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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

"Auf der Flucht vor der Wirklichkeit?"

Dokumentation zur Abkehr der Grünen von ihren friedenspolitischen Prinzipien

Am 31. Oktober 1995 schrieben die Grünen-Protagonisten Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer einen offenen Brief an die Mitglieder ihrer Partei: "Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord?" Seinerzeit lehnte die Mehrheit der Grünen, darunter auch die vier Verfasser des offenen Briefes, Militäreinsätze noch konsequent ab. Joschka Fischer bereitete hingegen offen die Abkehr von den in der Partei geltenden friedenspolitischen Prinzipien vor. Daher wurde ihm in den offenen Brief vorgeworfen, er (J. F.) habe nicht nur die Interventionsforderung für Bosnien verteidigt, "sondern eine allgemeine Interventionspflicht der UNO bei Völkermord gefordert." Da diese Formel … eine Rolle spielen würde "als Einfallstor für eine praktisch umfassende Befürwortung von Kampfeinsätzen, möchten wir vorab eine Klärung dazu in den Diskussionen der Kreisverbände anregen. Wir setzen uns deshalb … kritisch mit dem neuen Vorstoß (von J. F.) auseinander."

J. Fischer antwortete prompt. Im November 1995 publizierte er eine "öffentliche Antwort auf den offen Brief" mit dem Titel "Auf der Flucht vor der Wirklichkeit?" In dieser öffentlichren Antwort – die heutzutage ebenso beinahe vergessen ist wie die Tatsache, daß die Grünen einmal eine konsequente Antikriegspartei waren – findet sich die unglaubliche, nicht vergessene Feststellung J. Fischers: "Ich habe diese Position der Interventionspflicht bei Völkermord – es ist dies für mich der unveräußerliche Kern des Antifaschismus und seines Vermächtnisses ‚Nie wieder Auschwitz!’ – schon immer vertreten …".

Mit "Nie wieder Auschwitz" legitimieren zu wollen, daß Deutschland wieder Kriege führen darf, wozu wenige Jahre später die erneute Bombardierung Belgrads gehörte – das ist eine der demagogischen Spitzenleistungen des olivgrünen Provokateurs, der in seinen Revoluzzerzeiten am Boden liegende Polizisten getreten hatte. Er wurde dennoch Minister – man muß nur irgendwann die Staaträson akzeptieren, insonderheit die aus der NATO-Mitgliedschaft resultierenden Bündnisverpflichtungen und die auf Basis von Kapitel VII der UN-Charta stattfindenden Militäreinsätze. Wir dokumentieren nachfolgend Auszüge aus der öffentlichen Antwort von Joschka Fischer:

[…] 3. Laßt mich hier den eigentlich wesentlichen Widerspruch zwischen uns ansprechen, der uns trennt: Wir definieren uns alle als demokratische Linke. Nur was ist nach dem Ende des Kalten Krieges in der Außenpolitik eigentlich links? Die Linke ist den universalistischen Grundwerten von Gerechtigkeit, Freiheit, gleichen Lebenschancen und Frieden verpflichtet. Die demokratische Linke will eine gewaltfreie und gerechte Welt, und sie bekämpft deshalb Ausbeutung, Unterdrückung und die Herrschaft des Menschen über den Menschen als die anhaltende Ursache von Gewalt auf dieser Welt. Der Nationalismus ist eine der gefährlichsten gewalttätigen Herrschaftsformen und deshalb ist die Linke nicht nur in ihren Grundwerten universalistisch, sondern in ihrer Politik immer auch internationalistisch gewesen. Dies gilt auch und gerade für eine Politik des Machttransfers von den Nationalstaaten hin zu trans- und internationalen Konfliktregelungsinstitutionen wie die UN.

Eine Politik, die Gewalt überwinden will, kann nicht auf Gewalt setzen. Gewaltfreiheit gehört daher zu diesen universalistischen Grundwerten der Linken. Andererseits werden wir den Opfern mörderischer Gewalt aus demselben Grund unsere Hilfe zum Überleben nicht versagen dürfen, und das heißt eben auch im äußersten Falle militärische Hilfe. Dies erzwingt ein weiterer linker Grundwert, die Solidarität. Aus diesem Widerspruch wird linke Politik niemals herauskommen, denn er ist ihr wesentlich und muß in jeder konkreten historischen Situation immer neu beantwortet werden. Eines allerdings war für die demokratische Linke immer klar: Wenn Hilfe zum Überleben notwendig und möglich ist, muß sie geleistet werden. Dann hat der Grundwert der Solidarität Vorrang. Links ist die Solidarität mit den Schwachen, den Wehrlosen, den Opfern. Wer diesen Grundwert aufgibt, gibt tatsächlich die Grundwerte einer universalistischen und internationalistischen Linken auf und landet schließlich beim Isolationismus. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Eure Analyse der Massenmorde von Srebrenica eingehen, wo Ihr erneut eine hinterhältige Verschwörung von US Imperialismus, Serben und Kroaten zu Lasten der bosnischen Muslime nahelegt, ohne Euch aber wirklich festzulegen. Zweck des ganzen wäre der Erfolg des Holbrooke Planes, beruhend auf dem Gebietsaustausch zwischen Srebrenica und der Kraijna, gewesen, der Clinton letztendlich die Wiederwahl sichern soll. Ihr müßt wissen, welche Behauptungen Ihr damit in die politische Kontroverse einführt!

Folgt man dem Ton und den Anmutungen Eures Briefes, so scheint Ihr in den USA ja fast wieder ein "Reich des Bösen" zu sehen. Aber Ihr seid zugleich auch von erhabener Vagheit und Vorsicht, wenn ihr schreibt: "Auch diese Überlegungen werden uns nicht dazu verleiten, nun eine harte Behauptung aufzustellen. Denn auch dies wird nur ein Teil der Wahrheit sein." Eben, eben. Freilich habt Ihr sehr sorgfältig den Euch passenden Teil der vielen "möglichen Wahrheiten" herausgesucht, ohne weiter die Konsequenzen der Massenmorde von Srebrenica durch die bosnischen Serben und deren Folgen für die Zukunft UN gestützter Konfliktprävention und Überlebenshilfe zu diskutieren. Und mit dieser von Euch angenommenen "Teilwahrheit" macht Ihr in Eurem offenen Brief ganz schön Politik. Besonders seriös ist diese Methode nicht gerade zu nennen. Wie die abgebrühtesten außenpolitischen Machtpolitiker konstatiert Ihr kühl, daß "die Schutzzonen von Beginn an nicht als militärische Verteidigungsräume konzipiert waren." Ja, liebe Leute, und was folgt denn für Euch aus der Tatsache, daß der UN Generalsekretär 34.000 Blauhelme für die bosnischen Schutzzonen beim Sicherheitsrat beantragt und nur völlig unzureichende 7.400 bekommen hat? Hätten wir dann nicht mehr zum Schutz der Menschen fordern müssen, und lag nicht genau hierin nicht unser gemeinsames Versagen, nämlich dies unterlassen zu haben? […] Und eine "linke" Kritik (und ich muß hier immer wieder auch von Selbstkritik an meiner eigenen Position von damals sprechen) an den UN und den USA kann doch nur sein, daß sie erst nach und nicht bereits vor Srebrenica zu härteren militärischen Mitteln gegriffen haben!

4. Zu danken habe ich Euch für die Klarstellung, daß die gegenwärtige Kontroverse nichts mit einer möglichen Regierungsbeteiligung der Bündnisgrünen 1998 zu tun hat. Ihr schreibt: "Eine gründliche Kurskorrektur, um mit der SPD koalitionsfähig zu werden, halten wir nicht für notwendig." Dies ist uneingeschränkt richtig. Und Ludger Volmer hatte dies zuvor ja bereits schon in der taz vom 12./13. August unter der Überschrift "Greif zur Waffe, fahr nach Sarajewo!" noch ausführlicher dargestellt und begründet:

"Eine überfällige Debatte zu provozieren, darum kann es nicht gehen. Die ist längst im Gange, wurde nur in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend registriert. Sie dreht sich um die Frage, unter welchen Umständen die grundsätzlich schon bestehende Befürwortung von friedenserhaltenden Blauhelm-Missionen (Hervorhebungen von mir, J. F.) eine deutsche Beteiligung möglich und nötig macht. Und um die Frage, wie wir praktisch mit dem Problem umgehen, daß wir die Nato einerseits für historisch überholt halten, aber selbst per Beschluß einer rot-grünen Koalition nicht abschaffen können und ein einseitiger Austritt aus verschiedenen Gründen nicht ratsam ist. Hier zeichnen sich neue pragmatische Perspektiven auf der Basis der bestehenden Grundsätze ab. Mit Sicherheit wird die Außenpolitik kein Punkt sein, an dem eine rot-grüne Koalition in Bonn scheitern könnte. Das ist jetzt schon absehbar. Deshalb muß kein grünes Tabu gebrochen werden."

Und ganz aktuell lese ich im Spiegel von heute Ludgers letzte Äußerung zu diesem Thema, die ich ebenfalls sehr bemerkenswert finde:

"Ich sehe keinen Ballast, den wir abwerfen müßten. Ich halte es für legitim, zunächst mal mit alternativen außenpolitischen Perspektiven in Koalitionsverhandlungen zu gehen. Dann sehen wir weiter."

Völker hört die Signale, kann ich dazu nur sagen. "Zunächst mal" und "dann sehen wir weiter" klingt ja sehr hoffnungsvoll und entschlossen! Wie wäre es denn zur Abwechslung mal Eurerseits mit einer "Aktion Klartext" für die Partei, liebe Leute. Wer die Position der SPD zur Außen- und Sicherheitspolitik kennt, ihr Bekenntnis zu Bundeswehr, Vaterlandsverteidigung, Rüstungsproduktion, Nato, Blauhelmen etc., der muß endlich einmal seinen eigenen linken Anhängern in unserer Partei sagen, daß dies im Ernstfall einer Regierungsbeteiligung Eurerseits auf eine "Strategie des kalkulierten Umfalls" hinauslaufen wird und muß. Gerade diejenigen unter Euch, die bereits über Regierungserfahrung verfügen, wissen um diese fatale Konsequenz Eurer Position nur zu gut!

5. Ihr verlangt "von den AnhängerInnen der Interventionspflicht möglichst bald nachvollziehbar zu klären, wohin die Reise geht". Ich will erneut eine Antwort versuchen, die Ihr unschwer allerdings schon meiner Bonner Rede hättet entnehmen können: Neben all den Opfern, den Verwüstungen und dem menschlichen Leid droht der Bosnienkrieg auch zu einer Zäsur in der Entwicklung Europas und der Vereinten Nationen nach dem Ende des Kalten Krieges zu werden. Die Europäische Union und die wichtigsten westlichen Staaten Europas waren unfähig, den Bosnienkrieg zu verhindern, ja sie trugen durch ihr Verhalten noch wesentlich zu seiner Eskalation bei. Europa gab es seit dem beginnenden Zerfall Jugoslawiens eigentlich gar nicht mehr, sondern es entstanden erneut die historischen und machtpolitischen Rivalitäten der europäischen Mächte, das Denken von 1914 statt von 1991: Frankreich und Großbritannien als serbische Garantiemächte, Deutschland und Österreich auf kroatischer Seite. Statt Kooperation und einer einheitlichen Jugoslawienpolitik herrschten in der EU Mißtrauen und uralte Machtkonkurrenzen. Heraus kam die fatale Anerkennungspolitik, die die Sezession nicht dämpfte und zivilisierte, sondern den Krieg erst recht anheizte.

Die UN sollte den Krieg begrenzen und zum Stillstand bringen, das Überleben vor allem der bosnischen Muslime sichern und humanitäre Hilfe möglich machen. Die Truppen der UN in Bosnien waren dazu viel zu schwach, schlecht ausgerüstet und blieben mit ihrem "peace keeping" Auftrag zwischen den heißen Fronten des Krieges mehr oder weniger hilflos hängen. Der Sicherheitsrat gab der UN zwar die Beschlüsse, niemals aber die ausreichenden Mittel zu deren Umsetzung. Höhepunkt dieser Hilflosigkeit war die Geiselnahme von Hunderten von Blauhelmen und die Massenmorde nach der Eroberung der UN Schutzzone Srebrenica durch die bosnischen Serben. All dies ist heute bereits traurige Geschichte. Nicht Geschichte hingegen sind die fatalen Folgen dieses Krieges, nämlich die Schwächung der UN und die Stärkung der Nationalstaaten und ihrer Militärbündnisse als Subjekte der internationalen Politik in der Welt des Globalismus. Exakt an dieser Wegscheide steht heute auch die deutsche Politik, und je nachdem, welche Politik sich durchsetzen wird, wird dies eine UN gestützte und auf trans- und internationale Konfliktregelung ausgelegte deutsche Sicherheits- und Außenpolitik heißen, wie wir sie anstreben müssen, oder eine national gestützte, die zwar in NATO und UN eingebunden ist, den nationalen Faktor militärischer Stärke aber als unbedingt vorrangig ansehen wird. Die dritte Variante "Deutschland als Wehrdienstverweigerer" ist keine realisierbare außen- und sicherheitspolitische Option für die zukünftige deutsche Politik, sondern wird die Bündnisgrünen vielmehr auf der Ebene der Protestpartei festhalten und von der außen- und sicherheitspolitischen Gestaltung der deutschen Politik fernhalten. Und dies gilt nicht nur abstrakt, sondern bezogen auf die Vereinten Nationen hieße dies ganz konkret, daß Deutschland seinen Einfluß zur Stärkung der UN eben nicht zum Tragen bringen könnte. Ich hielte dies für einen fatalen, um nicht zu sagen historischen Fehler. […]

Die immer wiederholte Unterstellung, wenn Deutschland sich gegen akute Völkermordgefahr an Maßnahmen der Friedenserzwingung der UN beteiligen würde, daß dann ein riesiger Militärapparat vorgehalten werden müsse, ist eben so unsinnig wie die Unterstellung, dies hieße eine Legitimierung von Militär und Krieg durch die Bündnisgrünen. Das wißt Ihr. Eine bündnisgrüne Partei, die diese Politik betriebe, würde weder ihre gewaltfreien Grundsätze verraten, noch würde sie sich an einer Politik der "Remilitarisierung" und "Renationalisierung" beteiligen. Wohl aber würde den Konservativen dadurch eine klar unterscheidbare friedens- und menschenrechtspolitische Alternative entgegengesetzt, die den Kampf um die demokratische Mehrheit in unserem Land gewinnen kann. Und darauf wird es letztendlich auch ankommen, denn wenn die konservative Politik das Mandat der Mehrheit behält und in den kommenden Jahren die Weichen der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik stellen wird, dann werden wir zwar laut dagegen protestieren, aber wie bei der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren und bei der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in den Neunzigern werden wir dann letztendlich verlieren. Dies sollten wir verhindern. Mit Ausnahme der Friedenserzwingung nach Kapitel 7 UN Charta könntet Ihr eigentlich, wenn Ihr Euch nur öffentlich und vor Euren Anhängern getrauen würdet, allen anderen Punkten ja zustimmen. Das sagt Ihr allerdings nur im trauten Gespräch. Öffentlich hingegen dröhnt laut Eure pazifistische Rhetorik wider den Verrat: "Wir bleiben dabei: Bündnis 90/Die Grünen sind eine gewaltfreie und das heißt auch strikt antimilitaristische Partei, die den Einsatz von Militär strikt ablehnt." Gewiß doch, aber der Kern Eures Antrages ist das genaue Gegenteil Eurer pazifistischen Rhetorik, denn es geht auch bei Euch tatsächlich um einen Beschluß, der Ja sagt zu einem Militäreinsatz.

Es ist hoch anerkennenswert, wenn sich ein Teil von Euch im Antrag L. Volmer u.a. für die Aufstellung einer "Einheit für friedensbewahrende Einsätze der UNO (Blauhelme)" ausspricht, aber das wird eine Militäreinheit sein! Und auch Ihr werdet das Wunder der teilweisen Schwangerschaft nicht bewerkstelligen, glaubt es mir. Ein bißchen schwanger ging noch nie! Und deshalb ist es nachgerade albern und nicht von dieser Welt, allein des innerparteilichen Friedens und des Fortbestands des Dogmas vom Nein zu allem Militär, Soldaten nicht mehr Soldaten zu nennen und militärische Einheiten unter der Adresse von Auswärtigem Amt und Zoll firmieren zu lassen. Das wird es niemals geben, und das wißt Ihr auch. Von der Militarisierung der Außenpolitik zur Militarisierung des Auswärtigen Amtes? Es geht Euch um ein Ja zu Militäreinheiten, also sagt dies doch auch so dem Parteitag. […]. Mit internationalistischen Grüßen, Frankfurt, den 27. November 1995.

Quelle: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie und Kultur – Monatszeitschrift, ISSN 0723-7669, Januar 1996, S. 39ff (www.oeko-net.de/kommune – hier findet man beide Dokumente)