Aus: "Wenn es ans Leben geht"
Peter Edel (Leseprobe)
Zu Hause angekommen, legte ich das Reclambändchen auf den Tisch. Wie eine greifbare Mahnung lag es dort.
Esther riß mich aus meinen Gedanken. "Was ist das?" fragte sie. "Diese Striche da?" Sie zeigte mir die aufgeschlagenen Blätter. Es standen dort einige Verse, Zeilen, die mein Vater mit dicken Rotstiftlinien eingerahmt und unterstrichen hatte. Ob er es für sich tat, für andere oder für uns – gleichviel, in der Nacht, die wir schlaflos durchgrübelten, schien es mir nahezu unglaublich, daß diese Worte vor weit über hundert Jahren geschrieben sein sollten. Immer wieder mußte ich lesen, was in den roten Rahmen stand:
Anfangs wollt’ ich fast verzagen,
Und ich glaubt’, ich trüg es nie;
Und ich hab es doch getragen –
Aber fragt mich nur nicht, wie?
Ja, das kannte ich. Hatte es vor langem gelesen und aus Vaters Mund gehört, es war berührend, aber nicht sehr erschütternd gewesen, war nur das traurig-tapfere Geständnis eines großen toten Dichters. Und plötzlich sprach der zu mir an Vaters Stelle. Jetzt las ich es anders. Jetzt ging es mich selbst an, alles, was da auf dem ersten Blatt stand, auf dem zweiten, dem dritten, von flatternden Fingern flammig umrandet:
Wir dürfen nicht Viktoria trompeten,
Solang’ noch Säbel tragen unsre Sbirren;
Mich ängstet, wenn die Vipern Liebe girren,
Und Wolf und Esel Freiheitslieder flöten –
Seite um Seite, sich steigernd in bestürzender Aktualität, folgten die Sätze einander, welche Sätze!
Wir begreifen die Ruinen nicht eher,
als bis wir selbst Ruinen sind.
Und dies prophetisch Ungeheure:
Ich sah einen Wolf, der leckte an einem
gelben Stern, bis seine Zunge blutete.
Und schließlich:
Dort, wo man Bücher verbrennt,
verbrennt man auch am Ende Menschen!
Wenn Worte wie Blitze treffen können – diese taten es. Groß und größer wuchsen sie vor mir auf, als stünden sie nicht wie alle übrigen kleingedruckt in gotischen Lettern da, sondern riesenhaft gezackt und abgehoben ... Und schrieb und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand ... Jählings aufzuckendes Bild: Menetekel im Königssaal des Belsazar.
[...]
Mich mit Gewalt aufrecht haltend, vor kurzem noch endgültigem Zusammenbruch nahe, stand ich erneut vor einem Peiniger, der aus dem Aktenvermerk in seiner Liste ersehen konnte, was diese "Figur" sich erdreistet hatte, in welche Kategorie sie einzustufen sei; klar, daß so was den fälligen Rest erhalten mußte mittels einer kleinen Extradressur, bloß so zum Exempel. [...]
"Was bist du?" fragte er bedrohlich sanft. Und es genügte nicht die eingedrillte, stets geforderte, stets gegebene Antwort: Geltungsjude. Es mußte heißen: Ein Verbrecher bin ich.
"Verbrecher!" stöhnte ich, von einem Bauchtritt niedergeworfen.
"Jawoll!" kam’s zurück. "Verbrecher, Saujud, Bolschewikenhund! Was bist du?"
Es genügte nicht. Immer rascher, in gräßlichem Stakkato hörte ich dies unaufhörliche "Was bist du?" über mir, vor mir, neben mir.
"Nationalität?"
"Deutsch", röchelte ich nur noch.
Er trampelte mir die Stiefel in den Leib, riß mich hoch. Brüllte: "Du? Ein Deutscher? Hast wohl schon vergessen, was du bist?! Na, was?"
"Ich – gelte nicht als Deutscher."
"Was? Ach, du schämst dich wohl, Deutscher zu sein? Was bist du?"
Ich lag auf der Erde, blutend, im Dreck, wo ich hingehörte, verkrümmt lag ich da, heulend – mag sein –, schlotternd vor Angst – auch das –, alles andere als ein Held, aber berstend vor Haß und einer Ohnmacht nahe; von weit her das neuerliche "Was bist du?" hörend, schrie ich aus verquollener Kehle zu dem Schinder empor: "Kommunist! Ich – ich bin Kommunist!"
Ich wußte nicht, warum ich’s schrie. Wie von einem anderen befohlen, brach es heraus. Vielleicht, weil in diesem Moment ein Blitz aufzuckte in mir; ein aus roten Nebeln aufblitzendes Gesicht, hart und zerkerbt, eine vertraute Stimme, gleich verwehend im Rauschen, Dröhnen, Stiefelscharren ringsum: Bleib senkrecht, Junge! Vielleicht war’s nur Erinnern an jenes Wimpernzucken. Es kann sein, wißt ihr, daß all das, was Gall gesagt, getan oder ahnbar gemacht hatte, in diesen einen Augenblick mündete, den Impuls auslöste, mich zum erstenmal so zu bekennen, gleichsam geklammert an den einzigen verbliebenen Halt. Wahrscheinlich glaubte ich auch, mit mir sei es ohnehin zu Ende, Schlimmeres könne nicht mehr kommen. Bloß eine Waffe haben, irgendwas, was den Mordbüttel traf, nur daß er endlich von mir abließe.
Der Peiniger sah verblüfft auf mich nieder. Trat nochmals zu, stiefelte davon, rief weiter monoton die Nummern auf. Ich wurde kaum noch gewahr, daß Kameraden mich behutsam unter die Arme faßten und zur Baracke zogen.
"Wenn es ans Leben geht", Band I, Verlag der Nation, Berlin 1979, Seiten 289-290 und 337-339. – Peter Edel, Grafiker und Schriftsteller, überlebte faschistische Konzentrationslager und wirkte später in der DDR. Er war Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes. Vor 25 Jahren, am 7. Mai 1983 starb er 61jährig in Berlin.