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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Berufsverbote: 50 Jahre Schande

Reinhard Junge, Bochum

 

»Wie beurteilen Sie die Enteignungen in der DDR? – Wie stehen Sie zur Mauer? – Was halten Sie von dem Prinzip der Gewaltenteilung? – Haben Sie schon mal von der sowjetischen Botschaft Geschenke bekommen?«

Drei Herren in korrekten Anzügen löchern mich mit Fragen dieser Art und sehen mich gespannt an. Sie haben den Auftrag, mein Verhältnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu »prüfen« – genauer gesagt: Gründe für meinen Rausschmiss als Lehrer zu finden. Denn die Regierung von Nordrhein-Westfalen will mich loswerden. Der Rechtsanwalt an meiner Seite atmet tief durch. Jede Frage ist eine Falle. Wieso aber werde ausgerechnet ich hier schon zum dritten Mal durch den Wolf gedreht? Und ich bin nur einer von rund 11.000 …

Grund für diese Anhörung ist der »Radikalenerlass« der Regierung Willy Brandts von 1972 [1]. Damals sah vieles in unserem Land nach Entspannung und Erneuerung aus. Die verkrusteten Strukturen der Adenauerära waren aufgebrochen. Die Studenten-»Revolte«, die Ostermärsche für Demokratie und Abrüstung, die Strafrechtsreform des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, Willy Brandts »neue Ostpolitik« mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, ja selbst die »sexuelle Revolution« hatten das Land und das Bewusstsein vieler Menschen verändert. Links zu sein war plötzlich kein Makel mehr …

Deutscher McCarthyismus

In dieser Atmosphäre waren 1968 auch die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) und die DKP gegründet worden. Lange verfemte Kommunisten zogen in Stadträte und in die Betriebsräte von Opel, Thyssen und Mercedes ein, in rund 40 Bundeswehrkasernen bildete sich ein Arbeitskreis Demokratischer Soldaten – und als dann auch noch der Marxistische Studentenbund (MSB) Spartakus an vielen Unis großen Zulauf hatte, zogen SPD und FDP die Notbremse: Sie erfanden den »Radikalenerlass« – angeblich um den Staat vor »Verfassungsfeinden« zu schützen. Tatsächlich waren aber fast ausnahmslos Linke von den Sanktionen betroffen.  

Was dann folgte, war nach den Worten einer französischen Zeitung ein deutscher McCarthyismus. Laut Wikipedia wurden 3,5 Millionen Menschen, vor allem Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, mittels einer »Regelanfrage« beim »Verfassungsschutz« überprüft. Gegen 11.000 von ihnen gab es offizielle Ermittlungsverfahren, gegen 2.200 Menschen wurden Disziplinarverfahren durchgeführt, 1.250 wurden abgelehnt, 265 auf Lebenszeit ernannte Beamtinnen und Beamte wurden gefeuert. Sie alle boten angeblich keine »Gewähr«, jederzeit für die »Freiheitlich Demokratische Grundordnung« einzutreten. Viele von ihnen verloren deshalb ihre Jobs, ja sogar ihre Berufe auf immer. Manche Klagen auf Rehabilitation oder Schadensersatz laufen heute noch.

In den  Begründungen für Rausschmisse, Zwangsversetzungen und Karrierebrüche ging es fast nie um eine dienstliche Eignung oder Verfehlungen, sondern um die Wahrnehmung politischer Rechte. Dabei wurde Mitgliedern der VVN/BdA, der DKP oder von Splittergruppen wie der KPD/ML pauschal unterstellt, »Staatsfeinde« zu sein. Maßstab war nicht das konkrete Handeln, sondern eine potenzielle Gefahr – nach willkürlichen Beurteilungen des von alten Nazis durchsetzten »Bundesamtes  für Verfassungsschutz«.

Einer der absurdesten Fälle betraf 1980/81 den Lehrer Erhard Jöst. Er war Juso-Vorsitzender in Bad Mergentheim (Baden-Württemberg). In seiner Heiratsanzeige zitierte er zwei Zeilen aus dem Poem Deutschland, ein Wintermärchen, in dem Heinrich Heine die baldige Hochzeit zwischen der Jungfer Europa und dem Genius der Freiheit beschreibt: »Fehlt auch der Pfaffensegen dabei / Ist gültig die Ehe nicht minder.«

Diese Annonce löste in dem katholisch geprägten Städtchen einen Shitstorm aus. Brave Bürger wollten ihre Kinder nicht dem Einfluss dieses Ketzers aussetzen und forderten seine Versetzung. Das Kultusministerium (unter Leitung des Fußballfunktionärs Mayer-Vorfelder und seiner Nachfolgerin »Dr.« Schavan) forderte die Bürger sogar auf, weitere Sünden Jösts zu melden, um ihn leichter aus dem Dienst entfernen zu können. Mehrfach wurde er versetzt, u.a. als er Vorsitzender des Lehrerrats an einer Schule geworden war – aber ganz losgeworden sind sie ihn nicht.

Schlimmer traf es Beamte bei Post und Bahn, als diese Unternehmen noch staatlich waren. Postbeamte wie Axel Brück und Egon Momberger wurden ebenso entlassen wie einige Lokführer. Diese könnten ja im »Ernstfall« Munitionszüge in die DDR umlenken. Den Beamten drohte der finanzielle Ruin, denn sie bekamen im Gegensatz zu Angestellten kein Arbeitslosengeld. Als »unkündbar« geltend durften sie keine Arbeitslosenversicherung abschließen.

Befremden und Protest

Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht (Keksfabrikant und Vater von Ursula von der Leyen) verfügte in den 70er Jahren zahlreiche Rausschmisse von auf Lebenszeit beamteten Lehrer/innen. Sein Nachfolger, der spätere Bundeskanzler Schröder, stellte sie alle wieder ein. Aber das Damoklesschwert Berufsverbot schwebte auch weiter über den Geretteten: Der »Radikalenerlass« galt noch immer. Er traf sogar die Kinder ehemaliger Widerstandskämpfer, z. B. Silvia Gingold. Zur gleichen Zeit, als Frankreichs Präsident Mitterand ihrem Vater Peter einen Orden für seinen Kampf in den Reihen der Résistance verlieh, wurde sie auf Jahre aus dem Schuldienst verbannt und wird noch heute überwacht. Gerade die Geste Mitterands verdeutlichte das Befremden in vielen Ländern, wo kommunistische Lehrer etwas Normales waren. »Le Berufsverbot« wurde Teil des französischen Sprachschatzes … [2]

Das erste Berufsverbot gegen ein Mitglied des MSB Spartakus in Bochum traf die Pfarrerstochter Jutta Kolkenbrock-Netz. Sie gab als Studentin an einem evangelischen Studienkolleg Deutschunterricht für ausländische Studenten. Die Leitung des Hauses wurde dazu erpresst, Jutta zu entlassen. Im Weigerungsfall werde man dem Institut alle öffentlichen Zuschüsse sperren. 

Kommunistenjäger gab es auch im SPD-geführten Bochumer Rathaus. So weigerte sich Stadtdirektor Jahofer beharrlich, den Anwärter Werner Schmitz vor dem 27. Geburtstag auf Lebenszeit zu berufen – weil er DKP-Mitglied war. Gemäß dem Beamtenrecht verlor Schmitz deshalb automatisch den Job. Als »Dank« schrieb er danach zwei bitter-satirische Kriminalromane, die im Rathaus spielten, und landete später bei einer Hamburger Illustrierten, wo man ihm sanft zu verstehen gab, dass man seinen Werdegang gut kenne ...

Kritik an der vernachlässigten Jugendarbeit und dem Betriebsklima im Rathaus wurde auch dem parteilosen Sozialarbeiter Günter Nierstenhöfer zum Verhängnis: fristlose Kündigung. So kamen allein in der Verwaltung rund zehn angedrohte oder vollzogene Berufsverbote zusammen. Als mit großem Brimborium eine 100 Jahre alte riesige Glocke vor dem Rathaus enthüllt wurde, gab es deshalb eine Überraschung: Auf dem nackten Stahl prangte ein Plakat mit der Aufschrift: »Weg mit den Berufsverboten!«

Keine Räumung

Unter der Lehrkräften in der Stadt waren noch mehr Menschen  betroffen. Einer der ersten war Bernd Leimann, der nach dem Referendariat nicht übernommen wurde. Es folgten das Ehepaar Schössler, Marlies Lange, Peter Hütter, Brigitta Krempel – mehr als 15. Die Gründe? Besuche von Veranstaltungen der Marxistischen Arbeiterbildung und der DKP, Funktionen im MSB Spartakus oder in der KPD/ML (drei Fälle [3]). Als Gründe für die Sanktionen wurden auch Proteste gegen einen Autobahnbau durch Wohngebiete genannt – und einer Genossin kreidete man sogar den Besuch von »Tanzfesten der DKP« an. Das Spitzelsystem der »Staatsschützer« funktionierte.

1978 fand in der damaligen Ruhrlandhalle eine Großveranstaltung der SPD zum 100. Jahrestag des Sozialistengesetzes statt. NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn feierte den erfolgreichen Kampf seiner Partei gegen Bismarcks Versammlungs- und Berufsverbote. Kaum hatte er seine Rede begonnen, tauchten zehn oder 12 Frauen und Männer vor dem Podium auf. Wir trugen Mundbinden mit dem Aufdruck »Berufsverbot« und entfalteten ein Banner mit der Forderung, die aktuellen Berufsverbote zu stoppen. Raunen in den vorderen Reihen, wo man die Worte auf den Tüchern lesen konnte. Schon stand der erste Saalordner auf, aber Kultusminister Girgensohn, der die Berufsverbote nominell verantworten musste, stoppte ihn mit einer Handbewegung. Eine Räumung hätte den Skandal noch vergrößert.

Viele Berufsverbote gegen Lehramtsanwärter regelten sich in NRW juristisch: Wir bewarben uns nicht mehr auf eine Beamten-, sondern eine Angestelltenstelle. Damit waren nicht mehr die regierungstreuen Verwaltungs-, sondern die Arbeitsgerichte zuständig. Dort zählte nicht das Gesangbuch, sondern die berufliche Befähigung – und das Vorhandensein freier Stellen. Darauf musste man bisweilen auch wieder warten.

Das ergab weitere nervliche Belastungen und finanzielle Sorgen. Und manche Genoss/innen mussten sich noch die Vorhaltungen ihrer Eltern anhören: »Haben wir dir nicht gesagt, du sollst die Finger von der Politik lassen?« Die meisten von uns blieben stark, aber es gab auch einige, die den Belastungen nicht mehr standhalten konnten, austraten oder in die SPD gingen. Ich schreibe das ohne Vorwurf – nicht alle hatten solch eine Rückendeckung wie ich.  

Mein Berufsverbot begann mit einer Beleidigungsklage von Neonazis, deren politisch aktive Söhne ich öffentlich »Nazikinder« genannt hatte. Die Bochumer Staatsanwaltschaft machte daraus eine Strafsache. Ich wurde in 1. Instanz zu einer Geldstrafe von 80 DM verurteilt. Die Schulaufsicht in Münster/W nahm das noch laufende Verfahren zum Anlass für ein Beschäftigungsverbot. 

Nazis sorgen dafür, dass der Sohn eines KZ-Häftlings Berufsverbot bekommt? Zwei Bochumer SPD-Leuten, dem Schulleiter Lehmann und dem Ex-Minister Zöpel, war dieser Umstand viel zu ärgerlich. Als ich vor dem Arbeitsgericht gewann, war meine 80-DM-Strafe längst kassiert. Udo Lehmann hatte eine Stelle für mich frei und ich begann. Erledigt? Nein. Die Landesregierung zog zur Widerklage vor das Landesarbeitsgericht in Hamm. Von da aus ging es zum Bundesarbeitsgericht in Kassel und zurück nach Hamm, wo man eine salomonische Lösung präsentierte.

Ende? Nein.

Im Gegensatz zu vielen anderen hatte ich mich bei den Gesinnungsprüfern in Düsseldorf nie zu meiner DKP-Mitgliedschaft geäußert. Das sei meine Privatsache. Das LAG in Hamm meinte nun, der ansonsten untadelige Lehrer müsse gegenüber seinem Arbeitgeber auch in Sachen Parteimitgliedschaft Vertrauen haben. Dann sei alles in Ordnung.

Nun saß ich erneut im Ministerium. Fünf Jahre Stress lagen hinter mir. Es gab lange Unterschriftenlisten für mich: Lehrer, Schüler, Eltern, Kollegen, Proteste in Frankreich und Holland. Zwei KZ-Kameraden meines Vaters (Minister in NATO-Staaten) protestierten gegen das Berufsverbot. Auch der Fabrikant und Sportmäzen Steilmann (CDU), dessen Töchter ich unterrichtet hatte, bat Lehmann, sich in seinem Namen bei der SPD-Regierung für mich zu verwenden. Und der Rechtsschutz durch die Lehrergewerkschaft GEW hatte mich auch mutig gemacht.

Zuversichtlich packte ich aus und erzählte im Detail, was ich Böses getan hatte: bei Kinderfesten geholfen und auf DKP-Weihnachtsfeiern den Nikolaus gespielt. »Ach, das konnten wir doch nicht wissen. Da waren Sie ja verkleidet!«

Und dann kamen wieder die eingangs zitierten Fragen. Ein Slalom, bei dem jedes falsche Wort das Rennen beendete. Und am Ende wollten sie erneut wissen, ob ich bereit sei, »unsere freiheitlich demokratische Grundordnung …«

Jetzt half nur noch der Holzhammer. Ich schaute mir die Herren nacheinander an und fragte selbst: »Wer von Ihnen hat denn überhaupt gedient?«

Fassungslose Blicke, Schweigen. Und meine nächsten Sätze mögen mir alle Kriegsdienstverweigerer verzeihen: »Verweigert? Sich gedrückt? Ich bin 18 Monate durch die Scheiße gekrochen und hätte unser Land gegen jeden Aggressor verteidigt. Ich hätte auch für Sie mein Leben gegeben. Und Sie fragen mich …«

Der Vorsitzende der Runde klappte seine Akte zu und entließ uns mit einem leisen Lächeln. Gewonnen.

Draußen stöhnte mein Rechtsanwalt, ein FDP-Mann: »Noch so eine Anhörung und ich bekomme Magengeschwüre. …«

Ende? Nein. Jetzt wollte mich der Landespersonalrat der Gymnasiallehrer nicht. Hier hatte nicht die Gewerkschaft die Mehrheit, sondern der Philologenverband, Teil des Deutschen Beamtenbundes. Der Chef, ein Studiendirektor aus Bochum und knochenharter Linkenhasser, hatte wohl meine Akte studiert und soll gesagt haben:  »Mit diesen Fragen können Sie Junge nicht überführen. Wenn es noch eine Anhörung gibt, schreibe ich Ihnen die richtigen Fragen auf.«

Das passierte nicht. Als dieser Mann bei einer Sitzung fehlte, bekam das Ministerium das Ja des Personalrats. Ich war durch. Die Arbeitsgerichte blieben zumeist auf Kurs. Im Herbst 1990 rief das Schulministerium sogar im DKP-Parteivorstand an, wo einige Berufsverbots-Betroffene gegen karges Salär arbeiteten: »Haben Sie noch Lust auf Schule? Sie können morgen anfangen!«

Wollten sie die zerbröselnde DKP lahmlegen? Es schien so. Und für die ganz harten Antikommunisten gab es ein neues Arbeitsfeld: Sie gingen mit der Sense auf die Lehrerschaft der DDR los. Noch immer wird gespitzelt, noch immer geht es für viele derer, die noch leben, um Rehabilitierung und Schadensersatz. Das Berufsverbot ist noch nicht tot, zumal die Ampelkoalition in Berlin offenbar an dem Radikalenerlass nichts ändern will. Es gibt noch viel zu tun.

 

Anmerkungen:

[1]  Ergangen am 18. Februar 1972 lt. Veröffentlichung im Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. Februar 1972 (s. www.1000dokumente.de/index.html) – Red.

[2]  Den wahren Umfang dieser Repressionen verdeutlicht ein umfangreiches und technisch perfektes Internet-Portal mit zahlreichen Quellenangaben: www.Berufsverbote.de. Angelegt und ständig ergänzt wird es von Lothar Letsche aus Baden-Württemberg – selbst vom Berufsverbot betroffen. Aber Vorsicht: Dieses Portal bietet Lektüre für viele Stunden.

[3]  Unser Mitgefühl für KPD/ML-Leute war damals sehr verhalten. Wegen Ihrer meist gehässigen Kritik an der DKP-Politik sahen wir sie nicht als Genossen an. Heute denke ich anders. Wir hätten auch gegenüber Klaus Dillmann, Norbert Oswald, Thomas Schmidt solidarisch sein sollen.

 

Mehr von Reinhard Junge in den »Mitteilungen«: 

2020-10: »… bis die Mauer stand!«

2018-02: 1968: Gründung der SDAJ – und was davor passierte

2016-07: KZ Sachsenhausen: »Ausbildungsstätte« für SS-Leute