Aus »Vor Tageslicht«, Autobiografie
Horst Sindermann (1915-1990)
Mauthausen 1944
98 Genossen, darunter Bruno Leuschner, Hans Seigewasser, Willi Klink und Helmut Behrend, kamen nach Mauthausen. Wenige Täge, nachdem unsere 27 Genossen aus der Isolierbaracke geholt und in Ketten abgeführt worden waren, machte die SS mit uns das Gleiche: Brüllen, Kettenrasseln, Kommandos und ab, marsch, marsch. Wir stiegen nachts auf dem Bahnhof Oranienburg in Waggons, deren Boden mit Stroh bedeckt war, die Türen wurden verschlossen. Wohin es ging, wussten wir nicht. Es-gab keine Verpflegung, und kalt war es auch. Durch die Ritzen erkannte ich den Neustädter Bahnhof in Dresden, den Wettiner Bahnhof. Ich sah das Haus, in dem ich gewohnt hatte. Für einen Moment war mir, als bräche ich innerlich zusammen. Kindheitserinnerungen schossen wie Blitze durch den Kopf. Das Herz schnürte sich zusammen, dass ich schreien wollte, man fühlt sich schon nicht mehr zu den Lebenden gehörend. In dieser Sekunde, die eine Ewigkeit währte, spürte ich nicht die Kälte, den Gestank, den Hunger und den Schmutz, sondern nur ein unheimliches Verlassensein, Einsamkeit und Trauer.
Als wir Prag passierten, gab es Fliegeralarm, Unser Wagen wurde abgekoppelt und und auf ein Nebengleis rangiert.
Es war eisig kalt, und wir waren fast ohne jede Verpflegung. Es gab keine Gelegenheit, eine Bahnhofstoilette zu benutzen. In einer Ecke stand ein bereits randvoller, stinkender Kübel. Wenn man seine Notdurft verrichten wollte, musste der, mit dem man an den Füßen zusammengekettet war, mitgehen. Wasser zum Waschen gab es auch nicht. Einige Mitgefangene husteten stark. Vom Liegen auf dem wenigen Stroh des Holzbodens schmerzten uns alle Glieder. Die Umstände waren wohl das Erniedrigendste, was man einem Menschen antun konnte.
Schließlich erreichten wir nach Tagen Mauthausen, das unweit von Linz oberhalb der schönen blauen Donau lag.
Vom Bahnhof schleppten wir uns mühsam steile Wege auf einen Hügel, der von einer Felsenburg gekrönt war, die weit ins Land hinausschaute. Das also war jene SS-Trutzburg, gebaut von Zehntausenden von Arbeitssklaven, die Stein für Stein aus dem Tale hatten hochschleppen müssen.
Vom Architekten Georg Bähr erzählte man, dass er beim Bau der wunderschönen Frauenkirche in Dresden als Mörtel Quark und Eier verwendet habe, um die Quader fest aneinanderzufügen.
Lassen sich dafür auch Menschenblut und Menschenknochen verwenden? Ja, in Mauthausen.
Durch das Tor eines Konzentrationslagers geht man nicht, man schreitet auch nicht hindurch, man wird durchgeprügelt. Und dieses Prügeln wird von Brüllen und Schnauzen kulturell umrahmt, der Musik und der Lyrik der stumpfsinnigen »Nationalsozialisten«...
So endete unsere Odyssee an der Quadermauer des Innenhofes von Mauthausen, an der schon so viele totgeprügelt worden waren. AberTotprügeln ist nur eine primitive Form der Menschenverachtung, der SS-Kommandant Ziereiß hatte in Mauthausen eine viel feinfühligere Beförderung der Menschen vom Leben in denTod erfunden: das Einfrieren.
Bei strenger Kdlte wurden »Bolschewisten und Judengesindel«, an der Mauer stehend, so lange mit kaltem Wasser begossen, bis sie zu Eissäulen erstarrt waren. Heute steht die Skulptur eines so zu Eis erstarrten sowjetischen Offiziers an der Steinmauer in der Gedenkstätte Mauthausen.
AIs wir in einen Isolierblock des Lagers Mauthausen eingewiesen wurden, war meine Stimmung ziemlich auf dem Tiefpunkt. Ich wusste nicht einmal, wo genau wir waren, wo Mauthausen liegt. Und wen würden wir hier an Genossen oder Freunden und Bekannten treffen? Es war nicht einfach, sich wieder in neue Verhältnisse hineinzufinden und »Beziehungen« zu knüpfen, die für das Überleben im KZ notwendig waren.
Der »Schreiber« des Blockes 19, meiner neuen Unterkunft, holte die Neuen aus Sachsenhausen zu sich, um sie zu registrieren. Er fragte mich, ob ich schwere Arbeit leisten könne, ob ich irgendwelche körperlichen Gebrechen hätte und alles so ein Zeug, das mich zu blöden Antworten veranlasste. Dann sagte er mir, welchen Charakter das Lager Mauthausen habe und dass der rote Punkt, der uns auf die Häftlingsjacke genäht worden war, der sogenannte Fluchtpunkt sei. Dieser erlaube es jedem SS-Mann, ohne Anlass abzudrücken. Auf unseren Einweisungspapieren stünde nämlich der Vermerk RU, was »Rückkehr unerwünscht« heiße.
Warum sagte er mir das alles und in einem so barschen Ton?
Bis er mir eröffnete, dass er mich und meine Familie kenne, dass er schon bei uns auf der Jahnstraße in Dresden übernachtet habe, sein Name sei Fritz Große.
Fritz Große?
War das wirklich der ehemalige Vorsitzende des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands? Große war im Oktober 1931 an die Spitze des Verbandes gestellt worden, was heftige Diskussionen bei uns ausgelöst hatte. Denn es war nicht nur das Personal an der Spitze, sondern auch die politische Linie gewechselt worden. Um eine breite antifaschistische Aktion zu entfalten, mussten wir uns öffnen und vorurteilsfrei mit allen Nazi-Gegnern zusammenarbeiten. Große hatte damals Fritz Reuter nach Dresden geschickt, der uns den neuen Kurs erläuterte.
Ich fühlte mich plötzlich – trotz des barschen Tons – wieder in der »Familie«. Große wusste, dass »Neulinge« in diesem Todeslager schnell verzagten, wenn ihnen eröffnet wurde, dass ihre Rückkehr unerwünscht sei.
Fritz nahm mich unter seine Fittiche …
Vor Tageslicht, Autobiografie. Mit einem Vorwort von Egon Krenz, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin, 1. Auflage 2015, 224 Seiten, ISBN 978-3-360-01871-7, 17,99 Euro (Auszug, S. 162-165).
Erhältlich in »Der kleine Buchladen«, Weydingerstr. 14-16, 10178 Berlin, Tel. 030/247 246 83.
Horst Sindermann, geboren am 5. September 1915, ist kurz nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft, in die er während der DDR-»Wende« kam, am 20. April 1990 gestorben. Die unvollendete Autobiografie ist zu seinem 100. Geburtstag erschienen.