Beitritt oder was?
Prof. Dr. Erich Buchholz, Berlin
Wie kam es denn eigentlich zum Beitritt? Persönliche Überlegungen eines Juristen
I.
Am 3. Oktober 1990 wurde der Beitritt der DDR "zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" gemäß Art. 23 GG vollzogen.
Dieser Artikel lautete in seiner ursprünglichen, im Jahre 1990 noch geltenden Fassung nach Aufzählung der Länder, in denen das Grundgesetz damals zunächst galt, im ersten Satz, dem ein zweiter hier maßgeblicher Satz folgt:
"In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen."
An welche "anderen Teile Deutschlands" mögen die Väter des Grundgesetzes bei seiner Inkraftsetzung am 23. Mai 1949 [1] gedacht haben?
Wie sich in der Folgezeit erwies, war dieser Art. 23 insbesondere für den damals noch offenen, aber anvisierten Beitritt des Saarlandes zur BRD vorgesehen.
Was die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten betraf, so war dafür im Sinne der Präambel im Art. 146 eine spezielle Bestimmung geschaffen worden.
In der Präambel war ausdrücklich auf "jene Deutschen" verwiesen worden, "denen" – nach dem Wortlaut der sachlich falschen Präambel – "mitzuwirken versagt" gewesen sei. [2] Dann folgt in der Präambel der hier maßgebliche Satz:
"Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."
In völliger Übereinstimmung mit diesem Wortlaut der - formell nicht verbindlichen – Präambel steht am Ende des Grundgesetzes im Art. 146 mit der Überschrift "Geltungsbereichs [3] des Grundgesetzes" zu lesen:
"Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Jeder, der in der Lage ist, den Wortlaut des Grundgesetzes in der Fassung von 1949 wie auch noch in der Fassung von 1990 zu lesen, dürfte, auch ohne besondere juristische Ausbildung, erkennen, daß die Väter des Grundgesetzes – darunter nicht unmaßgeblich Adenauer – eine demokratische Vorstellung vom "Wiederherstellen der Einheit Deutschlands" hatten, daß das deutsche Volk, die Deutschen in Ost und West, selbst in freier Entscheidung – also in einer Volksabstimmung – über die verfassungsmäßige Form dieses einheitlichen Deutschlands beschließen sollten.
Das Grundgesetz war von vornherein auf diesen angestrebten demokratischen Vorgang ausgerichtet.
Demgemäß war es – bis zu diesem Zeitpunkt – nur als Provisorium gedacht und verfaßt worden.
Damit ist eindeutig und klar, daß das GG für den Weg zur Einheit Deutschlands die (verfassungsrechtliche) Spezialbestimmung des Art. 146 GG vorgesehen und vorgegeben hatte.
Die Herbeiführung einer – wie auch immer gearteten – Einheit oder Wiedervereinigung über einen Beitritt gem. Art. 23 GG war vom Grundgesetz nicht gedeckt.
Für die seitens der BRD über Jahrzehnte stets – wie auch immer – anvisierte Wiedervereinigung war ausdrücklich Art. 146 verfaßt und vorgesehen worden.
Mehr noch:
Als Jurist habe ich zu betonen, daß dieser Art. 146 die Spezialbestimmung des GG für den Fall der Wiedervereinigung ist.
Spezialbestimmungen gehen aber – was auch Kanzler Kohl als Jurist gut wußte – stets anderen allgemeiner gehaltenen Vorschriften, so dem Art. 23 vor. [4]
Nach dem geltenden Grundgesetz gab es 1990 keinen anderen verfassungsmäßigen Weg zur Einheit Deutschlands bzw. zu seiner Wiedervereinigung!
Der Beitritt der DDR "zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" gemäß Art. 23 GG war, ist und bleibt grundgesetz-, verfassungswidrig.
Das war auch dem Juristen Kohl bewußt.
Ebendeshalb verbot er sämtliche maßgebliche Diskussion zu dieser Frage.
Statt einer gesamtdeutschen Diskussion zur Gestaltung des Weges zur Einheit Deutschlands ließ er durch sein Presse- und Informationsamt im März 1990 im Sinne einer Basta-Erklärung definitiv verlautbaren:
"Das Verfahren nach Artikel 23 des Grundgesetzes ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen in der DDR … ein rascher Weg, da keine neue Verfassung auszuarbeiten ist, … ist ein innen-, außenpolitisch sicherer und zuverlässiger Weg, … ist zugleich ein flexibler Weg." [5]
Auf die politischen Gründe – oder Hintergründe –, warum sich Kohl zu einem dermaßen offensichtlich verfassungs- und grundgesetzwidrigen Weg entschloß, kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden.
Nach der vorstehend erläuterten Rechts- und Verfassungsrechtslage bezüglich des Weges zur Einheit Deutschlands kann man nur dem westdeutschen Verfassungsrechtler Helmut Ridder zustimmen, der erklärte:
Die Einheit Deutschlands mag 1990 faktisch zu Stande gebracht worden sein, de jure, juristisch wurde sie nicht vollzogen! – Denn dies hätte nach Art. 146 erfolgt sein müssen. Die rechtmäßige, verfassungsgemäße Herstellung der Einheit Deutschlands steht somit noch aus!
Das deutsche Volk, die Deutschen in Ost und West, haben nach wie vor einen noch nicht eingelösten Rechtsanspruch auf eine demokratische Herbeiführung der Einheit Deutschlands! [6]
Übrigens waren sich Kohl und seine Anhänger und Gefolgsleute durchaus der Untragbarkeit der von ihnen durchgesetzten Einheit Deutschlands bewußt. Denn im neu gefaßten Art. 146 (mit der traditionellen Überschrift "Geltung und Geltungsdauer des Grundgesetzes") steht nach wie vor:
"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands [7] für das gesamte deutsche Volk gilt [8], verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist." [9]
Diese – fast gleich lautende verfassungsrechtliche Grundaussage des alten und des neuen Art. 146 bestätigt, daß das Grundgesetz, das nunmehr für das gesamte deutsche Volk gilt, nach wie vor ein Provisorium ist.
Wie lange müssen wir – die Alt-Bundesbürger und die neuen aus dem Beitrittsgebiet – noch unter einem Provisorium leben?
Kehren wir zurück zum Begriff Beitritt. Der Rechtsbegriff "Beitritt" ist auch in anderen Zusammenhängen durchaus üblich. Für gewöhnlich tritt eine natürliche oder juristische Person/Personenvereinigung einem Verein, einer Vereinigung oder einem anderen Zusammenschluß bei. Ein solcher Vorgang ist nicht nur vereinsrechtlich relevant; auch in der Wirtschaft kommt ihm erhebliche Bedeutung zu. Ein solcher Vorgang erfordert eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung des "Beitrittskandidaten" gegenüber dem Verein/der Vereinigung, daß er diesem/dieser beitreten, Mitglied werden möchte. Gemäß ihrer Satzung (Statut, Verfassung) befindet die Vereinigung in freier Entscheidung darüber, ob dem Begehren entsprochen werden kann. Der Kandidat hat weiter nichts zu sagen, insbesondere keine Bedingungen für den Betritt zu stellen. Er hat nach allgemeiner Rechtslage die innere Ordnung/Verfassung der Vereinigung, deren Mitglied er werden möchte, bedingungslos zu akzeptieren. Das ist das (juristische) Wesen eines Beitritts! In dem uns hier interessierenden Fall erklärte die DDR durch ihr Verfassungsorgan, die Volkskammer, gegenüber den verfassungsmäßigen Organen der BRD das Begehren des Beitritts. Auf Voraussetzungen oder Bedingungen für den Beitritt hatte sie keinen Einfluß. Die BRD nahm das Gesuch an, nahm die DDR zu ihren Bedingungen als "Mitglied" auf. Die DDR hatte bei diesem Vorgang nichts zu melden, sie mußte sich den Bedingungen der BRD zu unterwerfen!
Wichtig ist folgendes:
Bei diesem Vorgang des Beitritts hat der Beitretende, vorliegend die DDR, nur die Möglichkeit, dieses Begehren kundzutun (oder es zu unterlassen).
Im Übrigen ist die beitretende DDR völlig davon abhängig, ob, gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen oder Bedingungen, die BRD die beitrittswillige DDR aufzunehmen bereit ist.
Im Klartext:
Der Beitretende, so hier die DDR, hat bei diesem Vorgang nichts zu melden!
Er ist – nach der allgemeinen Rechtslage –, wenn er beitreten möchte, voll und ganz vom Willen dessen, der Organisation, hier der BRD abhängig, dem/der er beitreten möchte!
Das ist das (juristische) Wesen eines Beitritts!
Erinnern wir uns jener Zeit des Jahres 1990!
Der gesamte auf den Beitritt am 3. Oktober 1990 gerichtet Prozeß vollzog sich genau in diesem Sinne:
Die DDR hatte bei diesem Vorgang nichts zu melden!
Alles wurde von Bonn aus vorgegeben und diktiert! [10]
Daß bei diesem Vorgang die Bundesregierung das entscheidende Wort hatte, ist von dortiger Seite her niemals bestritten worden [11]; es dürfte unzweifelhaft sein und keiner näheren Erläuterung bedürfen.
Dennoch begnügte sich die BRD nicht mit der Entgegennahme des Beitrittsbegehrens der DDR.
Als Rechtsstaat bevorzugte [12] sie die Herbeiführung des Beitritts über zwei "Staatsverträge".
Diese beiden, ausdrücklich auch als solche Staatsverträge bezeichneten, Verträge waren ihrer juristischen Form nach Verträge zwischen zwei (mehr oder weniger) souveränen Staaten, Völkerrechtssubjekten, der DDR [13] und der BRD.
Hier soll genügen, daß die DDR völkerrechtlich unbestritten ein Völkerrechtssubjekt war und als solches – abstrakt – die Möglichkeit hatte, das Begehr eines Beitritts zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD kundzutun.
So waren die allgemeinen völker- und staatsrechtlichen Voraussetzungen für den Abschuß zweier Staatsverträge zwischen den beiden deutschen Staaten gegeben.
Staatsverträge, also völkerrechtliche, insbesondere bilaterale völkerrechtliche Verträge zwischen zwei Staaten sind normalerweise – wie auch die meisten und wichtigsten Verträge des innerstaatlichen Rechts – gegenseitige Verträge, in denen (zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles) wechselseitig korrespondierende Rechte und Pflichten vereinbart werden.
Jeder von beiden Staaten übernimmt bestimmte Pflichten und erlangt dafür entsprechende Rechte.
Betrachten wir die beiden Staatsverträge näher:
Der Wortlaut des ersten Staatsvertrages samt Anlagen liegt (nach Bestätigung durch die Parlamente der beiden deutschen Staaten) vor; er ist (im Gesetzblatt der DDR, wie dem der BRD) nachlesbar.
Es läßt sich folgendes unbestreitbar feststellen:
Mit dem Abschluß dieses "Vertrages über die Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion" gab die DDR als erstes ihre Währungshoheit (in ihrem Staatsgebiet) auf.
Die "Mark der DDR" verlor ihre Gültigkeit und wurde wertlos.
Bekanntlich ist die Währungshoheit [14] ein wesentliches Merkmal eines eigenständigen Staates als Völkerrechtssubjekt – nach den bekannten Merkmalen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt.
Wer seine Währungshoheit – aus welchen Gründen und Motiven auch immer – aufgibt, gibt sich damit zumeist auch als Staat auf.
Somit bedeutete bereits dieser erste Staatsvertrag das Ende der DDR – wenngleich formell um einige Wochen hinausgezögert. [15]
Demgegenüber erlangte die Bundesrepublik die Befugnis, ihrer Währungshoheit auf das Staatsgebiet der DDR zu erstrecken, was die Befugnis zu entsprechenden Emissionen von DM und schließlich auch den Umtausch von DDR-Währung in "Westgeld" per 1. Juli 1990 einschloß.
Zweitens war in dem Vertrag "vereinbart" worden, daß die DDR eine Reihe von Rechtsvorschriften ihrer Rechtsordnung verändert, aufhebt sowie eine Reihe von Rechtsvorschriften des bundesdeutschen Rechts übernimmt und als DDR-Gesetze herausgibt.
Weiteres Substantielles enthält dieser Erste Staatsvertrag nicht.
Offensichtlich – und dazu bedarf es keiner besonderen juristischen Ausbildung – kann von einem gegenseitigen zweiseitigen Vertrag, einem Vertrag, mit dem von beiden Seiten Pflichten übernommen werden und beide Seiten Rechte erlangen, keine Rede sein.
Auch bei wiederholtem Durcharbeiten dieses Vertrages vermag ich nicht zu erkennen, welche Rechte die DDR als Staat und Völkerrechtssubjekt durch diesen Vertrag erlangte; ich vermag nur Pflichten der DDR zu erkennen. Demgegenüber erlangte die BRD umfassende Rechte, Rechtsansprüche, so auf Erfüllung der Pflichten der DDR, namentlich zur Gesetzgebung. [16]
War dies überhaupt ein "richtiger" Vertrag oder nicht eher ein in die juristische Forme eines Vertrages gebrachtes Diktat, dem sich die DDR – aufgrund der entstandenen Lage – gegenüber der BRD zu unterworfen hatte?
Nach all dem dürfte es nicht falsch sein, davon zu sprechen, daß die DDR – der Sache nach – schon ab dem 1. Juli 1990 nur noch auf dem Papier stand. [17]
Der zweite Staatsvertrag, der so bezeichnete "Vertrag" "über die Herstellung der Einheit Deutschlands", der "Einigungsvertrag" (EV), war die formelle Grundlage für den Vollzug des Beitritts "zum Geltungsbereich des Grundgesetzes".
Welche Rechte und Pflichten sieht bzw. sah dieser Vertrag für die beiden deutschen Staaten, die Vertragspartner, vor?
Nach Art. 1 dieses Vertrages werden die namentlich aufgelisteten fünf ostdeutschen Länder "mit dem Wirksamwerden des Beitritts" "Länder der Bundesrepublik Deutschland." [18]
Im Art. 3 wurde festgelegt, daß das GG – in seiner aktuellen Fassung – in den vorgenannten Gebieten, also im Staatsgebiet der DDR mit dem vorbezeichneten Datum in Kraft tritt.
Im Art. 8 – mit der bemerkenswerten Überschrift "Überleitung von Bundesrecht" – wurde festgelegt:
"Mit dem Wirksamwerden des Beitritts tritt in dem im Art. 3 genannten Gebiet Bundesrecht in Kraft."
Das bedeutete die Ersteckung des Rechts der BRD, ihres Rechts- und Justizsystems auf das Staatsgebiet der DDR. [19]
Die Hauptpflicht zu Lasten der DDR bestand darin, sich aufzugeben sowie ihre 1968 durch Volksentscheid angenommene Verfassung und ihr gesamtes in Jahrzehnten geschaffenes und gewachsenes, ihren Bürgern vertrautes Recht mit einem entsprechenden Justizsystem formell außer Kraft zu setzen.
Andere substantielle Bestimmungen finden sich in diesem Vertrag nicht.
Die per 3. Oktober 1990 beseitigte DDR konnte keinerlei Rechte mehr haben. Sie existierte völkerrechtlich und auch faktisch nicht mehr.
Sie war endgültig verschieden.
Was dieser Verlust der Rechtsordnung der DDR und die Überbürdung eines ihnen fremden Rechts- und Justizsystems für die Bürger der DDR bedeutete, ist in anderem Zusammenhang nachlesbar. [20]
Hier muß festgehalten werden:
Der Beitritt der DDR nach Art. 23 entspricht nicht dem Grundgesetz; er ist verfassungswidrig.
Zur Vertuschung dieses grundgesetzwidrigen Vorgangs wurden zwei als Staatsverträge deklarierte Diktate Bonns über die DDR durchgesetzt.
Die Einheit Deutschlands wurde von Kanzler Kohl und seinen Hilfskräften ebenso zutiefst undemokratisch durchgesetzt wie seinerzeit das Grundgesetz in Kraft gesetzt wurde.
Der im Art. 146 GG dafür verbindlich und keine Abweichung davon duldende einzige verfassungsgemäße Weg wurde den Deutschen in Ost und West rechtswidrig vorenthalten.
Das Recht der Deutschen auf eine demokratisch zustande kommende Verfassung, wie sie im aktuellen Art. 146 verbrieft ist, ist noch uneingelöst.
Es zur Geltung zu bringen und durchzusetzen ist und bleibt ein Auftrag an alle demokratischen Kräfte dieser Republik.
Was hier geschah war nicht einmal ein Beitritt!
Es war ein Anschluß – allerdings anders als der Österreichs im Jahre 1938. [21]
Da dieses Unternehmen nicht wie damals mit einem Einmarsch deutscher Truppen erfolgte, sondern in juristischer Form, über zweier "Staatsverträge", bezeichne ich diesen Vorgang als "juristische Annexion." [22]
II.
Wie kam es zum Beitritt?
Hierzu möchte ich einige persönliche Überlegungen aus der Sicht eines Juristen kundtun. Dominante Politiker und Medien verweisen gern darauf, daß "das Volk der DDR", ihre Bürger die "eigentlichen Helden der friedlichen Revolution" [23] gewesen seien und daher ihnen die Wiedervereinigung zu danken sei.
Meine politische und Lebenserfahrung lehrt mich, außerordentlich skeptisch zu sein, wenn Herrschende, früher oder jetzt Herrschende, "das Volk" feiern, es loben.
Schieben sie nicht das Volk als dasjenige vor, das ihre Geschäfte besorgte, das gegebenenfalls auch für sie "die Kastanien aus dem Feuer zu holen" hatte?
Erinnern wir uns an Tatsachen:
Im Herbst 1989 waren nicht nur in Leipzig bei den Montagsdemonstrationen zahlreiche Bürger der DDR auf die Straße gegangen; sie hatten ihren Unmut mit der Situation in der DDR insbesondere mit ihrer politischen Führung klar und deutlich geäußert.
Der Höhepunkt dieser Demonstrationen war die vornehmlich von Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern vorbereitete Kundgebung unter Teilnahme von einer halben Million Bürgern am 4. 11. 1983 auf dem Alexanderplatz.
Das war es!!
Denn nach diesem Datum wiederholten sich derartige Demonstrationen und Kundgebungen nicht. [24]
Wofür waren all diese Bürger auf die Straße gegangen?
Wollten sie eine Beseitigung der DDR? Nein.
Wollten sie sich schnurstracks dem Westen, der BRD, anschließen? Nein!
Die bestimmende Motivation jener vielen 100.000 DDR-Bürger im Herbst 1989 bestand darin, eine bessere DDR zu haben, zu erringen, gegebenenfalls zu erkämpfen. [25]
Das mag inzwischen in Vergessenheit geraten sein.
Aber eine nicht nur für den Juristen besonders faßbare Frucht dieser Massenbewegung und deren Intentionen ist der als Text erhalten gebliebene und bleibende "Entwurf einer Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" des "Runden Tisches".
Dieser zu Unrecht in Vergessenheit geratene Entwurf verdient – auch wenn er niemals Verfassung wurde – eine nähere Betrachtung und Würdigung, die hier nicht geleistet werden kann. [26]
Hier ist wesentlich, daß dieser Entwurf im April 1990 von der letzten Volkskammer entsprechend behandelt werden und am 17. Juni 1990 durch einen Volksentscheid angenommen werden sollte.
Auch dieser Verfassungsentwurf des Runden Tisches vom Frühjahr 1990 hatte – wie man nachlesen kann! – nicht einen alsbaldigen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes im Visier.
Er war auf eine eigenständige Entwicklung einer besseren DDR gerichtet – auch als eine Voraussetzung für eine demokratische Wiedervereinigung Deutschlands gemäß Art. 146 GG. [27]
Wir können also festhalten:
Die demokratischen Kräfte in der DDR und die deutliche Massenbewegung des Jahres 1989, die dann auch in Aktivitäten des Runden Tisches einflossen, waren nicht auf einen umgehenden "Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" gerichtet.
Im Vordergrund stand eigenständige Weiterentwicklung einer besseren DDR, die als eine essentielle Voraussetzung für eine demokratische, durch Volksentscheid bzw. durch freie Entscheidung der Deutschen in Ost und West gegründete Wiedervereinigung Deutschland im Sinne des Art. 146 GG angesehen wurde.
Als am 9. November 1989 aus hier nicht weiter zu untersuchenden Gründen nach einer Äußerung von Schabowski auf der bereits erwähnten Pressekonferenz Tausende von DDR-Bürger – von den Grenzbediensteten unbehelligt – nach West-Berlin gingen, was später als "Fall der Mauer" gefeiert wird, hatte sich die politische Lage in der DDR grundlegend verändert.
Für jene DDR-Bürger, die zuvor vor allem die fehlende "Reisefreiheit" beklagt hatten, war dieses Thema faktisch erledigt.
Für sie blieb nur noch interessant, mit welchen finanziellen Möglichkeiten sie nunmehr auch in westliche Länder, so besonders in die BRD, reisen könnten. [28]
Durch diese neue Lage rückte nunmehr das Problem in den Vordergrund, daß die Währung der DDR nicht konvertierbar war. Vielen Bürger ging es nunmehr vornehmlich um die Erlangung von DM. [29]
Indessen war dieser Wunsch nach DM – was hier zu betonen ist – nicht ohne weiteres mit dem dringenden Wunsch nach möglichst raschem "Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" verbunden oder identisch!
Die Bundesregierung nutzte diesen – bei vielen Bürgern nachvollziehbaren – Wunsch geschickt für ihre Zwecke der Durchsetzung des Beitritts aus.
Festzuhalten ist auch, daß die Unzufriedenheit zahlreicher und immer zahlreicher werdenden Bürger der DDR mit der politischen Führung der DDR angesichts der inneren Instabilität der DDR dazu beitrug, die DDR insgesamt, insbesondere ihre Staatsmacht zu destabilisieren.
Solches war allgemein und zunehmend überdeutlich zu spüren. [30]
Nach dem 9. 11. 1989 wurde mit dem "Fall der Mauer" nicht nur für DDR-Bürger ein Ausreisen faktisch unschwer möglich; es gelangten nun auch reaktionäre, nicht zuletzt faschistische Kräfte aus der BRD in die DDR.
Hatten sich die Maßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze vom 13. August 1961 über Jahrzehnte durchaus auch als "antifaschistischer Schutzwall", als eine wirksame Barriere gegen ein Eindringen faschistischer Kräfte bewiesen, so konnten diese jetzt ohne Schwierigkeiten in die DDR eindringen und hier ihre DDR-feindliche und faschistische Tätigkeit entfalten.
Angesichts dieser unübersehbaren Destabilisierung der DDR erkannten die DDR-feindlichen Hauptkräfte um Kohl, daß es – nachdem ihnen Gorbatschows insoweit freie Hand gegeben hatte – nicht mehr erforderlich war, mit der Noch-DDR bzw. ihrer Regierung, so nunmehr mit der Modrow-Regierung, über Fragen der Zusammenarbeit, einer Konföderation oder andere beider Seiten interessierende Fragen ernsthaft zu verhandeln.
Verhandeln kann man ernsthaft immer nur mit einem halbwegs gleichstarken Partner.
Mit einem schwachen, am Boden liegenden Partner führt niemand mehr ernst gemeinte Verhandlungen.
Kohl und seine Mannschaft befanden sich deshalb in einer für sie beispiellos günstigen Lage:
Die Regierung der DDR hatte längst das Gesetz des Handelns aus der Hand geben müssen. Kohl brauchte nur abzuwarten.
Die Zeit arbeitete für ihn und seine Politik! Er nahm deshalb Kurs darauf, die DDR zu schlucken, den "Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" zu inszenieren.
Dazu erfand Kohl (oder einer seiner Mitstreiter) die "Allianz für Deutschland" als eine spezifische politische Konstellation von DDR-feindlichen Kräften, innerhalb derer die CDU und die CSU eine maßgebliche Rolle spielten. [31]
Als dann die ohnehin bevorstehenden Wahlen zur Volkskammer auf den 18. März 1990 ausgeschrieben wurden, wurde von Kohl und seiner Mannschaft in einer beispiellosen, in der Geschichte einzigartigen Einflußnahme auf innere Angelegenheiten eines anderen Staates, der DDR, eine "Wahlschlacht" geführt, die in Bezug auf alles, was sozialistisch in der DDR war, zu einer unvergleichlichen Schlammschlacht ausartete. [32]
Diese – von entsprechenden Kräften als die ersten freien Wahlen in der DDR gefeierten Wahlen erwiesen sich aus Kohls Sicht als der Schlüssel für den direkten Weg zum "Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes".
Nicht zufällig ließ Kohl gerade in diesen Tagen – wie bereits erwähnt – durch sein Presse- und Informationsamt diesen Weg definitiv und diktatorisch als den einzig möglichen festlegen.
Allerdings muß auch in Erinnerung gerufen werden, daß der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes kein Thema des Wahlkampfes war.
Im Mittelpunkt stand vor allem die vielen DDR-Bürger vordringlich erscheinende Frage nach dem Westgeld, nach dem Umtauschkurs u.ä. [33]
Um es festzuhalten:
Bei diesen Wahlen ging es – abgesehen von der totalen Diskriminierung allen Sozialistischen aus der DDR – noch nicht um den Beitritt.
Von keiner Seite wurde damals direkt, klar und deutlich der Beitritt als die Hauptaufgabe der zu wählenden Volkskammer bezeichnet.
Erst recht wurden die Wähler nicht direkt und offen durch ihr Votum für eine eigene Entscheidung für einen sofortigen Beitritt oder eine andere Perspektive befähigt!
Nachdem das Volk der DDR, zumindest eine hinreichende Mehrheit, besonders in bestimmten Landesteilen der DDR, für die "Allianz für Deutschland" votiert hatte und somit durch "freie Wahlen" eine Kohl genehme parlamentarische Mehrheit erreicht worden war, konnte er sein Programm durchziehen:
Die aus diesen Wahlen hervorgegangene Regierung de Maiziere und die nicht minder hörige Parlamentsmehrheit der Volkskammer erwiesen sich in den folgenden sechs Monaten als Erfüllungsgehilfe für die Durchsetzung der in Bonn vorgegebenen Politik des Anschlusses der DDR an die BRD.
Es gibt keine wesentliche Entscheidung dieser Volkskammer, die auf eine andere Zielstellung orientierte.
Sämtliche Beschlüsse dieser Volkskammer, insbesondere die von ihr erlassenen Gesetze, waren Bestandteil des direkten Kurses auf den unverzüglichen Beitritt.
Dazu gehören die beiden oben angesprochenen Staatsverträge.
Alles weitere ging, wie am Schnürchen, reibungslos und ohne ernst zu nehmenden Widerstand.
Weder in der Volkskammer, noch außerhalb dieser gab es hinreichend mächtige politische Kräfte, die dem Vorgehen Kohls Einhalt gebieten konnten. [34]
Spätestens seit März 1990 war das Kräfteverhältnis unwiderruflich eindeutig – in der DDR wie auch international!
Kohl konnte die Früchte seiner (durch Gorbatschow begünstigten) Politik – im Wesentlichen ungestört – ernten!
An dieser Stelle muß auf folgendes verwiesen werden:
Soweit verbreitet die Ansicht vertreten wird, daß das Ende der DDR wegen ihrer wirtschaftlichen Probleme und anderer inneren Probleme bevorstand, so ist dies unzutreffend.
Gerade derzeit haben wir zur Kenntnis zu nehmen, daß wohl kein einziger EU-Staat schuldenfrei ist, daß viele hoch, zum Teil gefährlich hoch, verschuldet sind.
Auch kann niemand übersehen, daß – ob ausschließlich infolge der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise oder auch aus anderen Gründen – die wirtschaftliche Lage in all diesen Ländern, auch in der Bundesrepublik nicht besonders rosig ist.
Währungsexperten mögen es genauer bestimmen, aber nach meinem Verständnis hat die DDR einen solchen Grad an Staatsverschuldung nie erreicht.
Was hier wesentlich festzuhalten ist, ist folgendes:
Trotz massiver innerer wirtschaftlicher und auch andere Probleme und erheblicher Staatsverschuldung ist bisher und wird auch künftig keiner diese EU-Staaten als Völkerrechtssubjekt von der Landkarte verschwinden.
Im Übrigen hörten die anderen ehemals sozialistischen Länder Osteuropas 1990 oder danach nicht als Völkerrechtssubjekte, als Staaten, auf zu existieren. Ihnen wurde zugestanden, ihre inneren Verhältnisse, ihre Gesellschaftsordnung zu verändern. Daher bestehen sie – gut oder schlecht – alle als Staaten und Völkerrechtssubjekte fort.
Warum aber mußte der Staat DDR als Völkerrechtssubjekt verschwinden?
Wie oben gezeigt, war das Bedürfnis der Bürger – insbesondere im Herbst 1989 und auch im Frühjahr 1990 keineswegs auf eine Beseitigung der DDR gerichtet – auch wenn Vorstellungen zu einer – demokratischen – Wiedervereinigung bestanden. [35]
Aus all dem folgt:
Daß die DDR von der Landkarte verschwand, war nicht die unmittelbare Folge eigener innerer wirtschaftlicher und anderer Probleme.
Hier spielet das internationale Kräfteverhältnis, die unübersehbare Schwäche der SU und ihrer Aufgabe der DDR die maßgebliche Rolle, indem Gorbatschow der Bundesregierung, namentlich Kohl, freie Hand gegeben hatte, mit der DDR nach ihrem Belieben umzugehen.
Daß es zur Beseitigung der DDR als Staat [36] kam, hatte Gründe außerhalb der DDR.
Auch das ist für den Juristen an (völkerrechtlichen) Dokumenten ablesbar:
Der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag [37], der "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" vom 12. September 1990, gab als Schlußpunkt einer vorangegangen internationalen Entwicklung grünes Licht für die – wie auch immer geartete – Einbeziehung der DDR in die Bundesrepublik.
Diese wird im Art. 1 des Vertragstextes mit den Worten als gegeben vorausgesetzt:
"Das vereinte Deutschland wird die Gebiete" der BRD, der DDR und Berlins "umfassen".
Es ist also festzuhalten:
Daß der Staat DDR als Völkerrechtssubjekt von der Landkarte verschwand, war maßgeblich durch Gründe der internationalen Beziehungen, namentlich des internationalen Kräfteverhältnisses, bedingt.
Anmerkungen:
[1] Dieses GG wurde am 23. Mai 1949 von Adenauer als Präsident eines "Parlamentarischen Rates" in Bonn am Rhein ausgefertigt.
[2] Ohne Ostdeutschland – die spätere DDR – zu nennen, waren damit jene Deutschen "östlich der Elbe" gemeint, die damals in der sowjetische Besatzungszone lebten. Dabei bleibt in voller Absicht völlig ausgeblendet, daß die dem Potsdamer Abkommen ins Gesicht schlagende Spaltung Deutschlands durch die vom Westen, namentlich von den USA, durchgesetzte separate Währungsreform in den Westzonen im Juni 1948 bewirkt wurde. – Weiter bleibt ebenso absichtsvoll völlig ausgeklammert, daß seit 1946 in ganz Deutschland über eine gesamtdeutsche Verfassung diskutiert worden war, die später nach der Bildung eines westdeutschen Teilstaates, der BRD, am 7. Oktober 1949 zur Verfassung des ostdeutschen Staates wurde. – Näheres dazu siehe Erich Buchholz: BRD-Grundgesetz vs. DDR-Verfassung. Zwei Staaten im Spiegel ihrer Konstitutionen, Spotless-Verlag 2008, und derselbe: 1949, hier eine Verfassung dort ein Grundgesetz. Kai Homilius-Verlag, 2009.
[3] Hiermit ist zweifelsfrei der zeitliche Geltungsbereich des GG gemeint.
[4] Die Juristen formulieren: "lex specialis derogat legi generali"
[5] Zitiert nach Heuer, aaO, S. 184. – In der letzten Volkskammer "wurde dieses Vorhaben … ohne juristische Argumentation von der "Allianz für Deutschland" politisch-ruppig umgesetzt." (aaO, S. 187).
[6] Ob und wie dieser Rechtsanspruch juristisch – vor dem Bundesverfassungsgericht? – bzw. politisch durchgesetzt werden könnte, kann hier nicht erörtert werden.
[7] Das ist die alte Formulierung des früheren Art. 146 GG.
[8] Wodurch wurde diese Geltung des GG für das gesamte deutsche Volk bewirkt? Nur durch einen Bundestagsbeschluß?
[9] Auch das ist die ursprüngliche Formulierung des Art. 146.
[10] Natürlich wurde und wird diese Wahrheit – wie es mit Wahrheiten in der Politik oft ist – seitens der BRD meist nicht offen bekundet und zugegeben – aber bestritten wird sie auch nicht. Und natürlich vollzog sich solches verschleiert, unter einem Deckmantel und Wortschwall.
[11] Überdeutlich ist dies von Schäuble in dem Buch "Der Vertrag", herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von D. Koch und K. Wirtgen, Stuttgart 1991, ausgedrückt und ausgeführt worden: Schäuble sieht sich selbst als den, der das Drehbuch des Beitritts schrieb.
[12] Auf die politischen Motive dieser Vorgehensweise soll hier nicht eingegangen werden.
[13] Die Völkerrechtsubjektivität der DDR, also die Eigenschaft, ein Staat i. S. des Völkerrechts (gewesen) zu sein, war im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grundlagenvertrag) vom 21. 12. 1972 ausdrücklich bekräftigt und bestätigt worden. Siehe Urteil des BVerfG vom 31. 7. 1973 (BVerfGE Bd. 36, S. 3 ff). Ohne diesen Grundlagenvertrag wäre aus Bonner Sicht das Zu-Stande-Kommen des Beitritts und der beiden Staatsverträgen verfassungsrechtlich gar nicht möglich gewesen. – Denn nach dominanter bundesdeutscher Doktrin war die DDR überhaupt kein Staat, kein Völkerrechtssubjekt! Danach hätten mit ihr auch keine Staatsverträge abgeschlossen werden können!
[14] Auf die Besonderheiten bei der Einführung des "Euro" kann hier nicht eingegangen werden.
[15] Nur zur Erinnerung: Die von langer Hand vom Westen, namentlich von den USA, geheim vorbereitete separate Währungsreform vom Juni 1948 mit der Einführung einer neuen Währung in Westdeutschland und damit der Ungültigkeit und Wertloserklärung der dort in Massen vorhandenen alten Reichsmark, war die Spaltung Deutschlands – gezielt mit massiven Unternehmen der ökonomischen Untergrabung Ostdeutschlands. Alles, was danach an Spaltung geschah, war nur die formelle politische juristische Folgerung der 1948 faktisch durchgesetzten Spaltung Deutschlands. – Näheres dazu in den beiden vorgenannten Büchlein zu Verfassung und Grundgesetz sowie in Erich Buchholz, "Strafrecht im Osten. Ein Abriß über die Geschichte des Strafrechts in der DDR." Kai Homilius-Verlag 2008, S. 137 ff.
[16] Übrigens erfüllte die DDR, wie es ihr zukam und geziemte, auch all diese Pflichten – wie sie es zuvor auch sonst stets gegenüber anderen erfüllt hatte.
[17] Die Gesetze, die diese buchstäblich letzte Volkskammer "von Bonns Gnaden" dank dieses ersten Staatsvertrages nach Vorgaben und Hilfestellungen aus Bonn zu erlassen hatte, waren zum großen Teil nur für das Papier geschrieben. Einige Gesetze, namentlich solche, die erst sehr viel später in Kraft traten, galten formell nur wenige Tage, so das geänderte Familiengesetzbuch nur drei Tage! Im Übrigen hatten diese Gesetze in jenen wenigen Wochen des dritten Quartals des Jahres 1990 ohnehin keine praktische Bedeutung, auch deshalb nicht, weil die noch dahin vegetierenden Noch-DDR-Behörden keine Entscheidung mehr zu treffen geneigt waren und sich vor allem auf ihre Auflösung bzw. Überführung oder Liquidierung vorzubereiten hatten. Näheres dazu bei U-J. Heuer, Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Nomos Verlag, 2002.
[18] Nach Abs. 2 dieses Art. 1 bilden die 23 Bezirke von Berlin das Land Berlin.
[19] Dazu gehören einige Übergangsbestimmungen sowie Regelungen für die verschiedenen Sachgebiete.
[20] Siehe meine Schrift "Rechtgewinne?" im Wiljo Heinen Verlag, 2010.
[21] Einiges habe ich dazu in meiner Schrift "Totalliqidierung in zwei Akten. Die juristische Annexion der DDR. Kai-Homilius-Verlag 2009, S. 115, deutlich gemacht.
[22] Siehe ausführlicher Erich Buchholz: "Totalliqidierung in zwei Akten. Die juristische Annexion der DDR. Kai Homilius-Verlag 2009.
[23] Ob es sich 1989/90 um eine "friedliche Revolution" gehandelt habe, ist nicht hier zu untersuchen. Als Jurist, der nach 1945 das damals in Ost und West geltende alte Recht, vornehmlich das aus der Kaiserzeit zu studieren hatte und später die Entwicklung des neuen Rechts der DDR mitverfolgte, z. T. auch mitgestaltete, hatte ich nach dem Beitritt (als Rechtsanwalt) jenes alte Recht aus der hintersten Ecke meines Bücherbestandes hervorzuholen und so ganz handgreiflich erlebt, daß jedenfalls juristisch für die Bürger der DDR ein beispielloser Rückfall eingetreten war.
[24] Der viel spätere "Sturm auf die Stasi-Zentrale", an dem sich, wie im Nachhinein offenkundig wurde, Geheimdienste beteiligt waren (siehe "Rosenholzkartei"!) trug einen völlig anderen Charakter.
[25] Dazu gehörten nicht zuletzt auch Erleichterungen von Reisen ins westliche Ausland. Noch im Oktober 1989 wurde den Bürgern mitgeteilt, daß ein neues, solche Reisen erleichterndes Reisegesetz vorbereitet wird; auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 mit Schabowski sollten Einzelheiten dieser Regelung öffentlich gemacht werden.
[26] Er gehört ganz zweifellos zu den besten Verfassungstexten, die je in Deutschland verfaßt wurden.
[27] Dieser Verfassungsentwurf orientierte sich nicht auf eine "Sturzgeburt" eines Anschlusses an die BRD, sondern auf einen sorgfältig vorzubereitenden Zusammenschluß zweier souveräner deutscher Staaten – wobei auch der "Einigungsprozeß Europas" mitbedacht wurde, wie in der Präambel dieses Verfassungsentwurfs zu lesen steht.
[28] Namentlich ihnen ging es jetzt vor allem um die Erlangung von "Westgeld", von DM.
[29] Wie schon in der Vergangenheit hatte es dazu in der DDR, wie auch bei Kontakten mit der BRD, verschiedene Überlegungen gegeben. Aufgrund der neuen Lage mußte die Bundesregierung nicht mehr auf solche Möglichkeiten eingehen. Ihr genügte die zunehmende Unzufriedenheit von DDR-Bürgern, um der DDR-Regierung den Boden unter den Füßen zu entziehen.
[30] Später wurde für diese Situation und diese Zeit der Begriff "Chaostage" geprägt.
[31] Siehe auch W. Schäuble "Der Vertrag", herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von D. Koch und K. Wirtgen, Stuttgart 1991.
[32] Dazu gehörten auch der Einsatz des Begriffs "Unrechtsstaat" (für die DDR) und natürlich die uneingeschränkte Diskriminierung der staatlichen Organe, besonders des Ministeriums für Staatssicherheit.
[33] Dazu gehört auch die vom Westen importierte Losung: "Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!"
[34] Ich übersehe nicht die vielfältigen lobenswerten Stimmen innerhalb dieser Volkskammer und außerhalb davon, die – erfolglos – Kohl Widerstand zu leisten bestrebt waren. Aber auf der Waage des Kräfteverhältnisses waren sie zu leicht.
[35] Überlegungen zu einer Konföderation beider deutscher Staaten waren bereits Jahrzehnte zuvor und wiederholt geäußert und unterbreitet worden. Damals zeugte sich die BRD dafür wenig ausgeschlossen; denn die DDR war damals ein stabiler und durch die SU gestützter Staat. Auf eine Wiedervereinigung – jetzt in Form des Beitritts – nahm die BRD in dem Augenblick Kurs, als die DDR am Boden lag!
[36] Inwieweit nach 1989 in der DDR weiterhin – wie auch immer geartete – sozialistische oder ähnliche Verhältnisse hätten fortbestehen können, ist eine müßige Spekulation.
[37] Partner dieses Vertrages sind (waren) die BRD, die DDR, Frankreich, die SU, das "Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland" sowie die USA. – Er erfüllte – mangels anderer Voraussetzungen – faktisch die Funktion eines über Jahrzehnte offen gebliebenen Friedensvertrages "mit Deutschland", weshalb – außer der Bestätigung der Westgrenze Polens – vor allem militärische Fragen, der Plazierung von (deutschen/bundesdeutschen) Streitkräften auf deutschen Territorium geregelt wurden – was die anderen nichtdeutschen Staaten besonders interessierte!