schwierige Position bringen könnten. Ich wäre – nur zu meiner eigenen Unterrichtung – für eine Mitteilung dankbar, wie das Auswärtige Amt zu diesem Fragenkomplex steht.
[Unterschrift]
Quelle: Politisches Archiv des Ausw. Amts, B 86 / 1271
Dokument Nr. 2
Antwortschreiben des Auswärtigen Amts an die Deutsche Botschaft
Luxemburg, Bonn, 6. Mai 1969
[…] Die Bundesregierung hält nach wie vor an dem seit je vertretenen Standpunkt fest, daß ein Friedensvertrag, in dem dann auch die finanziellen und sonstigen Kriegsfolgen geregelt werden müßten, nur von einer gesamtdeutschen Regierung geschlossen werden könnte, an seine Vorbereitung also entscheidende Schritte zur Wiedervereinigung gekoppelt sein müßten. Da die Verwirklichung einer solchen Forderung in der gegenwärtigen Lage aussichtslos erscheint, ist für uns auch die Diskussion über einen Friedensvertrag zur Zeit nicht aktuell. Nach wie vor sind die Pariser Verträge von 1954 für die Bundesrepublik Deutschland die maßgeblichen Kriegsabschlußverträge.
Auch das Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1954 [4] gehört zu diesen vorläufigen Kriegsabschlußverträgen. In dieser Lage wird die in Ihrem o.a. Bericht geäußerte Auffassung, daß wir kein Interesse daran haben können, durch eine Diskussion über einen Friedensvertrag zur Zeit ruhende Reparationsforderungen unserer ehemaligen Kriegsgegner wieder zu wecken, vollauf geteilt. Sollte es jedoch wider Erwarten in absehbarer Zeit zu Gesprächen über die Vorbereitung eines gesamtdeutschen Friedensvertrages kommen, dürfen unsere Gegenforderungen nicht außer Acht gelassen werden. Die Tatbestände der Vertreibung und Landnahme in Ost- und Mitteleuropa sowie die Enteignung des deutschen privaten Auslandsvermögens wären in einem solchen Falle als Grundlagen für eine deutsche Aufrechnung heranzuziehen. Es kann auch unterstellt werden, daß unsere NATO-Verbündeten, insbesondere die Partner des Pariser Vertragswerkes, die Reparationsfrage im Verhältnis zu Deutschland als erledigt ansehen. Die Entstehung einer einheitlichen Front der Gläubiger des letzten Weltkrieges müßte sich angesichts der verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Interessenlage dieser Gläubiger und der neuen, nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen politischen Gegensätze, wohl vermeiden lassen. […]
[gez. Unterschrift]
Quelle: Politisches Archiv des Ausw. Amts, B 86 / 1271
Dokument Nr. 3:
Vorlage des Ministerialdirektors Horst Teltschik an Bundeskanzler Kohl, Bonn, 15. März 1990 [5]
Betr.: Berechtigung eventueller Reparationsforderungen von Siegern des 2. Weltkriegs gegen ein vereintes Deutschland
Hier: Völkerrechtliche Bewertung Zur Information
Die nachfolgenden Leitsätze stellen die Ergebnisse des beigefügten, mit dem Auswärtigen Amt abgestimmten Kurzgutachtens dar. [6]
- Der in der Völkerrechtspraxis geltende Begriff des Reparationsanspruchs umfaßt alle völkerrechtlichen Entschädigungsansprüche im Zusammenhang mit Kriegsereignissen. Er umfaßt also auch Individualansprüche geschädigter Staatsangehöriger der Siegerstaaten.
- Gegenwärtig hat keiner unserer ehemaligen Kriegsgegner gegen uns einen Anspruch auf Reparationsleistungen. Reparationsansprüche entstehen dem Grund und der Höhe nach durch vertragliche Vereinbarungen zwischen Sieger und Besiegtem. Eine vertragliche Verpflichtung zur allgemeinen Reparationsleistung für Schäden im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg sind wir bisher nie eingegangen.
- In dem von uns unterzeichneten Londoner Schuldenabkommen von 1953 haben wir lediglich einer Regelung zugestimmt, wonach »eine Prüfung der aus dem 2. Weltkrieg herrührenden Forderungen … bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt wird.« Wann die »endgültige Regelung der Reparationsfrage« erfolgen soll, ist im Londoner Schuldenabkommen nicht geregelt.
- Auch aus dem mit den Westalliierten geschlossenen Überleitungsvertrag geht nur hervor, daß »die Frage der Reparationen durch einen Friedensvertrag Deutschlands mit seinen Gegnern oder vorher durch diese Frage betreffende Abkommen geregelt werden soll.«
- Ein Anspruch unserer ehemaligen Kriegsgegner auf Reparationsleistungen könnte erst aufgrund von Verpflichtungen entstehen, die wir im Rahmen eines friedensvertraglichen oder sonstigen, die Reparationsfrage regelnden Abkommens eingehen. Die Übernahme solcher Verpflichtungen wollen wir unter allen Umständen vermeiden.
- Aufgrund der o.a. Bestimmungen des Überleitungsvertrages können wir bei Abschluß eines formellen Friedensvertrages aber nicht vermeiden, daß die Reparationsfrage als Ganze und in Form konkreter Absprache auf den Tisch kommt und wir unter Druck gesetzt werden, uns zur Zahlung von Reparationen zu verpflichten. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung wie auch die Regierung eines künftigen vereinigten Deutschlands ein vorrangiges Interesse, sich jeder Forderung nach Abschluß eines Friedensvertrags zu widersetzen.
- Ohne Abschluß eines formellen Friedensvertrages können wir darauf verweisen, daß der Eintritt der Wiedervereinigung nicht bedeutet, daß die Reparationsproblematik noch einmal aufgerollt werden muß,
- weil dies nirgendwo vertraglich vereinbart ist
- weil die Reparationsproblematik durch das Fehlen konkreter, vertraglich vereinbarter Verpflichtungen, durch Verzichtserklärungen unserer ehemaligen Gegner und durch die bereits erbrachten Leistungen Deutschlands 45 Jahre nach Kriegsende de facto erledigt ist.
Teltschik
Quelle: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, Bearbeitet von Hans Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Dok. Nr. 222, S. 955-856.
Aus: FaktenCheck: HELLAS, Solidarität mit der Bevölkerung in Griechenland, Nummer 1 April 2015, S. 4-5, achtseitige Zeitung zum Verteilen, herausgegeben vom Büro für Frieden & Soziales e.V., Redaktion: Sebastian Gerhardt, Werner Rügemer, Mag Wompel, Winfried Wolf (V.i.S.d.P.).
Anmerkungen
[1] Alle drei Dokumente sind hier so wiedergegeben wie im Original abgefasst, es sei denn, Änderungen sind durch Anmerkungen ausgewiesen.
[2] Im Original irrtümlich: 1949.
[3] Bis zum St. Nimmerleinstag; niemals.
[4] Tatsächlich: 1953.
[5] Die Vorlage enthält zahlreiche Unterstreichungen. Sie wurden bei der Transkription weggelassen.
[6] Die Anlage wurde nicht mit abgedruckt.