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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Aus: Spur des Lebens (2010)

Erik Neutsch

[...] nach diesem furchtbaren Krieg, der bis tief in die Familien eingedrungen war, Verwüstung der Heimstätten und unzählige Opfer an Toten gebracht hatte, war es ein leichtes, die Menschen für den Aufbau eines neuen, friedliebenden und antifaschistischen Deutschland zu gewinnen. Man begann bei Null, sowohl im Osten wie im Westen. Danach allerdings, nach der Spaltung, von Jahr zu Jahr mehr und potenziert später mit dem Geprassel aus der Kiste im Wohnzimmer, der Reklame Tag und Nacht für "den Duft der schönen, weiten Welt", haben sich, wenn sie uns nicht schon von vornherein feindlich gesonnen waren, vor allem Angehörige der Generationen, die nach uns kamen, auch blenden lassen. In diesen Fällen muß ich sagen, das lag ja wohl nicht nur an uns, trotz allen Dogmatismus und aller Besserwisserei, auch Dummheit hierzulande, die natürlich manchem die sozialistische Idee vergruseln konnten. Das hätten sie sich bei klarem Verstande doch auch selber "sichtbar machen" können. Zwei Staaten daran zu messen, ob sie zur Genüge Bananen zu verkaufen haben (wer übrigens von ihren Verbündeten konnte der DDR welche liefern?) oder die besseren Autos (woher nehmen und nicht stehlen?) – das hat doch mit Souveränität im Denken nichts zu tun.

In meinen Augen hat die DDR, der zum ersten Mal in der tausendjährigen Geschichte Deutschlands staatlich gewordene Versuch, eine Gesellschaft ohne Banken und Monopole, Hochadel und Großgrundbesitzer und deren Macht- und Militärapparat zu errichten, womit die Quellen für Ausbeutung und Kriege trockengelegt wurden, eine ähnlich große Bedeutung wie die frühbürgerliche Revolution zu Beginn des 16. Jahrhunderts mitsamt den Bauernkriegen und der Reformation. Was auch damals folgte, weiß man ja. Nach der Niederschlagung der Aufstände "für nichts als die Gerechtigkeit Gottes", wie auf den Fahnen der Bauern zu lesen war, die blutigste Rache der Fürsten, die Restauration und die Gegenreformation.

Wie sich jedoch gezeigt hat, ist diese Art zu denken vielen Leuten zu anstrengend gewesen. Danach zu leben erst recht. [...]

Wenn ich mich jetzt an das erste halbe Jahr 1989 erinnere, dann erscheint mir diese Zeit sehr zwiespältig. Auf der einen Seite lebte man nicht schlecht, und wenn man Westverwandte hatte oder Handwerker war, auch ganz gut. Die Naturalwirtschaft existierte: Hast du etwas, was ich brauche, dann bekommst du etwas, was du brauchst. Andererseits behauptete unsere offiziöse Politik, daß dies alles gar nicht so sei. Die Führung des Staates, der Partei, sah das alles nicht. War dies nicht der eigentliche Konflikt, der zur Wende führte?

Ach du meine Güte! Wenn du das so siehst, lieber Klaus, dann ...

Ich habe jetzt gerade nochmals die Bilder des Jubels gesehen, mit denen Helmut Kohl hier auf seinen Reisen empfangen wurde. Hunderttausende riefen die bekannten Parolen. Waren wir nicht Illusionäre, die wir hofften, eine andere Gesellschaft aufbauen zu wollen? Die Mehrheit wollte das doch nicht, wie man sehen konnte.

Ich bitte dich, laß uns doch nicht noch einmal vom Urschleim anfangen. Ich denke, ich habe bisher, sowohl was mein Werk als auch mein Leben betrifft, zur Genüge vorgetragen, wo nach meinem Geschichtsbild die Ursachen des Zusammenbruchs der DDR vor zwanzig Jahren zu suchen sind. Ich bin auch überzeugt davon, daß darüber noch nicht das letzte Wort gesprochen sein wird, erst recht nicht von einer von dir angenommenen Mehrheit. Es will auch beim besten Willen nicht in meinen Kopf, daß das Volk, die Menschen, die die DDR erlebten, so doof sei, bis in alle Ewigkeit die "Naturalwirtschaft", wenn sie denn so übermächtig war, wie du es schilderst, für bestimmender zu erachten als all die humanitären Errungenschaften und zwischenmenschlichen Beziehungen, von denen hier ebenfalls schon die Rede war und die nicht selten sogar die ökonomische Kraft dieser – ins Verhältnis zum Kapitalismus gesetzt – noch jungen Republik überstieg. Und was heißt "illusionär"? Haben wir uns mit dem Aufbau unserer Gesellschaft nicht auch zu Recht in der Verantwortung gesehen gegenüber andern noch um ihre soziale und nationale Befreiung kämpfenden Völkern? Vietnam, Kuba, Angola und, und, und ... Wir haben ihnen Mut gemacht und waren auch so mit unseren Idealen auf dem Erdball ständig präsent, im Gedächtnis vielen Menschen weltweit sogar als das "bessere Deutschland".

[...] Anfang der Achtziger [...] kehrten meine Gedanken immer öfter zu diesem Stoff(1) zurück, drängte es mich, eine Geschichte daraus zu formen, in der Art einer Allegorie, eines Gleichnisses auf die Schaffenskonflikte eines Künstlers, dessen Ideale vom Revolutionären Aufbruch und der Umgestaltung der Gesellschaft in eine der Menschlichkeit durch die Praxis beschädigt werden, so wie es im Verlaufe des Bauernkrieges und der Reformation Grünewald erleben mußte, er als einer unter dem Banner des Bundschuhs: Nichts als die Gerechtigkeit Gottes. Das allerdings betraf noch die DDR, in der ich das Widerbild meiner Hoffnungen und Ideale nicht mehr zu erkennen glaubte, spätestens seit der Sozialismus immer öfter auf das Wort real reduziert wurde, was ich als Ausrede empfand, schon als halbe Kapitulation, und das scheint die zweite Phase gewesen zu sein.

Als freilich dann der Zusammenbruch der DDR erfolgte, der Konterrevolution mit fliegenden Fahnen, der D-Mark und Coca-Cola um Siegen verholfen wurde und die Restauration des Kapitalismus sich breitmachte, begann meine dritte Phase. Denn jetzt wurden die Ideale vom Sozialismus nicht nur beschädigt, sondern in den Dreck gezogen, bis heute, verhöhnt und verfolgt, und die Künstler und Schriftsteller, die sich ihrer angenommen hatten, beiseite geschoben als seien sie Analphabeten, oder gar unterdrückt.

Klaus Walther: Erik Neutsch Spur des Lebens, Verlag Das Neue Berlin, 2010, ND-Druckerei und Verlag GmbH, ISBN 978-3-360-01985-1, 240 Seiten, 16,95 Euro.

Anmerkung
(1) einen historischen Roman über den Maler Matthias Grünewald