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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Aus der Pandemie lernen, was besser zu machen möglich ist

MR Dr. med. Heinrich Niemann, Berlin

 

Vor gut fünf Jahren erklärte die WHO am 22. Januar 2020 eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite, die sich dann, am 11. März als Corona-Pandemie bezeichnet, als größte gesundheitliche Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg in den meisten Ländern der Welt entwickelt hat. In der Bundesrepublik Deutschland wurde am 21. März 2020 die Epidemische Lage erklärt. Seit 5. April 2023 gilt für Deutschland offiziell die Pandemie als beendet.

In unserem Land hatten sich nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) etwa 39 Millionen Menschen an diesem Virus infiziert. Über 75 % der Bürger hatte sich bis Ende 2021 wenigstens einmal impfen lassen.

Etwa eine Million haben noch mit den Folgen von Long-COVID oder mit Impfschäden zu tun. Um die 180. 000 Menschen sind gestorben. Die sogenannte Letalitätsrate lag damit bei 0,48 Prozent, d.h. etwa ein Todesfall auf 200 Erkrankungen. Sehr wichtig ist dabei die altersbezogene Sterblichkeit. Während die Altersgruppe von 0 bis zu 35 Jahren mit insgesamt etwas mehr als 600 Todesfällen eine sehr geringe Letalität zu verzeichnen hatte (weniger als 1 Todesfall auf 25.000 Erkrankte) erreichte sie bei der Gruppe der 60 bis 79-Jährigen mehr als ein Prozent und bei den über 80-jährigen Menschen 6,69 Prozent.

Die Forderung, Schlussfolgerungen und Lehren aus dieser Pandemie für Deutschland taucht zwar immer wieder auf, jedoch mit Blick auf den Wahlkampf und andre politische Themen scheint sie seltener geworden. Bisher gibt es jedoch weder für den Deutschen Bundestag, für die Bundesregierung noch für die überaus meisten Bundesländer Beschlüsse, die eine Auswertung der Pandemie zur Aufgabe stellen, geschweige denn sogar Ergebnisse ausweisen.

Also hat es anscheinend doch einigermaßen gut geklappt, ist doch Deutschland ganz gut über die Runden gekommen. Im Vergleich zu anderen entwickelten Staaten sind statistisch auch kaum Unterschiede auszumachen, allerdings sind die jeweils angewendeten Verfahren selbst oft nicht vergleichbar.

Es gibt inzwischen eine nicht mehr überschaubare Fülle von Veröffentlichungen zu diesem Thema. Auch von relevanten Institutionen beziehungsweise Gremien so des Deutschen Ethikrates »Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie« vom April 2022. Darin wird in 111 thesenhaften Aussagen und 12 Empfehlungen bedenkenswert Stellung genommen, wurden schon Kritiken und Schlussfolgerungen formuliert.

Der Sachverständigenausschuss nach dem Infektionsschutzgesetz im Juni 2022 wie auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (August 2023) haben sich damit befasst. Wissenschaftliche Gesellschaften wie die Leopoldina« oder die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften haben Stellung genommen.

Kanzlerin Angela Merkel zur Pandemie

In ihren Ende 2024 erschienenen Erinnerungen »Freiheit« beschreibt Ex-Kanzlerin Angela Merkel in einem relativ langen eigenen Abschnitt »Die Pandemie« ihre Sicht und ihre Erfahrungen als Bundeskanzlerin bei der Bekämpfung der Pandemie. Man kann ihr die Schilderung ihrer Einschätzungen, Entscheidungen, ihres persönlichen Engagements und ihrer Befindlichkeit in dieser gerade auch für sie sehr komplizierten Periode als so von ihr gesehen und gedacht abnehmen. Für sie war die Pandemie – so ihre Zwischenüberschrift – »Eine demokratische Zumutung«. Sie bekennt sich dabei zur Föderalen Struktur der Bundesrepublik. Sie schildert ihr Zusammenwirken und auch ihre Konflikte mit den Ministerpräsidenten der einzelnen Bundesländer, die ja rechtlich-formal für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zuständig sind. Und betont dabei »als Bundeskanzlerin war ich diejenige, die zusammen mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Bundesländer die Maßnahmen gegen das Virus beschloss.«

Das Bundesministerium für Gesundheit, der Gesundheitsminister und vor allem die diesem Ministerium untergeordneten und vom Potential her leistungsfähigen Institutionen wie das RKI spielen bei ihr als die nicht nur für mich als eigentlich fachlich entscheidenden Instanzen für die Pandemiebekämpfung zumindest eine kaum nachlesbare Rolle.

Zu einer eventuell notwendigen Auswertung der Pandemiebekämpfung ist explizit kein Wort zu finden. Sie stellt in Ihrem Text auch die Struktur des bundesdeutschen Gesundheitswesens nicht in Frage. Auch nicht, ob zumindest in der Zeit der Pandemie nicht bestimmte Defizite zu Tage getreten sind. So zieht sich Angela Merkel wie die Ministerpräsidenten jeweils eigene Fachberater heran, während die Forderungen der verfassten Ärzteschaft der Bundesärztekammer und vieler Experten zur Schaffung eines Pandemierates mit Vertretern aller relevanten Fachdisziplinen, also nicht nur Virologen, bis fast zuletzt ignoriert werden.

Der Virologe Hendrik Streeck und andere zur Pandemie

Etwa zur gleichen Zeit ist ein Buch von Hendrik Streeck mit dem Titel »Nachbeben – die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können« erschienen. Der in der Pandemie bekannt gewordene Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn fordert ausdrücklich eine baldige Auswertung und er entwickelt dazu seine Erkenntnisse und fundierten Schlussfolgerungen.

Nicht wenige der Wortmeldungen zur Pandemie verbinden ihre nicht unberechtigte Kritik an bestimmten Maßnahmen und politischen Entscheidungen zur Corona-Bekämpfung sehr stark mit emotionaler Betroffenheit und pauschalen moralisierenden Polemiken, die jedoch wenig weiterhelfen.

Linksorientierte Kritiker der Pandemiepolitik verweisen zu Recht auf die kapitalistischen Verwertungsstrukturen und Profit-Mechanismen, die sich deutlich während der Pandemie als bestimmend auf Strukturen der Bekämpfung offenbart haben und sind verständlicherweise auch skeptisch, ob überhaupt Lehren aus der Pandemie ziehbar sind, also praktische Veränderungen wirklich möglich wären.

Daniela Dahn weist am Ende ihres aktuellen Buches »Der Schlaf der Vernunft« mahnend auf die Gefahren der sogenannten »Gain of Function«–Forschung, die durch gentechnischen Einbau Eigenschaften natürlich vorkommender Viren verändert, vorgeblich um Pandemien besser begegnen zu können, und fordert, dass der Eid des Hippokrates auch für die Forschung gelten solle, Patienten nicht zu schaden.

Dass solche Forschungen nicht selten aus militärischen Fördertöpfen, so in den USA, finanziert werden, sollte nicht übersehen werden.

Zudem hatten sich – von der Öffentlichkeit offenbar wenig ernst genommen – auf internationaler Ebene spätestens seit Jahrhundertbeginn internationale Gremien regelmäßig mit der Gefahr von Virusepidemien befasst, zuletzt 2017 z.B. das Weltwirtschaftsforum in Davos oder die Münchener Sicherheitskonferenz (dabei Auftritte von Bill Gates) und Ende 2019 sogar ein Planspiel »Event 201« in New York, das an einem Coronavirus eine Pandemie simuliert hatte.

Lehren aus der Pandemie zwingend notwendig

Als Arzt und im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung und jedes Einzelnen sind für mich jedoch Lehren aus der Pandemie zwingend notwendig und bei politischem Willen der dazu Befugten demokratischen Gremien bzw. Verantwortlichen in unserem Land auch möglich. Das erfordert allerdings wegen der Komplexität eine große Sorgfalt und ein möglichst von Emotionen freies sachliches Vorgehen. Eine klare Struktur und alle betroffenen medizinischen und gesellschaftlichen Bereiche erfassende Fragestellungen sind erforderlich.

Entsprachen die Maßnahmen und politischen Entscheidungen zu ihrem Zeitpunkt dem bekannten fachlichen Erkenntnisstand? Sind das Gesundheitswesen und die anderen gesellschaftlichen Bereiche ausreichend auf eine epidemische Lage vorbereitet? Was muss verändert werden?

Im Folgenden werden ausgewählte Antworten und Schlussfolgerungen dargestellt.

Klare Verantwortungsstruktur bestimmen

Eine klare Verantwortungsstruktur der für Gesundheit zuständigen Behörden und Institutionen muss definiert werden. Die Pandemie offenbarte in Deutschland eine unklare, sehr verteilte Zuständigkeit für die Bekämpfung von epidemischen oder anderen das ganze Land betreffenden gesundheitlichen Gefahren. Ich bin der Auffassung, dass diese Zuständigkeit im Grundsatz in einer Hand nämlich des Ministeriums für Gesundheitswesens und den dieser Behörde zugeordneten, ja auch leistungsfähigen Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und anderen Einrichtungen liegen muss.

Prof Streeck dazu: »Zuständig für das Pandemiemanagement ist als obere Bundesbehörde im Gesundheitswesen das Robert Koch Institut (RKI), zu dessen Kernaufgaben die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zählt.« Aber laut Streeck wurde diese Aufgabe vom RKI völlig ungenügend erfüllt. Dabei stellt er unter anderem auch die Frage. »Warum wollte, konnte oder durfte das RKI diese wichtige pandemiebegleitende Forschung nicht durchführen?« Streeck stellt fest, »In Deutschland kam es bald zu einem Flickenteppich an Regelungen, denn jedes Bundesland machte, was es für richtig hielt – Über die Vorgaben der Bundesregierung hinaus.« Er meint schließlich, die von ihm ausgesprochene »strukturelle Kritik richtet sich daher nicht an das RKI selbst, sondern an den Auftrag, den die Politik dem RK I gegeben hat.«

Art und Kompetenz der fachwissenschaftlichen Beratung

Zur Art und Kompetenz der fachwissenschaftlichen Beratung der politisch Verantwortlichen habe ich mich mehrmals kritisch geäußert. Ich fühle mich durch Streeck bestätigt, wenn er die fehlende Transparenz der Berater als Problem sieht und erinnert, wie »Einzelmeinung von Experten wie Pilze aus dem Boden schossen«, anstelle koordinierter Informationsgewinnung und -Vermittlung. »Die Pandemie hat deutlich gemacht, wie essenziell wissenschaftlicher Rat für politisches Handeln sein kann, besonders bei komplexen Themen. Dass sich das Kanzleramt in der Anfangsphase nur von wenigen Wissenschaftlern beraten ließ, führte dann allerdings zu einer Schlagseite, eine Einseitigkeit der Perspektive, die eine vereinfachte Darstellung komplexer wissenschaftlicher Fragen zur Folge hatte und eine politisierte Spaltung wissenschaftlicher Ansichten in ›richtig‹ und ›falsch‹.« Zum schließlich aufgestellten Expertenrat stellt er fest, dass »noch mehr Fachdisziplinen wünschenswert gewesen wären, die den wissenschaftlichen Diskurs gestärkt hätten. … In meinen Augen waren viel zu viele Virologen dabei, während Juristen und Hygieniker nicht einbezogen wurden.«

Fehlende Begleitforschung und unzureichende statistische Darstellung

Nach Streeck blieb eine eigene epidemiologische Forschung unter den Erfordernissen und wurde nicht gefördert. Die einmalige Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begleitung der Pandemie wurde im Unterschied zu anderen Ländern verschenkt. »Wichtige Parameter wie die Infektionssterblichkeit. der Anteil schwerkranker oder asymptomatisch Infizierter sowie das Verhalten des Virus bei Kindern lernten wir vornehmlich aus dem Ausland, wo Daten gesammelt und Studien frühzeitig angestoßen worden.«

Die statistische Analyse und Beschreibung der Pandemie blieb zum Teil unter den epidemiologischen Standards, verzichtete zeitweise auf bewährte Kennziffern und überließ Medien eine vereinfachende, oft Angst erzeugende Zahlendarstellung. Der Inzidenz als Kennziffer wurde ein Vorrang eingeräumt, obwohl sich deren Zahlengrundlagen im Laufe der Pandemie stark veränderten. Anhaltende Forderungen von Fachleuten wurden viel zu spät vollzogen: zur möglichen Differenzierung in gesunde, infizierte und tatsächlich erkrankte Menschen, zur Unterscheidung nach Altersgruppen und zur tatsächlichen Krankheitslast für das Gesundheitswesen. Die in den Medien oft verwendeten kumulativen Zahlendarstellungen widersprachen den Regeln der Morbiditätsstatistik.

Kontaktpersonennachverfolgung (KPN)

Für Prof. Streeck bleibt – auch mit Blick auf die Erfahrungen Südkoreas und anderer Länder – eine wesentlich bessere Kontaktnachverfolgung am Beginn einer Epidemie/Pandemie ein entscheidendes Mittel, »unser schärftes Schwert« der Eindämmung epidemischer Prozesse. »Die Identifizierung und Quarantänisierung von Infizierten und ihren Kontaktpersonen ist ein effektives Vorgehen, um Ausbrüche zu einzudämmen.« Das habe aber in Deutschland aus verschiedenen Gründen am Beginn der Pandemie nicht effektiv genug funktioniert (Spätes Reagieren des Gesundheitswesens und der Gesellschaft, Überforderung der Gesundheitsämter, ihre schlechte digitale Ausstattung, die die die Kontaktdatenübermittlung verzögerte, die so langsamer als die Viren war. Es wurden Soldaten der Bundeswehr hinzugezogen, leider wurde m.E. aber ein Einsatz z.B. von Medizinstudenten zur Unterstützung der Kontakterfassung nicht in Betracht gezogen.

Impfen verlangt Sorgfalt

Die Möglichkeit, eine epidemische Erkrankung mit Impfungen zu bekämpfen, bleibt eine zentrale herausfordernde praktische Aufgabe. Seit den Impfungen gegen Pocken wurde meines Wissens in Deutschland zum ersten Mal das Ziel verfolgt, eine gesamte erwachsene Bevölkerung zu impfen. Der erfreulich schnellen Entwicklung und Herstellung von Vakzinen und der beeindruckenden großen Bereitschaft der meisten Menschen, sich impfen zu lassen, stand neben den anfänglich gut eingerichteten Impfzentren später nicht nur eine schlecht funktionierende Praxis im ambulanten Bereich, sondern auch der zurecht gescheiterte Versuch entgegen, eine gesetzliche Impfpflicht gegen das Coronavirus einzuführen. Dass Impfungen immer auch Nebenwirkungen haben können, ist eine bekannte Tatsache. Und dass die COVID-Impfungen leider keine Infektionen verhindern konnten, war schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt erkannt worden. Die Ausgrenzung und Verteufelung der nicht zur Impfung bereiten beziehungsweise nicht erreichten Menschen war zu keiner Zeit medizinisch, rechtlich und sozial zu rechtfertigen. Die Rolle der Pharma-Unternehmen und vor allem deren Verantwortung für die Qualität der Impfstoffe braucht ebenfalls eine Nacharbeit. Die festgestellten zwar seltenen, aber neuartigen Nebenwirkungen zwingen zu einer möglichst schnellen Klärung.

Ich konnte mich in der Presse ausführlich zur Problematik der Impfpflicht äußern (vgl. Berliner Zeitung vom 22. März 2022). Die erstaunlich hohe Bereitschaft, sich impfen zu lassen, war doch eigentlich eine sehr positive Situation. 90 % der erwachsenen Bevölkerung hatte schon wenigstens eine Impfung erhalten. Das Räsonieren der Politik, so auch der Bundeskanzlerin, die die erreichten 74,1 % aller Bürger Ende 2021 mit »nur« relativierte, zeigte die zwar nicht unverständliche politische Sorge, war aber auch Hinweis auf nicht genügendes Verständnis epidemiologischer Abläufe.

Mich hat sehr verwundert, wie sich plötzlich die politischen Parteien bis hin zur Linken der Impfpflicht zuwandten, die doch gerade noch als Inbegriff von Diktatur verteufelt worden war. Nur im Falle einer tatsächlich infektionsverhindernden Wirkung der Impfstoffe wäre die Debatte überhaupt zusammen mit einer weiteren Frage gerechtfertigt gewesen, ob der Staat, der eine hohe Durchimpfung für erforderlich hält, auch organisatorisch in der Lage ist, alle betroffenen Bürger mit einer Impfung zu erreichen. Nicht mit Polizeivorführungen, sondern mit funktionierenden Strukturen des Gesundheitswesens. Das ist die Bundesrepublik nicht. Nicht einmal eine ausreichend termingerechte Impfung von Kindern gegen Poliomyelitis wird laut RKI gegenwärtig erreicht.

Das »Dilemma der Quarantäne« aushalten

Schließlich steht die wohl schwierigste Frage im Raum. Eine wesentliche Besonderheit der Bekämpfung von Epidemien sind all die Maßnahmen, die das Verhalten der gesunden Bevölkerung und die Arbeit anderer gesellschaftlicher Bereiche bis hin zur Wirtschaft betreffen. Paolo Giordano, ein italienischer Autor, beschreibt am Beginn der Pandemie in seinem Büchlein »In Zeiten der Ansteckung« die Grundregeln einer Epidemie und appelliert an die Einsicht, Solidarität und Vernunft der Menschen. »Die Epidemie ermuntert uns also, uns als Teil eines Kollektivs zu begreifen« und, dass wir mehr Vorstellungen entwickeln müssen, warum das Verhalten auch eines jeden Gesunden das epidemische Geschehen beeinflusst. Es gelte eine »Mathematik der Vorsicht«, die aber helfe, das »Dilemma der Quarantäne« für die Nichtinfizierten auszuhalten und zu begreifen.

Für Bekämpfungsmaßnahmen, die auch andere Teile der Gesellschaft, also die »Gesunden« betreffen, oder die zusätzliche gesellschaftliche Kräfte nötig machen, sind nicht nur hohe gesellschaftliche Akzeptanz Voraussetzung, sondern fachlich gut begründete politische Entscheidungen. Die anhaltende Kritik an den Corona-Maßnahmen setzt ja vor allem an der Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen an.

Inwieweit waren die veranlassten sogenannten NPI »Nicht Pharmakologischen Interventionen« zum Zeitpunkt ihrer Auslösung gerechtfertigt? Der Sachverständigen-Ausschuss des Bundestages erinnert: »Bereits im Jahr 2001 wurde vom RKI darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der im Infektionsschutz Gesetz verankerten Non Pharmaceutical Interventions (NPI) im Pandemiefall, etwa die Schließung von Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen, das Verbot von Veranstaltungen oder die Verhängung einer Quarantäne genauso wie Grenzkontrollen oder Beschränkungen des internationalen Reiseverkehrs, nicht näher untersucht und deren Wirksamkeit daher unbekannt sei. Dem RKI war bereits klar, dass demzufolge diese Maßnahmen nur probatorisch angeordnet werden können. Es wurde angemahnt, Ihre Effektivität vor der Pandemie zu klären.«

Die getroffenen Entscheidungen über Quarantäne, Kontakteinschränkungen, Abstände, das Tragen von Masken, Hygieneforderungen, die Schließung von Einrichtungen und so weiter, der Lockdown bis hin zur Null-COVID-Idee bestimmen bis heute die politische Auseinandersetzung. Eine Reihe davon war und ist zu akzeptieren, andere waren nicht genügend medizinisch-epidemiologisch und sozial begründet. Einige Maßnahmen waren nicht gerechtfertigt, wie die lange und totale Schließung von Schulen und Kindereinrichtungen, aber auch Kontaktbeschränkungen im Freien oder das rigorose Kontaktverbot für Angehörige alter Menschen in Heimen.

Dazu legt Streeck zur Untermauerung Ergebnisse von vorliegenden Untersuchungen über Sinn und Wirkung solcher Maßnahmen vor.

Schulschließungen

Die lang dauernden Schließungen von Schulen und Kindereinrichtungen erweisen sich auch im Lichte aktueller Studien als vermeidbar. Sie waren, epidemiologisch gesehen, relativ sichere Orte. Schon am Beginn der Pandemie wurde auf den gesicherten und erfreulichen Umstand hingewiesen, dass Kinder nur sehr leicht erkrankten. Es kam bei den 0-14-jährigen Kindern nur zu sehr, sehr wenigen Todesfällen (1 auf 50.000 Fälle), fast alle mit Vorerkrankungen. Kinder waren also keine »Pandemietreiber«.

Bedrückend für mich ist, dass offensichtlich die kritischen Hinweise, so von Kinderärzten, lange ignoriert wurden, wonach Schule und Kita nicht nur Lernorte sind, sondern unersetzbarer Ort sozialen Aufgehobenseins im weiten Sinne, der durch einfaches Schließen nicht ersetzt werden kann. Dass hierbei zwar Berichte zur Spanischen Grippe herangezogen wurden, dabei aber das genau aus dieser Sorge getroffene Votum Berliner Ärzte 1918 gegen Schulschließungen übersehen wurde, ist ein für sich sprechendes Detail.

Tragen von Schutzmasken

Inzwischen bestätigen Studien, dass das Tragen von Schutzmasken, wo sich hohes Infektionsgeschehen abspielt und wenn man sie richtig trägt, eine wichtige Maßnahme bleibt.

Null-COVID-Kampagne

Die von einigen Akteuren favorisierte und in einigen Ländern erprobte Null-COVID-Kampagne (Ausrottung des Virus mit einem totalen Lockdown) erwies sich mit der Tatsache, dass dieses Virus nicht nur in der menschlichen Population vorkommt, als Irrweg. »Alle Indikatoren sprechen daher derzeit dafür, dass eine endgültige Eradikation des Virus nicht möglich sein wird«, stellte auch der Ethikrat fest.

Inwieweit in der Wirtschaft, d.h. hier an den Orten, an denen die Menschen täglich ihre Arbeit verrichten, hinreichend Möglichkeiten eines Schutzes der Beschäftigten erschlossen wurden bzw. werden könnten (über das Homeoffice hinaus), bleibt eine teils offene und besondere Frage an die Zukunft.

Schutz der Gesundheit – Verfassungsrecht

Für den Ethikrat kreisten die Abwägungen zur Pandemie um zwei bedeutende Pole: »der Pol der Freiheit und jener des Gesundheitsschutzes. Es müssten Relationen formuliert werden, in welchen Fällen bei der Bekämpfung von Pandemie Freiheit zu Gunsten des Gesundheitsschutzes zurücktreten sollte beziehungsweise umgekehrt.«. Ich stelle die Frage so: Ist nicht ein wirksamer und von den Menschen akzeptierter Gesundheitsschutz eigentlich ein besonderer Ausdruck von Freiheit? Anders gedacht: der Schutz der Gesundheit sollte endlich als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen werden.

MR Dr. med. Heinrich Niemann (*1944), Facharzt für Sozialhygiene/Sozialmedizin. Arbeit in der Ost-Berliner Gesundheitsverwaltung und -politik, 1986-1990 Geschäftsführer der DDR-Sektion der Internationalen Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg (IPPNW), 1992 bis 2006 Bezirksstadtrat für die PDS/Linke (Gesundheit, Stadtentwicklung) in Hellersdorf bzw. Marzahn-Hellersdorf, ehrenamtlich tätig in mehreren Vereinen, Vorsitzender des Vereins »Freunde Schloss Biesdorf e.V.« (2008-24)