Auf Leben und Tod
Marek Edelmann (1919-2009)
Marek Edelmann, seinerzeit 20 Jahre alt, war vor 70 Jahren einer der Organisatoren und Führer des Aufstandes im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann. In "Der Hüter" erzählt er über die heroische Entschlossenheit der Ghetto-Kämpfer, die keine Chance hatten und deren "einziges Ziel darin bestand, die Menschenwürde zu verteidigen". (Aus dem Vorwort von Jan Józef Szczepańskí, für die deutsche Ausgabe: Verlag C.H. Beck oHG, München 2002)
Die ersten Meldungen vom Genozid kamen 1941 aus dem Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof). Aber kaum jemand war sich darüber im klaren, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte, sondern dass dies die Endlösung war. Wir setzten diese Meldung sogleich in unsere Zeitung, die wir in sehr großer Auflage herausbrachten, aber die Leute glaubten uns nicht. Sie sagten: "Nu, in einem Schtetl mag so etwas vielleicht passieren, da hat es jemand übertrieben. Aber in Warschau, im Herzen der Stadt, wo eine halbe Million Menschen lebt, ist das unmöglich." […]
Ende 1941 gründeten wir die erste Kampforganisation des Bund, zusammen mit einer Gruppe von Sozialisten von der arischen Seite. […]
Unsere Organisation bestand bis zur Großen Aktion im Juli 1942, als die überwiegende Mehrheit der Ghettobewohner nach der "Aussiedlung" nach Treblinka ermordet wurde. Auch die Mehrheit der Kameraden landete in Treblinka. Sie konnten sich nicht wehren, sie hatten keine Waffen. […]
Auf der arischen Seite arbeitete für uns außerdem Ignacy Samsonowicz. Er war Stadtverordneter in Piotrków Trybunalski, einer Stadt, in der der Bund vor dem Krieg sehr stark gewesen war. [...] Als der Aufstand im Ghetto ausbrach, schrieb Samsonowicz in jener Wohnung den berühmten Appell an die polnische Bevölkerung. Hier der Text dieses Appells:
Polen, Bürger, Soldaten der Freiheit!
Im Donner der Kanonen, mit denen das deutsche Heer unsere Häuser, die Wohnungen unserer Mütter, Kinder und Frauen beschießt;
im Lärm der Maschinengewehre, die wir den feigen Gendarmen und SS-Leuten im Kampf entreißen;
im Rauch der Feuersbrünste, im Staub und Blut des hingemordeten Warschauer Ghettos entbieten wir, die Gefangenen des Ghettos, euch brüderliche und herzliche Grüße.
Wir wissen, dass ihr mit tiefempfundenem Schmerz und Tränen des Mitleids, mit Bewunderung und Sorge um den Ausgang dieses Kampfes den Krieg beobachtet, den wir seit vielen Tagen gegen den grausamen Okkupanten führen.
Wisset aber, dass jede Schwelle des Ghettos nach wie vor eine Festung sein wird, dass wir vielleicht alle in diesem Kampf untergehen, uns aber nicht ergeben werden, dass wir wie ihr von dem Wunsch nach Vergeltung und Strafe für alle Verbrechen des gemeinsamen Feindes beseelt sind.
Es geht in diesem Kampf um unsere und eure Freiheit. Um euere und unsere menschliche, gesellschaftliche und nationale Ehre und Würde.
Wir werden die Verbrechen von Auschwitz, Treblinka, Bełżec und Majdanek rächen.
Es lebe die Brüderschaft der Waffen und des Blutes des kämpfenden Polen!
Es lebe die Freiheit!
Tod den Henkern und Mördern!
Es lebe der Kampf auf Leben und Tod gegen den Okkupanten!
Die Jüdische Kampforganisation
[...] 5. Mai 1943: die schwersten Tage des Aufstands im Ghetto. Wir befinden uns im Souterrain. Wir sind von den Deutschen eingekreist. Das Gebäude steht in Flammen. Es ist heiß, 50 Grad. Immer wieder hört man die Minen hochgehen, die die Deutschen in den Kellern der benachbarten Häuser gelegt haben. Wir haben gehört, wie sie die Wände einschlugen, um weitere Minen anzubringen. Eine ausweglose Lage. Wir wissen, dass wir noch eine halbe Stunde zu leben haben. Fast nackt liegen wir unter den Betten, dort ist es weniger heiß. Keiner sagt etwas; wir wissen, das ist das Ende. Ich kann es im Liegen nicht mehr aushalten. Nervös gehe ich auf und ab. Abrasza kommt zu mir und fragt: "Glaubst du, dass wir hier rauskommen?" "Nein", sage ich, "wir sind schon so gut wie tot". "Ich", sagt er, "ich glaube, dass wir hier lebend herauskommen". Von dem Augenblick an erteile ich Befehle, sage den Genossen, sie sollen kühlere Orte aufsuchen. Und wir sind herausgekommen. Dank Abraszas Stärke.