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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Aus "Der 9. November" von Bernhard Kellermann

Leseprobe

Soldaten überall, einzeln, in Trupps, in Scharen in ihren armseligen, geflickten Uniformen. Durch das Blutmeer sind sie geschritten, dem Blutmeer sind sie entstiegen, noch sind sie betäubt vom Geruch des Menschenbluts, schon aber glänzt eine neue Hoffnung.

Düster gleitet der Blick des Generals über sie hin, seine Lippen zucken: die deutsche Armee –.

Er fröstelt.

Kriegsgefangene, auch sie sind frei. In Rudeln schieben sie durch das Gedränge. Franzosen und Russen, Italiener und Engländer, Schotten und Irländer, Kanadier und Neger, Australier, Inder, in allen denkbaren Uniformen. Sie rauchen, kratzen sich die stachligen Backen, spucken aus, schnattern. Einer humpelt auf seinem Holzstumpen dahin. Aber er lacht. Ja, weshalb nicht? Der Krieg ist gewonnen, der Präsident wird ihn auf die Wange küssen und ihm eine Blechmünze auf die Brust heften. Sein Vaterland wird ihm eine Rente aussetzen, zwanzig, dreißig, vielleicht hundert Franc den Monat, eine Drehorgel wird er gratis erhalten, er hat keine Sorge mehr.

Schon aber wandeln sie stolz und unnahbar durch die kochenden Straßen, die Brust voller Ordenssterne, mit roten Streifen an den Hosen, Litzen und Tressen glitzernd und funkelnd: die Sieger! Ein Geruch von Lorbeer bleibt hinter ihnen zurück. Von weitem schon erspäht sie das Auge des Generals. Rasch begibt er sich auf die andere Seite der Straße und sieht sie dahinwandeln. Sie also! Die Würfel fielen. [...]

Hell gegen den funkelnden blauen Himmel, hell und leuchtend flattert die rote Fahne über dem Schloß. Versprechungen – Lügen, freie Meinung – Gefängnis, Freiheit – Kartätschen; ja nun also flattert die rote Fahne auf dem Schloß.

Im Gebäude des Reichstages tagte das Parlament der Novembermänner, im Abgeordnetenhaus und im Herrenhaus, wo die Greise noch gestern um Nichtigkeiten feilschten, beraten sie. Wo man nur flüsterte, tobt der Lärm, wo die Diener die Stiefel des Unbekannten musterten, kauerten die Posten bei ihren Maschinengewehren. Fort die Gehröcke und Gamaschen, die Flüsterer, die wehenden Greisenbärte und funkelnden Glatzen, die krummen Rücken!

Hüte dich! Wie eine Stichflamme brennt die neue Sonne am Himmel. Sie stieg empor aus dem weiten Rußland, benetzt von Blut und Tränen. Sie hat die Weichsel überschritten. Sie wird den Rhein überschreiten. Sie wird den Kanal überschreiten – benetzt von Blut und Tränen. Jenseits des Atlantiks wird sie aus dem Meer steigen, und die Stahlkammern der Wolkenkratzer werden in der Stichflamme dahin schmelzen – auch die Pyramiden der ägyptischen Könige sind heute nicht mehr als Steinhaufen ohne jeden Sinn.

Auch aus den Fluten des Stillen Ozeans wird sie eines Tages auferstehen, wo die gelben Völker wohnen.

Die Greise, die Grausamen, die Vermessenen, die die Geschicke der Völker lenken, wird sie verzehren, die neue Sonne; ehe sie es gewahr werden – ehe sie lallen können, werden sie nicht mehr sein.

Die Geschichte wird ihre Namen verzeichnen, wie sie den Namen Neros verzeichnete, der Menschen als Fackeln brannte.

Aber vor ihren Namen wird Neros Name verblassen.

Der Roman erschien 1920 und wurde 1933 öffentlich verbrannt. Bernhard Kellermann (1879-1951) war in der DDR Vizepräsident des Kulturbundes und Nationalpreisträger.

Quelle: Berlin, Verlag Volk und Welt, 1968, S. 516 ff.