Aus dem Großen Vaterländischen Krieg
Auszug aus: Michail Scholochow - Ein Menschenschicksal
Immer unerträglicher wird in Medien der hasserfüllte Ton gegen Russland. Es fehlt an jeglichem Respekt vor den unvorstellbaren Opfern, die die Sowjetunion erbringen musste, um sich selbst und die Menschheit von der faschistischen Barbarei zu befreien. Es fehlt beinahe jegliches Unrechtsbewusstsein für die monströsen Verbrechen, denen im II. Weltkrieg 27 Millionen Sowjetbürger zum Opfer fielen. Wir wollen zum Auftakt des Jahres, in dem sich der Beginn des II. Weltkrieges zum 75. Mal jährt, besonders der sowjetischen Opfer gedenken.
Am 27. Januar 1944 konnte die Rote Armee mit ihrer Winteroffensive die zweieinhalb Jahre dauernde Blockade Leningrads beenden und die Stadt befreien. Daniil Granin und Ales Adamowitsch haben mit ihrem "Blockadebuch I und II" den Leningradern ein großartiges literarisches Denkmal gesetzt. Es besteht überwiegend aus Interviews mit Überlebenden, Betroffenen aller Bevölkerungsschichten. Die Autoren erstellen nicht nur Zeugnisse über die Organisation des Alltags und die Existenznöte, sondern auch von der Erhaltung der Menschenwürde und des Widerstandswillens der Einwohner der späteren Heldenstadt.
Michail Scholochow, dessen 30. Todestag wir am 21. Februar 2014 begehen, erinnert mit seiner Erzählung "Ein Menschenschicksal" unvergänglich an den Heldenmut und die Größe des Kampfes der Sowjetvölker, darunter des russischen.
Linke sollten diese Bücher kennen, sie zu einem Teil ihrer Kultur machen. Wir dokumentieren Auszüge aus beiden Werken (Zum "Blockadebuch" siehe Rücktitel).
Michail Scholochow: Ein Menschenschicksal
Zum Übernachten trieb man uns in eine Kirche mit zerschossener Kuppel. Auf dem Steinboden kein Hälmchen Stroh, und wir waren alle ohne Mäntel, bloß in Feldblusen und Hosen, [...]
Im Halbschlaf spürte ich auf einmal, wie mich jemand am Arm berührt: "Genosse, bist du verwundet?" Ich entgegne: "Warum willst du das wissen, Kamerad" Er darauf: "Ich bin Arzt, vielleicht kann ich dir helfen." Ich klage über meine linke Schulter, daß sie anschwillt und entsetzlich weh tut. Er befiehlt mir: "Zieh die Feldbluse und das Hemd aus." Ich tue es, und er beginnt mir mit seinen dünnen Fingern die Schulter abzutasten‚ aber so, daß mir grün und blau vor den Augen wird. Ich knirsche mit den Zähnen und zische ihn an: "Du bist sicher ein Tierarzt, aber kein Menschendoktor! Was drückst du denn so an der wehen Stelle, hast du denn gar kein Herz?" Aber er betastet mich ruhig weiter und antwortet kurz angebunden: "Halt den Mund! Jetzt ist keine Zeit zum Quasseln. Nimm dich zusammen, gleich wird es noch weher tun." Und dabei zerrt er an meinem Arm, daß mir Hören und Sehen vergeht. Ich hole tief Atem und knurre: "Was machst du denn, du verfluchter Faschist, ich habe einen gebrochenen Arm, und du reißt ihn mir beinahe aus!" Ich höre, wie er leise vor sich hin lacht und sagt: "Ich dachte, du würdest mir mit der rechten Hand eine kleben, aber du bist, scheint's, ein friedlicher Bursche. Und dein Arm ist nicht gebrochen, er war nur ausgerenkt, und ich habe ihn wieder eingerenkt. Na, wie fühlst du dich jetzt, ist dir leichter?" Und wirklich, ich spüre, daß der Schmerz langsam vergeht. Ich danke ihm aus vollem Herzen, und er geht in der Dunkelheit weiter und fragt halblaut: "Wer ist verwundet?" Das nenn' ich mir einen wahren Arzt. Der hat sein großes Werk sogar in der Gefangenschaft getan, sogar in der Dunkelheit. [...]
Ich zog meine nassen Lumpen aus, warf sie auf die Pritsche und sagte: "Die verlangen von uns, daß wir vier Kubikmeter schaffen, und dabei wäre ein Kubikmeter mehr als genug für das Grab eines jeden von uns." Kaum hatte ich das gesagt, da fand sich auch schon unter den eigenen Leuten ein Schuft, der dem Lagerkommandanten meine bitteren Worte hinterbrachte. [...]
Also dieser Kommandant ließ mich am nächsten Tag, nachdem ich das über die Kubikmeter gesagt hatte, zu sich rufen. Abends kommt ein Dolmetscher, von zwei Posten begleitet, in die Baracke. "Sokolow Andrei!" Ich melde mich. "Mitkommen, der Herr Lagerführer hat nach dir verlangt." Klar, wozu. Zu einer Abreibung. Ich verabschiede mich von den Kameraden‚ sie wissen alle, ich gehe in den Tod. Ich seufze und folge den Posten. Auf dem Lagerhof schaue ich zu den Sternen hinauf, verabschiede mich auch von ihnen und denke: Jetzt hast du ausgelitten, Andrei Sokolow‚ Nummer 331. Nur um Irina und die Kinder tat es mir leid, aber das ging vorbei, und ich raffte allen Mut zusammen, um furchtlos in die Pistolenmündung zu schauen, wie sich das für einen Soldaten gehört. Die Feinde sollten nicht merken, wie schwer es mir fiel, aus dem Leben zu scheiden ...
In der Kommandantur - Blumen auf den Fensterbrettern, und alles blitzblank sauber, wie bei uns in einem guten Klub. Um den Tisch die ganze Lagerobrigkeit. Fünf Männer sitzen da, trinken Schnaps und essen Speck dazu. Auf dem Tisch eine angebrochene Literflasche, Brot, Speck, Wurst und Konserven. Beim Anblick aller dieser leckeren Dinge wurde mir so schlecht, ob du es glaubst oder nicht, daß ich mich fast übergeben hätte. Ich war ja hungrig wie ein Wolf und nicht mehr an richtiges Essen gewöhnt - und plötzlich dieses üppige Mahl vor den Augen ... Irgendwie überwand ich den Brechreiz, aber es kostete mich große Mühe, den Blick vom Tisch loszureißen.
Direkt vor mir sitzt der angetrunkene Müller, spielt mit der Pistole, wirft sie aus einer Hand in die andere und blickt mich dabei starr an wie eine Schlange. Ich lege die Hände an die Hosennaht, knalle die abgetretenen Absätze zusammen und melde laut: "Kriegsgefangener Andrei Sokolow wie befohlen zur Stelle, Herr Kommandant!" Er fragt mich: "Na, Iwan, du meinst also, vier Kubikmeter Norm sind zuviel?" - "Jawohl, Herr Kommandant", sage ich, "das ist zuviel." - "Aber zu einem Grab für dich reicht es?" - "Jawohl, Herr Kommandant, es reicht vollauf, es bleibt sogar noch was übrig."
Er steht auf und sagt: "Ich werde dir die große Ehre erweisen und dich wegen dieser Worte höchst eigenhändig erschießen. Hier ist nicht der Ort dafür, komm mit auf den Hof, dort werden wir abrechnen." - "Wie Sie meinen", antworte ich. Er bleibt eine Weile stehen, denkt nach, legt dann die Pistole auf den Tisch, schenkt ein volles Glas Schnaps ein, nimmt ein Stück Brot, legt eine Scheibe Speck darauf und reicht mir das alles mit den Worten: "Trink vor dem Tod auf den Sieg der deutschen Waffen, Iwan."
Ich hatte das Glas und das Brot mit dem Speck schon genommen, als ich aber das hörte, stieg mir das Blut zu Kopf. Ich, ein russischer Soldat, soll auf den Sieg der deutschen Waffen trinken? dachte ich. Weiter willst du nichts, Herr Kommandant? Sterben muß ich sowieso, also scher dich mit deinem Wodka zum Teufel!
Ich stelle das Glas wieder hin, lege das Brot mit dem Speck daneben und sage: "Vielen Dank für die Bewirtung, aber ich trinke nicht." Er grinst. "Ah, du willst nicht trinken auf unsern Sieg, na schön, dann trink auf dein Ende." Was hatte ich schon zu verlieren? Also sage ich: "Auf mein Ende und die Erlösung von allen Leiden will ich gern trinken." Damit nehme ich das Glas und leere es in zwei Schlucken, das Brot und den Speck aber rühre ich nicht an, wische mir manierlich den Mund mit dem Handrücken ab und sage: "Vielen Dank für die Bewirtung. Ich bin bereit, Herr Kommandant, gehen wir, rechnen Sie mit mir ab."
Er aber schaut mich aufmerksam an und sagt: "Iß wenigstens was vor dem Tod." Ich darauf: "Nach dem ersten Glas esse ich nie etwas nach." Er schenkt mir ein zweites ein und reicht es mir. Ich trinke auch das zweite aus, das Brot aber rühre ich wieder nicht an. Ich gehe aufs Ganze, denn ich sage mir: Besser, du betrinkst dich, bevor du auf den Hof gehst und dein Leben läßt. Der Kommandant zieht seine weißen Brauen hoch und fragt: "Was ist los, Iwan, warum ißt du nichts nach, genier dich nicht!" Ich bleibe dabei: "Entschuldigen Sie, Herr Kommandant, aber ich esse auch nach dem zweiten Glas nie etwas nach." Er bläst die Backen auf und prustet, dann bricht er in schallendes Lachen aus und sagt schnell zu seinen Freunden etwas auf deutsch, offenbar übersetzt er ihnen meine Antwort; Die lachen auch, rücken die Stühle, drehen mir ihre Fressen zu und blicken mich, das sehe ich genau, auf einmal ganz anders an, irgendwie freundlicher.
Der Kommandant schenkte mir ein drittes Glas ein. Dabei zitterten ihm die Hände, so schüttelte er sich vor Lachen. Dieses Glas leerte ich auf einen Zug und biß danach ein kleines Stück Brot ab, den Rest legte ich auf den Tisch zurück. Ich wollte den verfluchten Hunden zeigen, daß ich, wenn ich auch vor Hunger verrecke, nicht die Absicht habe, ihre Almosen hinunterzuwürgen; daß ich mir die Würde und den Stolz eines Menschen, eines Russen bewahrt habe; daß es ihnen trotz allen Bemühungen nicht gelungen ist, mich in ein Tier zu verwandeln.
Danach setzte der Kommandant eine ernste Miene auf, rückte seine zwei Eisernen Kreuze auf der Brust zurecht, kam ohne Waffe hinterm Tisch hervor und sagte: "Hör zu, Sokolow, du bist ein echter russischer Soldat. Du bist ein tapferer Soldat. Ich bin auch Soldat und achte einen aufrechten Gegner. Ich werde dich nicht erschießen. Außerdem haben heute unsere ruhmreichen Truppen die Wolga erreicht und Stalingrad vollständig eingenommen. Das ist für uns eine große Freude, und deshalb schenke ich dir großmütig das Leben. Geh zurück in deinen Block, und das hier ist für deinen Mut!" Und damit gab er mir einen kleinen Laib Brot und ein Stück Speck. [...]
Und da sehe ich eines Tages vor der Imbißstube diesen Jungen sitzen. Am nächsten Tag sehe ich ihn wieder. So ein kleines zerlumptes Kerlchen, das ganze Gesichtchen mit Melonensaft vollgeschmiert, und darauf klebt der Staub. Er starrt vor Schmutz und ist struppig, der Kleine, aber Augen hat er, klar wie die Sterne am Himmel nach einem Regen! [...]
Ich frage: "Wo ist denn dein Vater, Wanja?" Er flüstert: "An der Front gefallen." - "Und deine Mutter?" - "Mutti ist von einer Bombe getötet worden, als wir im Zug gefahren sind." - "Von wo seid ihr denn gefahren?" - "Ich weiß nicht mehr ..." - "Und hast du hier gar keine Verwandten?" - "Nein." - "Wo schläfst du denn?" - "Wo es sich gerade trifft."
Da überkommt mich ein heißes Mitleid, und mein Entschluß steht fest: Daß laß ich nicht zu, daß jeder von uns weiter so elendiglich allein für sich lebt! Ich nehme ihn an Kindes Statt an. Und sogleich wird mir leicht und fröhlich ums Herz. Ich beuge mich zu ihm hinunter und frage leise: "Wanjuscha, weißt du eigentlich, wer ich bin?" Und er, es war wie ein Hauch: "Wer?" Da sage ich zu ihm ebenso leise: "Ich bin dein Vater."
Reclam-Bibliothek, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1. Auflage 1964, 60 Seiten. S. 25, 26/27, 35, 36-40, 52, 53.