Außenpolitische Vakua und die Friedensfrage
Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel
Ein Kommentar zum Zustand der Partei DIE LINKE am Vorabend des Erfurter Parteitages
Seit geraumer Zeit wirkt die DIE LINKE erstarrt. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen sind der politischen Taktiererei gewichen. »30 Jahre Opposition sind genug« [1], resümiert Gregor Gysi und eröffnet damit die Innensicht derjenigen, die, wie er sagt, der Partei eine neue Identität geben möchten. [2] Diese neue Identität betrifft in erster Linie die Friedensfrage: Ob der Verbleib in der NATO oder deutscher Soldaten in Afghanistan, Gysi bekundet im Namen der Partei Gesprächsbereitschaft. [3] Dabei sind diese Anläufe keineswegs neu: Spätestens seit dem Parteitag von Münster werden die friedenpolitischen Grundsätze in offener und frivolster Weise angegriffen.
Dass es sich dabei um ein Muster handelt, zeigen die Diskussionen, welche seit einem Jahr von Protagonisten der Partei geführt werden: Kipping und Riexinger erarbeiten Konzepte, ohne die Friedensfrage zu stellen [4]; für Wagenknecht und Lafontaine dienen UN-Blauhelmtruppen zur Friedensicherung [5]; Gysi [6] und Bartsch [7] relativieren die NATO.
Politikfragmente dieser Art können überhaupt erst in den Raum gestellt werden, weil die Friedensfrage á la DIE LINKE isoliert von globalen Kontexten gedacht wird. Gerade die Vakua an außenpolitischen Positionen katalysieren die Deformierung der friedenspolitischen Grundsätze: Woran wird Außenpolitik gemessen, damit Entwicklungen nachvollzogen werden können? Wie soll ein Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands gelingen, wenn Deutschland in den militärischen Strukturen der Nato verbleibt? Und, diese Frage ist gegenwärtig die wichtigste, wie soll sich Deutschland zur VR China positionieren?
Die Verschiebung des Machtzentrums oder die alte Welt am Schleifbock
Voraussetzung für die Einordnung von politischen Prozessen ist, dass die objektiven Entwicklungen zur Kenntnis genommen werden. Im speziellen Fall der Außenpolitik heißt das, wie sehen gegenwärtige geopolitische Entwicklungen aus?
Im Juli 2020 veröffentlichte der IWF seine Zahlen über die größten Volkswirtschaften der Welt. Überraschend wird darin vorhergesagt, dass bereits im Jahr 2024 die VR China die USA als größte Wirtschaftsmacht nach BIP abgelöst haben wird. [8] Für das gleiche Jahr will der IWF festgestellt haben, dass unter den ersten fünf größten Ökonomien, mit Ausnahme der USA, nur asiatische Staaten sind. Augenscheinlich verlagert sich das wirtschaftliche Zentrum der Welt nach Fernost.
In Anbetracht dieser Entwicklung mag es nicht überraschen, dass die euroatlantische Achse einen erheblichen Bedeutungsverlust erfahren hat. Bereits der frühere US-Präsident Obama hatte das pazifische Zeitalter ausgerufen. An seinen Vorgänger anknüpfend, weitet die Trump-Administration ihre wirtschaftliche und militärische Kooperation auf den indo-pazifischen Raum aus. [9] Hierfür macht sich die USA das seit Jahrhunderten angespannte sino-indische Verhältnis zu Nutze. Indien ist aufgrund des wachsenden Einflusses Chinas in der Region, insbesondere wegen des sino-pakistanischen Wirtschaftskorridors, beunruhigt und hinsichtlich der Seidenstraße-Initiative zurückhaltend. [10]
Die Seidenstraße-Initiative ist ein Investitionsprogramm mit einem geschätzten Volumen von 4 bis 8 Billionen US-$, welches bis zum Jahr 2049 geplant wurde, um Distributionen von Asien nach Europa, Afrika und Lateinamerika zu erleichtern. [11] Initiator und Hauptgeldgeber ist China. Die USA sind an diesem Projekt nicht beteiligt. De facto knüpft die Seidenstraße-Initiative an einem gemeinsamen eurasischen Wirtschaftsraum an. Dieses stellt seit jeher eine wesentliche Beeinträchtigung der US-amerikanischen Interessen dar. [12]
Ein neuer Typus von Krieg, ein neuer Kriegstypus
Diese beiden Konzepte stehen gegeneinander. Während die USA versuchen, durch erhöhte Militärpräsenz in Südostasien und dem Aufbau von strategischen Partnern wie Indien und Taiwan China in Bedrängnis zu bringen, etabliert sich China als essenzieller Wirtschaftspartner in Afrika und Europa.
Folglich verläuft der geopolitische Hauptkonflikt zwischen der aufgekommenen Macht China und den unter Bedeutungsverlust leidenden USA. Dieser Konflikt wird mittlerweile unbeherrscht und grenzenlos ausgetragen. Insbesondere die ganzheitliche chinesische Militärpolitik macht den USA zu schaffen. In einem Strategiepapier der Volksbefreiungsarmee präsentieren die Generale Qiao und Wang die Vorstellung von einer entgrenzten militärischen Strategie. Unter Einbeziehung technologischer, wirtschaftlicher, kultureller und rechtwissenschaftlicher Disziplinen transzendiert das Militärische und verschmilzt mit dem Zivilen. Dieser Entwicklung werden die USA zusehends nicht Herr. In ihrem letzten Strategiebericht zum Umgang mit China vom Mai 2020 konstatieren sie:
Die Fusionierung des Militärischen mit dem Zivilen ermöglicht der Volksbefreiungsarmee [VBA] den Zugang zu […] Technologien, staatlichen sowie privaten Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen. Aufgrund der Intransparenz dieser Fusion füttern die USA und ausländische Firmen unfreiwillig China mit Informationen, die […] mittelbar die VBA und die KPCh nutzen, […] um den USA und ihren Partnern zu schaden.[13]
Gleichzeitig mahnen unterschiedliche Stellen die konventionelle Übermilitarisierung der USA an. [14] Desaströse Kriege, gescheiterte Strategien und fehlende Konzepte für Wiederaufbau haben aus dem US-Militär eine teure und für die außenpolitischen Ambitionen schwächer werdende Institution gemacht. [15] Neben einer geostrategischen Neuausrichtung und dem militärischen Engagement werden die USA zukünftig ihre subversiven Einheiten gegen China besser ausstatten. – Nach offiziellen Zahlen investieren die USA nur 4 mio. US-$ in NGOs, die die Demokratisierung nach westlichem Muster in China voranbringen sollen. [16]
Eine realistische Beurteilung der Lage zeigt, dass sowohl die USA als auch China eine hybride Kriegsführung gegeneinander zum Einsatz bringen. Diese zeichnet sich durch ein verändertes Verständnis von Destruktion aus. Die rein materielle Vernichtung des Gegners weicht der subversiv-retardierten Neutralisierung desselben.
Ende der Russlandzentriertheit?
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rolle Russland zukommt. Russland ist zweifellos aufgrund seiner geographischen Ausdehnung, militärischen Stärke, Ressourcenreichtum und Multiethnizität ein Schlüsselstaat. Mit der russophobischen Politik des Westens hat man die Föderation in die Arme der Volksrepublik getrieben. Das sino-russische Selbstverständnis wird als umfassende strategische Koordinationspartnerschaft in einer neuen Ära beschrieben. [17] Wenngleich durch die gegenwärtigen Diskussionen um Nawalny, Nord Stream 2 sowie Belarus suggeriert wird, dass Russland der Hauptfeind der »freien Welt« sei, sollten erste Zeichen eines möglichen Strategiewechsels der USA gegenüber Russland nicht übersehen werden. So forderte der frühere Russlandberater von George W. Bush, Thomas Graham, dass die USA ein Interesse an einem pragmatischen Verhältnis zu Russland haben sollten. [18] Graham betonte die Wichtigkeit Russlands für die USA in strategischen und wirtschaftlichen Fragen [19] und verwies auf die Chance, dass durch verbesserte diplomatische Beziehungen der chinesische Aufstieg zumindest gebremst werden könnte. [20]
Ganz offensichtlich können sich die USA keine zwei Fronten leisten. Der Abzug von US-Soldaten aus Deutschland sollte nicht nur als »angebliche« Bestrafung verstanden werden, sondern als eine schrittweise veränderte Schwerpunktsetzung der USA.
Handlungspflicht
In der Weltordnung des 21. Jahrhunderts stehen sich zwei Mächte gegenüber, die ökonomisch, militärisch und ideologisch [21] unvereinbar sind. Geographisch wird sich der Einfluss des alten Europas zugunsten aufstrebender, hochinnovativer südostasiatischer Staaten verlagern. In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Falle des Thukydides verwiesen. Demnach setzt der Aufstieg eines Staates (China) den Hegemon (USA) in Bedrängnis, sodass dieser keinen anderen Ausweg sieht, als einen Krieg zu beginnen, um seine Vormachtstellung zu sichern. [22]
In dieser Gemengelage erscheint die LINKE orientierungslos. Der Ansatz, wertebasiert außenpolitische Entwicklungen zu beurteilen, scheitert bereits daran, dass diese sogenannten Werte einem Konsens westlicher Traditionen entsprechen und zu nicht-westlichen Staaten kaum anschlussfähig sind. Gleichzeitig erleben wir die Renaissance des Konzepts des Klassenkampfs seitens der USA. Diese befürchten durch den Aufstieg Chinas langfristig die Schwächung des kapitalistischen Wirtschaftssystems hin zu einem schleichenden sozialistischen Übergang. [23]
Auch in dieser Hinsicht hat es die LINKE versäumt, einen Umgang mit China zu finden, der in kritischer Akzeptanz der unterschiedlichen Wege dennoch die politischen Gemeinsamkeiten berücksichtigt. Eine dieser Gemeinsamkeiten besteht in der Anerkennung des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten. Dieses Prinzip offenbart das Recht und die Pflicht zum Frieden.
Indem das Verhältnis von Deutschland zur geopolitischen Entwicklung ungeklärt bleibt, ist die Spannweite der Argumentation entweder pro-USA, pro-China oder pro-Neutral. Innerhalb dieses Spektrums steht die LINKE nirgends in Gänze. Erst hierdurch eröffnet sich die Möglichkeit kruder Vorstellungen, wie die Befriedung einer pro-westlichen Einbindung (z.B. Nato-Verbleib) mit den friedenspolitischen Grundsätzen. Wie dargestellt, ist dieses in Anbetracht der normativen Geopolitik absurd, da es a priori eine Parteinahme gegen China und damit für die Unterwerfung in die hybridkriegerischen Strukturen der USA bedeutet. Solange die LINKE keine außenpolitische Strategie besitzt, ist die friedenspolitische Positionierung inkonsistent. Hierfür muss die LINKE einen sachdienlichen, realistischen und vorurteilsfreien Umgang mit China finden.
Anmerkungen:
[1] Gysi, 30 Jahre Opposition sind genug, RND, 28.8.2020, abrufbar: www.rnd.de/politik/gregor-gysi-im-interview-uber-rot-rot-grun-30-jahre-opposition-sind-genug-N4Z7CPWCPVAGRNMVC7A2M7FOZ4.html [16.9.2020].
[2] Ibidem.
[3] Ibidem.
[4] Külow/Lieberam, Linkes Wunschdenken, jW, 2.6.2020, S. 12.
[5] Hagen/Schaible mit Lafontaine, Die SPD ist nicht mehr die Partei Willy Brandts, spiegel online, 13.7.2020, abrufbar: www.spiegel.de/politik/deutschland/oskar-lafontaine-die-spd-ist-nicht-mehr-die-partei-willy-brandts-a-c6911b0e-d330-4592-8fc4-bd0e27df324b [20.9.2020].
[6] Klemm, Linke auf Nato-Kurs, nd, 29.8.2020, abrufbar: www.neues-deutschland.de/artikel/1141069.gregor-gysi-linke-auf-nato-kurs.html [20.9.2020].
[7] Detjen mit Bartsch, Wir befreien die Sozialdemokraten aus der Gefangenschaft der Union, Dlf, 16.8.2020, abrufbar: www.deutschlandfunk.de/dietmar-bartsch-die-linke-wir-befreien-die-sozialdemokraten.868.de.html [20.9.2020].
[8] Vgl. Buchholz, Continental Shift: The World’s Biggest Economies Over Time, statista, 13.6.2020, abrufbar: www.statista.com/chart/22256/biggest-economies-in-the-world-timeline [16.9.2020].
[9] Garamone, DOD Working Toward Networked Indo-Pacific, 31.8.2020, abrufbar: www.defense.gov/Explore/News/Article/Article/2330412/dod-working-toward-networked-indo-pacific/ [20.9.2020].
[10] Vgl. Redaktion, India’s Concerns on Belt & Road Initiative, Belt & Road News, 29.5.2020, abrufbar: www.beltandroad.news/2020/05/29/indias-concerns-on-belt-road-initiative/ [20.8.2020].
[11] Hillmann, How Big Is China’s Belt and Road?, CSIS, 3.4.2018, abrufbar: www.csis.org/analysis/how-big-chinas-belt-and-road [20.8.2020].
[12] Vgl. Brzeziński, Die einzige Weltmacht, S. 241 ff.
[13] White House, United States Strategic Approach to the People’s Republic of China, 05/2020, S. 7, abrufbar: www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2020/05/U.S.-Strategic-Approach-to-The-Peoples-Republic-of-China-Report-5.20.20.pdf [19.9.2020]; Übersetzung: der Autor.
[14] Vgl. Gates, The Overmilitarization of American Foreign Policy, Foreign Affair, Vol. 99, Nr. 4, 07/08.2020, S. 121-132, S. 124.
[15] Ibidem.
[16] US Aid, Foreign Aid Explorer – China (P.R.C.), Jahr 2020, abrufbar: explorer.usaid.gov/cd/CHN [20.9.2020].
[17] Redaktion Xinhua, A new era for China-Russia relationship in 2019, China Daily, 28.12.2019, abrufbar: www.chinadaily.com.cn/a/201912/28/WS5e06c51ea310cf3e3558138b.html [19.9.2020].
[18] Graham, Let Russia Be Russia, Foreign Affairs, Vol. 98, Nr. 4, 07/08.2020, S. 134-146, S. 135.
[19] Ibidem.
[20] Ibidem, S. 145.
[21] Brzeziński, S. 5.
[22] Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, S. 25 ff.
[23] Brzeziński, S. 6.
Mehr von Moritz Hieronymi in den »Mitteilungen«:
2020-03: Die Mystifizierung von Kriegen
2020-01: Friedenspolitischer Handlungszwang