Bestandteil der Emanzipation in der DDR
Am 9. März 1972 beschloss die Volkskammer der DDR das "Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft"
"Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf, Ehe und Familie erfordert", so heißt es in der Präambel, "dass die Frau über eine Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann". Das war, in Abkehr von der bis dahin auch in der DDR geltenden indikationsbasierten Regelung, eine prinzipielle gesetzliche Neufassung in Form einer Fristenregelung. Dieser gesellschaftliche Fortschritt kam den Frauen im Osten nach 1990 ebenso abhanden, wie so manch andere emanzipatorische Errungenschaft. Liest man heute zum Beispiel in Wikipedia über das Gesetz vom 9. März 1972 nach, so scheint das Wichtigste daran gewesen zu sein, dass es die einzige Abstimmung in der Geschichte der Volkskammer war, die nicht einstimmig ausfiel, da es 14 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen gab. Tatsächlich: Was zählt schon der Inhalt, wenn die Form stimmt. Nachfolgend dokumentieren wir einen stimmigen Inhalt im Interesse der Frauen:
Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972:
Die Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf; Ehe und Familie erfordert, dass die Frau über die Schwangerschaft und deren Austragung selbst entscheiden kann. Die Verwirklichung dieses Rechts ist untrennbar mit der wachsenden Verantwortung des sozialistischen Staates und aller seiner Bürger für die ständige Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Frau, für die Förderung der Familie und der Liebe zum Kind verbunden.
Dazu beschließt die Volkskammer folgendes Gesetz:
§ 1. (1) Zur Bestimmung der Anzahl, des Zeitpunktes und der zeitlichen Aufeinanderfolge von Geburten wird der Frau zusätzlich zu den bestehenden Möglichkeiten der Empfängnisverhütung das Recht übertragen, über die Unterbrechung einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung zu entscheiden.
(2) Die Schwangere ist berechtigt, die Schwangerschaft innerhalb von 12 Wochen nach deren Beginn durch einen ärztlichen Eingriff in einer geburtshilflich-gynäkologischen Einrichtung unterbrechen zu lassen.
(3) Der Arzt, der die Unterbrechung der Schwangerschaft vornimmt, ist verpflichtet, die Frau über die medizinische Bedeutung des Eingriffs aufzuklären und über die künftige Anwendung schwangerschaftsverhütender Methoden und Mittel zu beraten.
(4) Die Unterbrechung einer Schwangerschaft ist auf Ersuchen der Schwangeren und nur nach den Bestimmungen dieses Gesetzes und der zu seiner Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften zulässig. Im übrigen gelten die §§153 bis 155 des Strafgesetzbuches vom 12. Januar 1968 (GBl. I S. 1).
§ 2. (1) Die Unterbrechung einer länger als 12 Wochen bestehenden Schwangerschaft darf nur vorgenommen werden, wenn zu erwarten ist, daß die Fortdauer der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet oder wenn andere schwerwiegende Umstände vorliegen.
(2) Die Entscheidung über die Zulässigkeit einer später als 12 Wochen nach Schwangerschaftsbeginn durchzuführenden Unterbrechung trifft eine Fachärztekommission.
§ 3. (1) Die Unterbrechung der Schwangerschaft ist unzulässig, wenn die Frau an einer Krankheit leidet, die im Zusammenhang mit dieser Unterbrechung zu schweren gesundheitsgefährdenden oder lebensbedrohenden Komplikationen führen kann.
(2) Die Unterbrechung einer Schwangerschaft ist unzulässig, wenn seit der letzten Unterbrechung weniger als 6 Monate vergangen sind. In besonderen Ausnahmefällen kann die Genehmigung von der Fachärztekommission gemäß § 2 Absatz 2 erteilt werden.
§ 4. (1) Die Vorbereitung, Durchführung und Nachbehandlung einer nach diesem Gesetz zulässigen Unterbrechung der Schwangerschaft sind arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall gleichgestellt.
(2) Die Abgabe ärztlich verordneter schwangerschaftsverhütender Mittel an sozialversicherte Frauen erfolgt unentgeltlich.
§ 5. (1) Dieses Gesetz tritt mit seiner Beschlussfassung in Kraft.
(2) Zugleich tritt § 11 des Gesetzes vom 27. September 1950 über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau (GBl. S. 1037) außer Kraft.
(3) Die Einzelheiten der Vorbereitung und Durchführung der Unterbrechung der Schwangerschaft; einschließlich der Nachbehandlung, legt der Minister für Gesundheitswesen in Durchführungsbestimmungen fest.
Das vorstehende, von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am neunten März neunzehnhundertzweiundsiebzig beschlossene Gesetz wird hiermit verkündet.
Berlin, den neunten März neunzehnhundertzweiundsiebzig
Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik, W. Ulbricht