Aus der Rede zur Auftaktveranstaltung des Tages der Erinnerung und Mahnung am 14. September 2008
Romani Rose, Vorsitzende des Zentralrates deutscher Sinti und Roma
Ich sehe in der Entscheidung, den Tag der Erinnerung und Mahnung an diesem Ort – dem künftigen Holocaust-Denkmal für die ermordeten Angehörigen unserer Minderheit – zu begehen, ein wichtiges gesellschaftspolitisches Zeichen und zugleich einen Ausdruck der Solidarität und Verbundenheit mit den deutschen Sinti und Roma. Hierfür nochmals herzlichen Dank. Wir wollen mit dem heutigen Aktionstag nicht nur das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wach halten, sondern zugleich das Bewußtsein schärfen, daß über 60 Jahre nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus, Rassismus und Menschenverachtung immer noch Teil unserer Gegenwart sind.
Sie gehören zur deutschen Geschichte und Kultur
Die historische Aufarbeitung des Holocaust an unserer Minderheit wie auch das Aufzeigen der ideologischen und personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit waren von Anfang an zentraler Bestandteil unseres politischen Engagements. Vor allem ging – und geht – es uns darum, unsere Menschen endlich vom Stigma des Fremden zu befreien und das Bewußtsein zu schärfen, daß Sinti und Roma seit Jahrhunderten in Deutschland sowie in den anderen europäischen Ländern beheimat sind, deren Geschichte und deren Kultur sie mit geprägt haben.
Das derzeit entstehende Holocaust-Denkmal für die ermordeten Angehörigen unserer Minderheit, an dem wir heute stehen, ist ein Meilenstein in dieser Entwicklung. Das von Dani Karavan gestaltete Denkmal ist in seiner politischen Bedeutung kaum zu überschätzen. Im Herzen der deutschen Hauptstadt gelegen, von wo der Holocaust einst geplant und vorbereitet wurde, reicht die Symbolkraft dieses Denkmals weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. […]
Das Denkmal hält nicht nur die Erinnerung an die Opfer wach, sondern es bezeugt zugleich, daß unsere Minderheit integraler Bestandteil der Geschichte und der Kultur dieses Landes ist.
Ich möchte an dieser Stelle Herrn Kulturstaatsminister Neumann meinen Dank und meine Anerkennung dafür aussprechen, daß er nach Jahren des Stillstands den Prozeß zur Realisierung dieser Erinnerungsstätte mit großem persönlichem Engagement vorangetrieben hat, so daß im Frühjahr dieses Jahres mit dem Bau des Denkmals begonnen werden konnte. Zugleich appelliere ich an die politisch Verantwortlichen, alles dafür zu tun, daß der Bau nun möglichst rasch vollendet wird, damit noch möglichst viele unserer Holocaust-Überlebenden die Einweihung des Denkmals miterleben können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Holocaust an den europäischen Sinti und Roma und den europäischen Juden markiert einen Zivilisationsbruch, der sich allen historischen Vergleichen entzieht. […]
Wenn Rechtsextremisten dieses Verbrechen zu nivellieren oder zu leugnen suchen, verleugnen sie einen Teil unseres historischen Erbes, dem wir uns als Deutsche auch künftig nicht entziehen dürfen. Wer Geschichte verzerrt oder zurechtlügt, der tut seinem Vaterland keinen guten Dienst.
Ich habe dreizehn meiner Angehörigen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern verloren, darunter meinen Großvater und meine Großmutter.
Viele Sinti aus der Generation meiner Großeltern waren deutsche Patrioten, sie trugen voller Stolz ihre Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ebenso wenig wie die deutschen Juden bewahrte sie dies davor, von selbst ernannten "Herrenmenschen" entrechtet, gettoisiert und schließlich in eigens errichtete Todesfabriken deportiert zu werden.
Sinti und Roma sowie Juden wurde vom NS-Staat nur aufgrund ihrer Abstammung in ihrer Gesamtheit das bloße Menschsein abgesprochen. An ihrer systematischen Ermordung war nahezu der ganze Staatsapparat beteiligt.
Es waren Wissenschaftler, die Sinti und Roma systematisch aufspürten und genealogisch erfaßten, um sie der Vernichtung preiszugeben. Es waren Juristen, die die gesetzlichen Grundlagen schufen, um Sinti und Roma als so genannte "Fremdrassige" aus der Gesellschaft und aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Es waren die Beamten, deren einzige Sorge es war, daß die Waggons mit den deportierten Menschen pünktlich die Bahnhöfe verließen.
Und dann gab es die vielen, die einfach wegschauten: die Kollegen und Nachbarn, die tatenlos zusahen, wie Menschen aus ihrer Mitte heraus in die Todeslager verschleppt wurden. An dieses beispiellose Verbrechen zu erinnern, hat nichts mit dem Beharren auf einer spezifisch deutschen Schuld zu tun. Vielmehr geht es um unsere gemeinsame Verpflichtung, diesen Abgrund von Unmenschlichkeit niemals wieder zuzulassen.
Geschichtsfälschung und rechte Gewalt
Es ist gerade diese historisch begründete Verantwortung, die einen elementaren Bestandteil unserer nationalen Identität ausmacht. Wir haben allen Grund, auf die Errungenschaften unserer Demokratie und unserer Zivilgesellschaft stolz zu sein, und diese Werte selbstbewußt zu verteidigen. […]
Formulierungen wie jene von den "beiden deutschen Diktaturen" verwischen die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Vernichtungskrieg im nationalsozialistischen besetzten Europa, der im deutschen Namen begangen wurde und dem Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen, und dem Unrecht nach 1945.
Ich sage dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gefahren durch den organisierten Rechtsextremismus.
Wir erleben seit Beginn der 90er Jahre eine dramatische Zunahme rechter Gewalt. Menschen wurden durch die Straßen deutscher Städte gejagt und brutal mißhandelt oder gar erschlagen, Brandanschläge wurden auf Synagogen verübt, jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten geschändet.
Bis heute reißt diese Kette rechtsradikaler Gewalttaten, die sich auch gegen Angehörige unserer Minderheit richtet, nicht ab. Zweifellos sind die Versäumnisse der Politik mit verantwortlich für diese fatale Entwicklung. Jahrelang wurde die Proklamierung von so genannten ausländerfreien Zonen, die systematische Einschüchterung oder Mißhandlung von Menschen mitten in der Öffentlichkeit von den verantwortlichen staatlichen Stellen vielfach verharmlost oder einfach ignoriert.
Unser besonderes Augenmerk muß der schleichenden, jenseits öffentlicher Wahrnehmung erfolgenden Aushöhlung unserer demokratischen Kultur durch Rechtsradikale, Neonazis und deren intellektuellen Vordenker gelten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Staatsapparat gezielt zu unterwandern und schrittweise öffentliche Positionen zu besetzten.
Gerade die Jugendkultur ist zunehmend von neonazistischen Inhalten geprägt, und dies keinesfalls nur im Osten Deutschlands. Das Internet entwickelt sich immer mehr zu einer Plattform, um Haßpropaganda gegen Minderheiten wie Roma und Sinti oder Juden zu verbreiten, da es bislang keine international wirksamen rechtlichen Instrumente dagegen gibt. Die Leugnung des Holocaust ist integraler Bestandteil der neonazistischen Ideologie, die über unzählige Internetforen immer wieder reproduziert wird. Diesen besorgniserregenden Entwicklungen einen breiten gesellschaftlichen Widerstand entgegenzusetzen, bleibt eine der großen Herausforderungen für die Zukunft.
Einfache Antworten auf das Problem der rechten Gewalt und des ihr zugrunde liegenden rassistischen Menschenbilds, das tief in die Mitte unserer Gesellschaft reicht, kann es nicht geben. Vielmehr geht es darum, langfristige Lösungen zu entwickeln. Zunächst ist es notwendig, die bestehenden Gesetze mit voller Härte gegen rechte Gewalttäter anzuwenden. Schon seit vielen Jahren setzt sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma dafür ein, Gewalttaten mit einem eindeutig rassistischen Hintergrund juristisch in besonderer Weise zu bewerten und das Strafrecht entsprechend zu ergänzen, wie dies etwa in den USA der Fall ist. Ich habe in den letzten Monaten hierüber sehr intensive Gespräche mit den Innenministern der Länder geführt und bin sehr froh, daß unsere Initiative bei den politisch Verantwortlichen so positiv aufgenommen wurde.
Denn leider ist es noch immer gängige Praxis, daß staatliche Stellen den rassistischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund von Gewalttaten bei der statistischen Erfassung zu verschleiern suchen, weil sie außenpolitischen Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik befürchten. Statt die Gefahren von rechts klein zu reden, müssen sich die demokratischen Kräfte gemeinsam der Herausforderung stellen.
Erinnerung als aktuelle Herausforderung
Dafür ist es unerläßlich, die sich herausbildenden lokalen Netzwerke, die sich gegen den dumpfen Rassismus von Rechts engagieren, auch staatlicherseits zu unterstützen. Mit dem bloßen Appell der politisch Verantwortlichen nach mehr Zivilcourage ist es nicht getan. […]
Bei der Entwicklung langfristiger Strategien gegen die rechte Bedrohung spielt historische Aufklärung eine Schlüsselrolle. Das Erinnern an die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen muß zentraler Bestandteil schulischer wie außerschulischer Bildungsarbeit sein. Gedenken an die Opfer des Holocaust bedeutet immer auch Sensibilität gegenüber heutigen Formen von Diskriminierung und Menschenverachtung. […]
Zum Abschluß noch einige geschichtspolitische Bemerkungen. Als Konsequenz des Holocaust gibt es heute in der internationalen Politik eine große Sensibilität für die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus, dessen Anwachsen wir in den letzten Jahren mit großer Sorge beobachten. Demgegenüber hat der gegen Roma und Sinti gerichtete Rassismus kaum einen Stellenwert auf der politischen Agenda.
Das gilt auch für die Wahrnehmung und die Würdigung dieses Verbrechens in den Medien. So wird in TV-Dokumentationen über den Holocaust oder über die Verbrechen des Nationalsozialismus der Völkermord an unserer Minderheit fast nie als solcher benannt oder gar ausführlich behandelt. Sinti und Roma werden allenfalls als "andere Verfolgte" am Rande erwähnt.
Diese jahrzehntelange Verdrängung ist eine wesentliche Ursache dafür, daß die tief verwurzelten Stereotype über unsere Minderheit, die auch von den Nationalsozialisten und den mit ihnen verbündeten faschistischen Regimes gezielt verbreitet wurden, kaum etwas von ihrer Wirkungsmächtigkeit verloren haben und die öffentliche Wahrnehmung unserer Menschen immer noch maßgeblich bestimmen.
Die Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses kann erst dann Wirklichkeit werden, wenn auch der Holocaust an den Sinti und Roma einen festen Platz in der Erinnerungskultur ihrer jeweiligen Heimatländer erhält. Nicht nur Deutschland, von wo dieses Verbrechen seinen Ausgang nahm, sondern auch die mit Hitler-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs verbündeten Staaten sind vor die Aufgabe gestellt, sich den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte zu stellen. […]
Für die Überwindung von gesellschaftlicher Ausgrenzung und rassistischer Gewalt, der die zwölf Millionen Sinti und Roma heute in Europa wie keine andere Minderheit ausgesetzt sind, ist die Auseinandersetzung mit dem Antiziganismus und seinen historischen Wurzeln eine fundamentale Voraussetzung.
Weitere Informationen siehe zentralrat.sintiundroma.de.