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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»… bis die Mauer stand!«

Reinhard Junge, Bochum

 

1. November 1989 in Berlin Weißensee. Mein Vater feierte seinen 75. Geburtstag. Nicht zu Hause, sondern auf Einladung seiner Gefährten aus Sachsenhausen. Im DDR-Fernsehen lief ein Interview mit Egon Krenz, der gerade Nachfolger von Erich Honecker geworden war. Krenz gab sich optimistisch, aber die Stimmung auf der Feier blieb gedrückt. Es brodelte im Land. Keiner der DDR-Genossen trank auch nur ein Schlückchen Alkohol. Zwei oder drei Leute gaben sich zuversichtlich: »Wir müssen nur noch am Samstag verhindern, dass die Leute zum Brandenburger Tor demonstrieren – danach beruhigt sich alles wieder.«

Mein Vater schüttelte den Kopf. »Nach dem Wochenende geht es erst richtig los.« Er sollte Recht behalten.

Das Land, das den Frieden hütete

»SED-Diktatur«, »verordneter Antifaschismus«, »Stasi«, »Mauer«, »marode« – auf diese Begriffe wird die DDR nun seit über 30 Jahren reduziert. Mehr fällt den meisten Menschen auch nicht mehr ein. Selbst die junge Generation von Journalisten, die uns jeden Abend im Fernsehen die Welt erklärt, hat über den Kalten Krieg nur »gelernt«, dass der von den »Russen« ausging ... 

Ich habe die DDR anders erlebt. In einer alten Dortmunder Kommunistenfamilie aufgewachsen (schon mein Großvater Heinrich hat 1920 gegen die Kapp-Putschisten gekämpft), lag für mich östlich der Elbe kein Land des Schreckens, sondern das Land der Ferienlager, die bis 1961 auch von Kindern aus der BRD besucht werden konnten. Rügen, Müritzsee, Sächsische Schweiz – dort habe ich manche unbeschwerte Sommerwoche verbracht. 

Die DDR war für mich das Land, das Kinder liebte, den Frieden hütete und mit Befreiungsbewegungen und Verfolgten solidarisch war. »Drüben« regierten die KZ-Kameraden meines Vaters und nicht die Alt-Nazis, von denen es in der BRD wimmelte. Damit meine ich nicht die Millionen Mitläufer, die beide deutsche Staaten 1945 »geerbt« haben, sondern die Täter. Adenauer hat 1951 ganze Berufsgruppen, vor allem Juristen, Polizisten und Militärs, zu Demokraten erklärt. Als »Befähigung« reichte es, Antikommunist und Russenhasser zu sein. »Verräter«, die sich wie der spätere NVA-General Vincenz Müller in sowjetischer Gefangenschaft dem »Bund deutscher Offiziere« angeschlossen hatten, besaßen in der Bundeswehr keine Chance.

Mit den Namen der rehabilitierten Alt-Nazis ließen sich viele Buchseiten füllen – etliche fanden in der CDU eine neue politische Heimat und konnten wie Kiesinger sogar Kanzler werden oder wie Lübke Präsident. Meine Familie hatte es in den 60er Jahren in Dortmund vor allem mit einem Oberstaatsanwalt namens Schneider zu tun, der vor 1945 in Polen an Bluturteilen mitgewirkt hatte und wie seine alten und neuen Kollegen jetzt Kommunisten jagte. Schon die Mitgliedschaft in der KPD vor (!) deren Verbot, ja, sogar »das Haben einer (linken) Gesinnung« war strafbar.

Als der »Deutschlandsender« (später »Stimme der DDR«) in den vorweihnachtlichen Solidaritätskonzerten der 60er Jahre die Namen der im Westen verurteilten Linken verlas, verschaffte er damit manchem Brief- und Paketzusteller im Westen Schwerstarbeit. Ein Strom von Päckchen mit Lebensmitteln und Leckereien landete auch bei uns zu Hause: Grüße von Schulklassen, Pioniergruppen und Privatpersonen aus der DDR, die angeblich kurz vor dem Hungertod standen.   

Ein gemeinsames Bonner Hauptziel

Vor 30 Jahren ging die DDR wirklich unter – lange Zeit unvorstellbar. Dabei war es schon ein kleines Wunder, dass sie überhaupt 40 Jahre überlebt hatte. Von Anfang an gab es in allen Bonner Regierungen ein gemeinsames Hauptziel: die Beseitigung der DDR.

Anfangs träumte man von »Befreiung« (Adenauer), später dominierte die SPD-Methode »Wandel durch Annäherung«. Gemäß der »Hallstein-Doktrin« durfte bis weit in die 1960er Jahre kein anderes Land diplomatische Beziehungen zur DDR aufnehmen. Zu den Abgestraften gehörten u.a. Präsident Nassers Ägypten und Titos Jugoslawien. In den 1950er Jahren organisierte eine »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« von Westberlin aus Sabotageakte in der DDR, finanziert u.a. von CIA und BND.

Auf wirtschaftlichem Gebiet unternahm die BRD alles, was der DDR schaden konnte. Dabei schoss man auch Eigentore: Als »Mannesmann« Rohre für eine Erdöltrasse von Sibirien in die DDR liefern wollte, stoppte Bonn den Deal, der eine Menge Arbeitsplätze gesichert hätte. Das Geschäft machten dann Firmen aus Schweden.

Vor allem aber lockte man Zigtausende Fachkräfte in den Westen: Dank Marshallplan und »Wirtschaftswunder« konnten viele am Rhein mehr verdienen als an der Spree und Dinge kaufen, die es in der ärmeren DDR gar nicht oder nur temporär gab – u.a. deshalb, weil sie lange Zeit Reparationen für die Verwüstungen der Nazi-Wehrmacht in der UdSSR zahlen musste.

Ärzte waren hier besonders begehrt. Der Liedermacher Kurt Demmler, der in Leipzig Medizin studiert hatte, erzählte mir nach einem Auftritt in Dortmund, vor dem Bau der Mauer hätten ein Drittel der Absolventen schon einen Arbeitsvertrag im Westen gehabt. Flüchtlinge, die behaupteten, politisch verfolgt worden zu sein, bekamen schnell eine gute Wohnung. Der Ruf des hoch industrialisierten Westens hatte schon im Kaiserreich viele arme Leute (vor allem Polen) zu uns ins Ruhrgebiet gelockt. Dieser Magnetismus wirkte auch noch nach 1945.

Für Propaganda gegen die DDR war dem Adenauerregime kein Trick zu schäbig. Anfang der Fünfziger tauchte in einer Bundestagssitzung ein älteres Ehepaar in schäbiger Unterwäsche auf. Nach dem Anlass des »Besuchs« befragt, gaben die Leute an, soeben aus der »Zone« gekommen zu sein, wo ihnen der Hungertod gedroht hätte. Das Presseecho war enorm – aber niemand fragte sich, wie es dieses Paar überhaupt in den gut behüteten Plenarsaal geschafft hatte. Erst später konnte man dürre Meldungen finden, dass diese Leute aus dem Westen stammten und für den Auftritt bezahlt worden waren.

Makaber verhielt sich Bonn während einer Polioepidemie Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre. Es gab keinen Impfstoff. Die DDR bot eine Million Impfeinheiten an, aber das wurde als »Propaganda« abgetan. Mit einem »Ja« hätte man ein Fake-Angebot entlarven und die DDR blamieren können. Aber Bonn ging auf »Nummer sicher«. Zudem wäre den Pharmariesen der BRD ein dickes Geschäft entgangen. Die lieferten den Impfstoff erst viele Monate (und Erkrankungsfälle) später.

Ausbluten oder Einigeln?

Schon in den Fünfzigern stellte die DDR preiswerte Ferienplätze für Kinder aus dem Westen zur Verfügung. Anfangs nahmen fast 30.000 Kinder teil. Da wurde in die Westmedien der Vorwurf lanciert, die Kinder wären zu vormilitärischer Ausbildung verleitet worden und viele wären krank geworden. Aber auch bei uns floss jetzt viel Geld an Jugendämter und -verbände, um eigene Ferienlager zu organisieren. Die Nachfrage nach DDR-Ferien schrumpfte und 1961 lieferte der Bau der Mauer dann den Vorwand, um die Aktion »Frohe Ferien für alle Kinder« ganz zu verbieten. Die westdeutschen Helfer landeten wegen »Staatsgefährdung« vor Gericht. In NRW (u.a. gegen meine Mutter) gab es noch Urteile auf »Bewährung«, die Richter in Niedersachsen schickten die Angeklagten oft direkt in den Knast.

Das Fazit all dieser und vieler anderer Ereignisse hat der Dichter Peter Schütt, als er noch links war, so ausgedrückt: »Der Westen warf so lange mit Steinen, bis die Mauer stand.«

Stimmt. Zu 80 Prozent. Über den Rest reden wir später. Jedenfalls schwankte die DDR damals wie das Schiff des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis: Ausbluten oder Einigeln? Ein tragischer Konflikt im klassischen Sinne: Was man tat, war verkehrt, verursachte Leid und lieferte den politischen Gegnern neue Propagandamunition. Aber ein politischer Odysseus, dem ein Drittes eingefallen wäre, war nicht in Sicht. Moskau drängte auf die zweite Variante. Damit erlosch Westberlin als Paradies westlicher Geheimagenten, die mit der Straßenbahn in das Revier des Feindes reisen konnten – und die NATO blieb erst einmal weit weg von der Westgrenze der UdSSR.

Fast gleichzeitig, nur Tage vorher oder danach, zündete die Sowjetunion nach langer Pause wieder eine nukleare Bombe in der Atmosphäre. Auch die anderen »Atommächte« (USA, England, Frankreich) liebten solche Tests. Keiner hat jemals gemessen (oder verraten), wieviel nuklearer Fallout damals auch über Mitteleuropa in den Wolken schwebte.

Ich war am 13. August 1961 in einem Ferienlager in Sinaia (Rumänien), zusammen mit Kindern anderer Antifaschisten aus der BRD, Belgien und Italien. Die Nachrichten über Mauer und Bombe erreichten uns auch hier. Die Post funktionierte erstaunlich gut und so kreuzten sich zwei Briefe: Mein Vater fand den Atomtest nötig, aber die DDR-Grenzsicherung schädlich. Ich war genau anderer Meinung: Atomtests waren gefährlich, aber ich hoffte, dass die DDR sich stabilisieren würde.

Erst später begriff ich, dass mein Vater schon das menschliche Leid und die Dramen im Blick hatte, die der Grenzsicherung folgen würden. In Berlin starben zwischen 1961 und 1989 ca. 130 Menschen in der verbotenen Zone. Jeder Todesfall erzeugte bei den Angehörigen Trauer und Zorn. Und jeder Tote war Munition für westliche Politiker und Medien, um die DDR als »KZ« verteufeln zu können.

Besonders schlimm das Schicksal Peter Fechters, der im August 1962 eine Stunde schreiend an der Grenze lag und verblutete. Vom Westen her kletterten etliche Leute von Westberlin aus auf die Mauer, um die DDR-Soldaten zu beschimpfen und zu bedrohen. So wagten es die Grenzer zunächst nicht, sich dem Sterbenden zu nähern. Erst wenige Tage zuvor war ein DDR-Soldat erschossen worden, der einen Fluchttunnel entdeckt hatte.

Gegen alle Vernunft

Wie verzweifelt (oder waghalsig) musste ein Mensch sein, der einen Fluchtversuch über die am schärfsten bewachte Grenze in Europa wagte?  Wenn Soldaten über eine freie Fläche hinweg vorstürmen sollen, sträubt sich alles in ihnen gegen dieses Himmelfahrtskommando. Die Nazi-Wehrmacht verabreichte ihnen deshalb häufig die Aufputschdroge Pervitin (»Netflix«-Fans als »Meth« bekannt), in der Roten Armee half Wodka. Zusammen mit der Angst, bei Befehlsverweigerung vom eigenen Vorgesetzten erschossen zu werden, rannte man los. Vorne gab es eine minimale Chance, doch nicht »erwischt« zu werden.

Welche Motive hatten also DDR-Flüchtlinge, gegen alle Vernunft diese Grenze überwinden zu wollen? Bei vielen weiß man es nicht. Bei dem jungen Maurer Peter Fechter gab es kein politisches Motiv. Nach Auskunft seiner Mutter wollte er mit einem Freund nach Westberlin, um nach einem Jahr der Trennung alte Freunde zu besuchen. Kein Pervitin, kein Wodka, keine politischen Gründe. Einfach so. Der Kollege schaffte es, aber Peter nicht.

Wer war schuldig? Der angebliche »Schießbefehl« Honeckers? Als Bundeswehrsoldat hatte ich auf Wache die gleiche Anweisung: Wenn sich jemand dem Munitionsdepot nähert, ruf ihn an, gib einen Warnschuss ab – und wenn er nicht stoppt, musst du schießen.

Die Grenze zwischen Ost und West hatte noch einen besonderen Reiz. Wer es auf spektakuläre Weise in den Westen schaffte, kam in die Zeitung. Einer schaffte es sogar mit einem Fesselballon. Eine vermutlich gut honorierte Zeitschriftenstory war der Lohn. Ein reichliches Jahr später saß der Mann sogar bei uns im Knast – wie zuvor in der DDR.

Bereits am 15. August 1961 entstand dieser kurze Film: Ein DDR-Soldat mit Stahlhelm springt über eine Stacheldrahtrolle hinweg von Ost nach West, während er seine MPi von der Schulter streift. Kurz vor dem Sprung nickt er kurz in den Westen hinüber: Dort stehen zwei Fotografen und ein Polizeibus bereit, der ihn in Sicherheit bringt. Der Film und die Fotos machten den jungen Kerl weltberühmt.

Und die jungen Kerle östlich der Grenze? Eine Garde blutdurstiger »Mauerschützen«? Auch sie fühlten sich wohl oft zwischen Skylla und Charybdis. Über 400 DDR-Grenzer sollen nach Unterlagen des MfS zwischen 1961 und 1989 Selbstmord verübt haben. Aus Liebeskummer? Gewiss nicht …

Freundlichkeit und Service

Viele Linke hofften 1961, dass die DDR endlich die Chance hätte, den Sozialismus so zu verwirklichen, wie es sich alle gewünscht hatten. Um mit Brecht zu sprechen: ein Land zu schaffen, in dem Freundlichkeit regierte. Aber die Propaganda und andere Störversuche des Westens hörten nie ganz auf. Wie andere sozialistische Länder wurden auch der DDR ständig Probleme aufgezwungen, die man nicht mit Freundlichkeit regeln konnte.

Dennoch schien es der DDR bis weit in die 70er Jahre hinein deutlich besser zu gehen. Qualitätsprodukte »Made in GDR« waren international gefragt, die Sportler sammelten mit ihren Erfolgen Pluspunkte für die DDR, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung schien sich zu verringern. 1969 hatte in Bonn die CDU abgewirtschaftet, die SPD unter Willy Brandt und Helmut Schmidt war bereit, die Ergebnisse des 2. Weltkriegs anzuerkennen: Keine Gebietsansprüche mehr gegenüber Polen, Ost-West-Gespräche zwischen führenden Politikern begannen, beide deutsche Staaten wurden in die UNO aufgenommen. Die DDR schien lebendiger und offener zu werden. Davon zeugten die Weltfestspiele 1973, die jährlichen Festivals des politischen Liedes, Kulturaustausch und eine deutlich frechere Literatur. »Die neuen Leiden des jungen W.« von Plenzdorf, Hermann Kants »Die Aula«, Texte von Christa Wolf waren auch in NRW zeitweise als Schullektüre gefragt …

In den 80ern änderte sich das Klima. Im Maschinenbau hatte der Lochstreifen als Steuerungselement ausgedient, Computer waren gefragt. Die USA verhängten ein Verbot, PC-Chips in die sozialistischen Länder zu liefern. Trotz aller Anstrengungen konnte die DDR keinen Ersatz produzieren, der mit der US-Technologie Schritt halten konnte. Die Auftragslage wurde in vielen Betrieben dünn und dünner, die Menschen besorgter und übellaunig.

So landete ich schon 1981 auf Rügen in einer Servicewüste. Vom »Nordperd« in Göhren einmal abgesehen, wo es aber damals leider nur Frühstück gab, erlebten wir nur Kellner im Schleichgang. Noch »besser«: Am Nordstrand von Göhren, gleich neben dem übervollen Campingplatz, gab es ein Restaurant, das nur abends öffnete. Das Personal im einzigen Imbiss machte Mittagspause von 12 bis 14 Uhr, während allen Leuten am Strand der Magen knurrte. Dazu hatten die beiden Eiscafés am Ort je zwei Ruhetage: das erste am Samstag und Sonntag, das zweite am Sonntag und Montag. Im Sommer. An den Alleen verfaulten die Äpfel an den Ästen, aber im HO war das Obst knapp. Es gab Zeiten, da hätten begeisterte FDJ-Brigaden für Abhilfe gesorgt.

Im »Nordperd« ereilte uns dann der lange Arm des Genossen Mielke. Abends saßen hier Gäste aus Ost und West zusammen und eine Gitarre fand sich auch. Irgendwann stimmte ich ein populäres Lied vom letzten Ostermarsch an: »Fidel Castro wird dann // Präsident der USA // am Tag der Revolution.« Allgemeines Gelächter. Aber dann fielen mir diese Zeilen ein: »Unser Honny wird dann // Papst im Petersdom …«

Schlagartig Stille. Kein Kommentar. Einer der DDR-Gäste startete schließlich ein Gespräch übers Wetter und ein anderer fand, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen. Das war’s dann. Aber ich konnte lange nicht einschlafen und fragte mich, was bei den Jungs in der Normannenstraße falsch lief.

Der Auftrag des MfS war es, echte Spione zu enttarnen und Sabotageakte wie die des KgU zu verhindern. Doch dieses Kerngeschäft haben Mielkes Leute im Laufe der Zeit wohl häufig aus dem Auge verloren. Statt dessen vergeudeten sie ihre Kraft oft mit Nebensächlichkeiten.

Skandalös war meiner Meinung nach der Umgang mit Menschen, die einen Ausreiseantrag stellten. Wieso antwortete der »Apparat« mit Schikanen, von denen sogar die Kinder der Antragsteller betroffen waren? Völlig inhuman war es, Menschen zu drängen, die Geisteshaltung des Ehepartners oder des Freundes auszuforschen. Einer meiner Griechischlehrer hätte gesagt: »Das ist einfach unanständig.« In seinem Sprachgebrauch war das eine moralische Hinrichtung.

Kein »Aber«?

Im Frühjahr 1989 brachte die DKP-Zeitung »Unsere Zeit« zwei Reportagen über das Auftauchen von Nazi-Skins in der DDR. Viele Genossen reagierten mit Empörung über diese »Diffamierung« – und die SED zeigte sich ebenfalls »not amused«. Nur wenigen Genossen im Westen war bewusst: Dieses Problem gab es seit etwa 1985 und es nahm zu. In DDR-Medien tauchte es, Berichten zufolge, höchstens verklausuliert als eine Form von Jugendkriminalität auf. Etliche Straftäter wurden zwar ermittelt und verurteilt – aber eine wirkliche politische Strategie gab es nicht. Es war offenbar eine Peinlichkeit, sich mit diesem Thema ernsthaft zu beschäftigen.

Dazu passt dies: Im Sommer soll Mielke seine mit Orden behängten Generale befragt haben, ob der DDR ein »neuer 17. Juni« drohe. Keiner hatte den Mut, dem Chef die Wahrheit über die Stimmung im Land zu gestehen. Auch im Politbüro war es wohl unfein, den Genossen mit schlechten Nachrichten die Stimmung zu verderben. Wie sagte Hermann Kant 1991 auf einer Diskussion in Bochum: »Wir hatten es verlernt, das Wörtchen ›Aber‹ zu gebrauchen.«

Den DDR-Herbst 1989 erlebte ich nur von Bochum aus, im Fernseher. Die Aufdeckung der peinlichen Wahlfälschung aus dem Frühjahr 1989, das Flüchtlingsdrama in der Prager Botschaft, die Frontreporter des NDR live auf den Montagsdemonstrationen in der »Tagesschau« – die DDR-Führung wirkte paralysiert. Honecker war krank, der Verteidigungsminister in Kuba – und dann mischte sich noch jemand ein: Unter dem Beifall des Westens hatte Gorbatschow begonnen, die Sowjetunion und den Sozialismus zu demontieren. Mit Honecker an der Spitze war die DDR ein Klotz am Bein, den er unbedingt loswerden wollte. So begann sein Flirt mit Kohl, der ihn noch ein Jahr zuvor mit Goebbels verglichen hatte, und die DDR wurde verschachert. Ohne die langjährige Schutzmacht im Osten kapitulierte die dezimierte DDR-Führung vor dem, was nun unausweichlich war. Der verwirrte Schabowski hätte fast noch eine Katastrophe ausgelöst, als er die Öffnung stotternd für »sofort« ankündigte, noch bevor die Grenztruppen informiert waren. Dank den Kommandeuren, die dafür sorgten, dass in dieser chaotischen Nacht kein Schuss fiel.   

Obwohl ich am nächsten Morgen unterrichten musste, saß ich wie viele andere Menschen die ganze Nacht vor dem Fernseher. Öffnung der Grenze für DDR-Bürger? Ja. Aber dass nun auch der gesamte Westen ohne Kontrolle Zugang zur DDR erhielt, war der letzte Nagel zu ihrem Sarg. Nun war, wie sich bald herausstellte, der Weg frei für die Aufkäufer von Land und Betrieben, für Versicherungshaie, die »Bild«-Zeitung, Neonazis und nicht zuletzt auch für Pöstchenjäger, die es im Westen nie zum Regierungsrat, Kommissariats- oder Schulleiter geschafft hätten.

Die traurigen Folgen dieser Nacht konnte ich Wochen und Monate später besichtigen. Drei Tage vor Silvester herrschte im U-Bahnhof Alexanderplatz Wildwest. Wo ich als Kind so manches Mal allein und ohne Angst in den Zug zu Freunden nach Pankow gestiegen war, randalierten jetzt diverse Jugendgangs. Und dann sah ich zwei Polizisten, noch in der alten Uniform, die einen blutig geschlagenen Kollegen nach draußen schleppten. 

1991 bin ich zwei Mal im Norden der Ex-DDR gewesen. Noch gab es Spuren der DDR-Vergangenheit – aber allzu oft sah ich ausgebrannte oder geplünderte Ferienheime. Am traurigsten fand ich einen Besuch im Krankenhaus von Plau: Mein Kumpel hatte eine Fischgräte verschluckt, die im Hals stecken geblieben war. Im Haus gab es keine Spiegel und Geräte mehr, um in den Hals zu leuchten. Es gab überhaupt nichts mehr. Und eine Krankenschwester flüsterte: »Das haben alles die Ärzte eingepackt, die sich selbstständig gemacht haben.«

Ein Jahr später war ich mit einem Deutsch-Leistungskurs in Stralsund und auf Rügen. Eine schöne Tour mit traurigen Momenten: Wir waren in Göhren, am Südstrand, wo einst Hunderte Familien in den Ferienheimen volkseigener Betriebe Ferien gemacht hatten. Auf dem Weg zu unserem Quartier sahen wir nur Verwüstung und Zerstörung. Die hölzernen Bauten waren geplündert, unbewohnbar. Nur das letzte Gebäude, 30 Meter vom Ostseeufer entfernt, war noch heil. Es gehörte dem Rügen-Fischkombinat. Die Kutter lagen bereits in Saßnitz an der Kette und wir waren der allerletzte Durchgang vor der Schließung. Wir wurden wunderbar bekocht und umhegt – und als wir wieder abfuhren, waren die fleißigen Köchinnen des Hauses arbeitslos. 

Manchmal ist es noch immer unfassbar, aber die DDR ist nicht mehr da. Die ehemaligen DDR-Bewohner können jetzt statt nach Sofia nach Madrid fliegen, Golf statt Wartburg fahren und in modernisierten Wohnungen leben, wenn sie nicht gerade in Kurzarbeit oder völlig erwerbslos sind. Und wir alle haben jetzt ein großes Deutschland, das seiner »neuen Verantwortung in der Welt« gerecht wird – vor allem mit Waffenexporten und Kriegseinsätzen der Bundeswehr. So bleibt die NVA der DDR die einzige deutsche Armee, die nie ein anderes Land überfallen hat.  

Sommer 2018, UZ-Pressefest der DKP in Dortmund. In einer Diskussion wurde Egon Krenz gefragt: »Die DDR ist ja nicht nur wegen äußerer Einwirkungen zugrunde gegangen. Welche Fehler hat denn die Führung der DDR gemacht?« Zuerst reagierte Krenz genervt, aber dann sagte er: »Wir waren zu arrogant. Wir wussten nicht mehr, was die Bevölkerung dachte. Und wir selbst waren der Überzeugung, dass alles immer so weiter ging wie bisher.«

Arroganz. Anzeichen dafür gab es schon Anfang der 70er, als die DDR in die UNO aufgenommen wurde. Brauchte ein sozialistisches Land jetzt Diplomatenjagden für versnobte Botschafter? Brauchten die Führer dieses Landes herrschaftliche Villen, um westliche Politiker zu beeindrucken? Gehörten die teuren Geschenke dieser Staatsgäste nicht eigentlich in ein besonderes Museum? Walter Ulbricht hatte sich in der Schorfheide noch mit einer Holzhütte und einem sportlichen Ruderboot begnügt.     

Haben sie es selbst »verkackt«, wie man es im Ruhrgebiet nennen würde? Sie haben Fehler gemacht, ja. Aber unter den genannten Bedingungen war die DDR am Ende wohl nicht mehr zu retten. Wie viele Anstrengungen, Hoffnungen und Träume blieben damit auf der Strecke! Als Trost bleibt uns nicht mal der Refrain eines Liedes aus dem Großen Deutschen Bauernkrieg: »Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechten’s besser aus!« Denn die Leibeigenschaft wurde in deutschen Landen erst 300 Jahre später aufgehoben.

 

Mehr von Reinhard Junge in den »Mitteilungen«: 

2018-02: 1968: Gründung der SDAJ – und was davor passierte

2016-07: KZ Sachsenhausen: »Ausbildungsstätte« für SS-Leute

2015-11: »… treu zu dienen.«