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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Armes Deutschland!

Ein Beitrag zum 3. Oktober

Im Februar dieses Jahres wandte sich unser Genosse Gerhard Miska aus Chemnitz mit nachfolgendem Schreiben an den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Herrn Thomas Oppermann. Dem Bundessprecherrat wurden Brief und Antwortschreiben im Juni bekannt, und wir dokumentieren diese Papiere im vorliegenden Heft als unseren Beitrag zum 3. Oktober.

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25. Februar 2016: Gerhard Miska an Thomas Oppermann (Auszug)

Werter Herr Thomas Oppermann, kürzlich hatte ich, im Wartezimmer meines Arztes, die Gelegenheit, in einem Periodikum die Rede von Frau Ruth Klüger – Shoa-Überlebende – im Deutschen Bundestag anlässlich des Gedenkens am 27. Januar 2016 im vollen Wortlaut zu lesen.

Die Darlegung ihrer Biografie war nicht nur die Sicht auf ihr Leben im faschistischen Deutschland, sondern auch eine Reflexion auf die Gegenwart.

Für mich ist deshalb diese Rede sowohl ein Erinnern und Besinnen auf die Vergangenheit als auch, wie es Frau Klüger zum Ausdruck brachte: Eine neue Generation, nein zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen.

Auf Grund dieser Aussage von Frau Klüger am Ende ihrer Rede im Deutschen Bundestag beschäftigt mich ein Problem, welches ich mit diesem Brief an Sie als Frage herantragen möchte. Wie ist es möglich, dass in diesem hohen Haus von Personen, die in diesem Gebäude Politik für das Volk gestalten sollen, das Bestehen und die Politik der Deutschen Demokratischen Republik mit dem faschistischen Naziregime gleichgestellt wird?

Angesichts der Worte von Frau Klüger, mit denen sie ihr Leben im faschistischen Deutschland beschrieb und den Faschismus insgesamt (ich erinnere an die Aussage, »die Zwangsarbeiter der Nazis waren wertlos, die Ausbeuter konnten sich immer noch neue verschaffen. Sie hatten ja so viel ›Menschenmaterial‹, wie sie es nannten, dass sie es wortwörtlich verbrennen konnten«), müsste doch von Ihnen als Vorsitzendem einer sozialdemokratischen Fraktion solches Treiben von Personen, ich weiß nicht wie man sie bezeichnen soll, entschieden zurückgewiesen werden.

In der Deutschen Demokratischen Republik war Antifaschismus Verfassungsgrundlage (Artikel 6 Abs. 1, Verfassung der DDR) und die Grundlage bei der Bildung und Erziehung seiner Bürger. Heute wird diese Realität als »verordneter Antifaschismus« herabgewürdigt und verleumdet. Aber für mich war und ist sogenannter verordneter Antifaschismus zigmal erstrebenswerter als das nicht aufgearbeitete Erbe des deutschen Faschismus in den alten Bundesländern.

Ebenfalls Verfassungsauftrag war laut Artikel 6 Abs. 5: Die militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet.

Das Gegenteil davon findet gerade gegenwärtig im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik statt.

Und mit Grausen erinnere ich mich noch an den unrühmlichen Auftritt von Wolf Biermann am 7.11.2014 im Deutschen Bundestag.

Nun habe ich gestern Abend in der ARD das Fernsehdrama »Die Akte General« zur Kenntnis nehmen können, welches den einsamen Kampf des der SPD angehörenden Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer Ende der 50er Jahre gegen die Vertuschung faschistischer Verbrechen und die restaurative Adenauer-Politik zum Inhalt hat.

Ich kann sagen, dass ich schon lange nicht mehr ein solches spannendes, interessantes und politisch aussagekräftiges Filmwerk im Fernsehen gesehen habe, und ich gratuliere dem Regisseur und der ARD zu dieser Ausstrahlung.

Dabei erinnerte ich mich an den ersten deutschen Nachkriegsfilm »Die Mörder sind unter uns«, der 1946 von Wolfgang Staudte im DEFA-Studio Babelsberg gedreht wurde. Auch später wurden bei der DEFA in Babelsberg und in den Fernsehstudios in Berlin-Adlershof viele derartige Filme und Dokumentationen gedreht und gesendet. Ich möchte aus der Fülle der Werke nur zwei erwähnen: den Film »Der Prozeß wird vertagt«, Buch und Regie Herbert Ballmann aus dem Jahr 1958, und den Fernsehfilm »Die Affäre Heyde-Sawade« von F. K. Kaul und Walter Jupe aus dem Jahr 1973.

Ich denke, dieser Film »Die Akte General«, der gestern ausgestrahlt wurde, hat einen Zusammenhang mit der Rede von Frau Ruth Klüger im Deutschen Bundestag am 27. Januar sowie mit meiner Frage, warum Faschismus und DDR in der Politik und von Politikern in den Medien und im Alltag gleichgesetzt werden.

Ihre Antwort dazu nehme ich gern entgegen. Bis dahin verbleibe ich mit freundlichen Grüßen G. Miska

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Dieses Schreiben von Gerhard Miska an den SPD-Fraktionsvorsitzenden wurde von Thomas Oppermann an den MdB DetIef Müller aus Chemnitz zur Beantwortung übergeben. Nachfolgend die Antwort von Herrn Müller und zu dieser Gedanken unseres Genossen Dr. Friedrich Wolff:

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16. März 2016: Detlef Müller an Gerhard Miska

Ihr Schreiben vom 26.02.2016 an Thomas Oppermann - Sehr geehrter Herr Miska, ich bedanke mich für Ihr Schreiben an Thomas Oppermann, das mir zuständigkeitshalber als Bundestagsabgeordneter der SPD für Chemnitz weitergeleitet wurde.

Ich habe Ihr Schreiben aufmerksam gelesen und möchte Ihnen gerne meine Gedanken dazu darlegen. Auch innerhalb der SPD wird häufig (gerade auch unter ostdeutschen Genossinnen und Genossen) darüber diskutiert, wie mit der Erinnerung an die DDR umzugehen ist, und insbesondere, inwieweit es Unterschiede/Gemeinsamkeiten mit dem NS-Regime gab.

Ich schicke voraus: Ich bin sehr wohl der Ansicht, dass es Anknüpfungspunkte gibt, die einen Vergleich zulassen. Weiter schicke ich aber voraus: Natürlich verbietet sich der Vergleich zwischen drittem Reich und DDR-Staat in Bezug auf die Dimension der Verbrechen, die von beiden Regimen begangen wurden. Die Opfer des DDR-Regimes in Stasi-Untersuchungsgefängnissen und Folterkellern, die Mauertoten, die in Werkhöfen misshandelten Kinder stehen in keinem Verhältnis zu den monströsen Verbrechen der Nationalsozialisten, zum Holocaust, zur Verfolgung von Sinti und Roma, Homosexueller, zur Vernichtung von Zwangsarbeitern u.v.m.

Aber: Nichtsdestotrotz handelte es sich bei beiden Staaten – dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der DDR – um erbarmungslose Diktaturen, deren Instrumente oft genug in ihrer Qualität austauschbar waren:

- Die Staatssicherheit stand in Effizienz und Skrupellosigkeit der Gestapo in nichts nach. Hätte die Gestapo darüber hinaus die technischen Möglichkeiten der Stasi gehabt, sie hätte sie zweifellos genutzt.

- Beide Diktaturen verbrämten die Gewaltherrschaft durch Demokratieattrappen: Im Dritten Reich bestand der gleichgeschaltete Reichstag fort und beschloss sogar noch über die Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes. Die Volkskammer mit ihrer »Nationalen Front« war die Verhöhnung eines frei gewählten Parlamentes.

- Beide Staaten bedienten sich (versteckt und offen) skrupellos der Gewalt, Drohung und Erpressung, um Regimegegner und -kritiker einzuschüchtern, mundtot zu machen, einzusperren oder gar umzubringen.

- Beide Diktaturen unternahmen es, einen »neuen Menschen« schaffen zu wollen, der ein unfreies Mitglied einer wie auch immer gearteten »Volksgemeinschaft« sein sollte, gleichgeschaltet im Denken und Handeln, ein willfähriges Werkzeug der Herrschenden, ob sie sich nun herrschende Klasse oder Rasse nannte. Sie kennen sicher das Pionierlied »Unsere Heimat«. Dort heißt es: »Und wir lieben die Heimat, die schöne / Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, / Weil sie unserem Volke gehört.« Von dem vielgerühmten Internationalismus ist hierbei nicht mehr viel zu spüren. Und selbst antisemitische Züge waren der DDR nicht fremd, konnte man »den Juden« doch wunderbar wieder kapitalistische Neigungen in die Schuhe schieben.

- Beide Diktaturen bedienten sich sogar einer fast austauschbaren Bildersprache. Sie wissen, wie oft zum Verwechseln ähnlich sich NS-Kunst und »sozialistischer Realismus« sind: In die goldene Zukunft blickende Menschen, die Instrumentalisierung von Kindern, der Arbeiter in der Fabrik, der Bauer auf dampfender Ackerscholle, harte, entschlossene Gesichter mit blitzenden Augen, Uniformen.

Ich könnte die Aufzählung unendlich fortsetzen. Und ich behaupte: Das Erbe der DDR plagt uns bis heute und führt ganz unmittelbar zum Erfolg der unseligen AfD, gerade in ostdeutschen Bundesländern: Die Behauptung, einen »Volkswillen« zu vertreten, das Misstrauen gegen demokratische Strukturen, die Unfähigkeit zum unaufgeregten demokratischen Diskurs, der latente, nie eingestandene Rassismus – das alles geht meiner Ansicht nach unmittelbar auf die DDR zurück.

Sie zitieren aus der DDR-Verfassung. Ja, dort standen viele schöne Sachen drin. Auch die Verfassung der Sowjetunion hat z.B. den Umweltschutz festgeschrieben, und Sie wissen, dass es damit nicht weit her war. Auch schreiben Sie vom »nicht aufgearbeiteten Erbe des deutschen Faschismus in den alten Bundesländern«. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube, dass Sie hier genau der unseligen »Antifaschismus-Legende« der DDR auf den Leim gehen. Es war doch genau das Problem der DDR, dass mit ihrer Gründung 1949 alle DDR-Bürger automatisch und wie mit dem Zauberstab auf einmal alle »Antifaschisten« waren. Aber im Gegensatz zur westdeutschen Bundesrepublik gab es in der DDR die Aufarbeitung gerade nicht. In Westdeutschland gab es die Auschwitzprozesse, die mühsame Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die mühsame Überwindung der stockigen Adenauerjahre, die Studentenproteste gegen »braune« Hochschulprofessoren, die 68er-Bewegung. Es spielten sich dort zwar oft quälend langsame Prozesse ab, aber sie geschahen aus der Mitte der Gesellschaft heraus und setzten sich noch nach der Wende in den 90ern fort. Das alles gab es in der DDR nicht: Man baute pompöse Gedenkstätten (z.B. in Buchenwald), urteilte in spektakulären Prozessen NS-Verbrecher ab, aber scherte sich (mit Verlaub) einen Dreck darum, das NS-Erbe wirklich aus den Köpfen zu kriegen und bediente sich auch der alten Kader, ja, band sie offen durch die NDPD ein. Schuld war immer nur der Westen, nie man selber. Man selber war ja auf magischem Wege, durch die Kraft des Sozialismus, geläutert worden. Kriegstreiber waren immer die anderen, auch wenn man selber fröhlich dabei mithalf, Aufstände in der Tschechoslowakei und in Ungarn zu unterdrücken. Während man in Westdeutschland jahrzehntelang Erfahrungen mit Gastarbeitern sammelte, sie aufnahm und integrierte, wurden bei uns die Angolaner und Mosambikaner abseits der Bevölkerung weggesperrt, ausländerfeindliche Straftaten aus den Polizeiakten getilgt, weil ja nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Gehen Sie mal nach KöIn oder Frankfurt und nennen einen Vietnamesen auf offener Straße einen »Fidschi«, wie es bei uns gang und gäbe ist, sie werden Ihr blaues Wunder erleben.

PEGIDA-Bewegung, Flüchtlingskrise und aktuelle Landtagswahlen zeigen uns: Es gibt noch einiges zu tun in diesem Land, gegen Rassismus, Antisemitismus, Islam-Hass und für mehr Toleranz und Miteinander.

Bitte bleiben Sie auch weiter kritisch.

Mit freundlichen Grüßen, DetIef Müller, MdB

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September 2016: Gedanken von Dr. Friedrich Wolff

Im Februar schrieb Genosse Gerhard Miska aus Chemnitz an den Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag Thomas Oppermann. Er fragte u.a.: »Wie ist es möglich, dass (im Deutschen Bundestag) das Bestehen und die Politik der Deutschen Demokratischen Republik mit dem faschistischen Naziregime gleichgestellt wird?« Die Antwort erhielt er von dem Chemnitzer SPD Bundestagsabgeordneten Detlef Müller. Sie ist ein Zeitzeugnis. Wir geben sie deshalb unseren Genossen zur Kenntnis.

Herr Müller behauptet, in der DDR habe es »Folterkeller« gegeben. Woher weiß er das? In über 100.000 Ermittlungsverfahren gegen DDR-Bürger nach dem Anschluss wurde nicht ein einziges Mal auch nur der Vorwurf von Folterung erhoben, geschweige denn Folter bewiesen.

Herr Müller behauptet: »Die Staatssicherheit stand in Effizienz und Skrupellosigkeit der Gestapo in nichts nach«. Woher weiß er das? In der DDR gab es weder Folter, noch politischen Mord, noch KZ.

Herr Müller behauptet: »Beide Staaten bedienten sich (versteckt und offen) skrupellos der Gewalt, Drohung und Erpressung, um Regimegegner und -kritiker einzuschüchtern, mundtot zu machen, einzusperren oder gar umzubringen«. Kein Regimekritiker wurde umgebracht. Woher nimmt MdB Müller diese Behauptung?

Herr Müller behauptet schließlich, aus dem Pionierlied »Unsere Heimat« ergäbe sich, dass »von dem vielgerühmten Internationalismus nicht viel zu spüren« sei. Gab es denn nur dies eine Pionierlied? Wie ist es z.B. mit dem Lied »Freund, reih dich ein, dass vom Grauen wir die Welt befrein«?, in dem es heißt: »Wo auch immer wir wohnen, unser Glück auf dem Frieden beruht«.

Und sangen nicht die Nazis: »Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«. Alles dasselbe? Pioniere sangen auch nicht: »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt«. Richtig ist, die Nazis gaben sich als Sozialisten aus, imitierten auch Kommunistisches. Das wollen heute Politiker benutzen, um Ungleiches als Gleiches auszugeben.

Herr Müller behauptet weiter: »… im Gegensatz zur westdeutschen Bundesrepublik gab es in der DDR die Aufarbeitung (der NS-Vergangenheit) gerade nicht.« Da steht Müller mit seiner Meinung ganz allein. Christian Lange, MdB, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, sagte z.B. auf dem 4. Symposium »Die Justizielle NS-Aufarbeitung – Täter, Opfer, Justiz« am 21. Oktober 2014: »… dass die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland – einschließlich des Bundesgerichtshofs – bei der Aufarbeitung des NS-Justizunrechts ihrer rechtsstaatlichen Verantwortung nicht gerecht wurden und nicht bereit waren, sich den Verbrechen von Nazirichtern im ›Dritten Reich‹ zu stellen.« Sogar der BGH hat das gestanden. Wer nur die geringste Ahnung von Zeitgeschichte hat, weiß: In der BRD gab es einen Bundeskanzler, der das Parteibuch der NSDAP hatte, in der DDR kamen führende Politiker wie Erich Honecker, Hermann Axen und viele, viele andere aus den Zuchthäusern, den KZ oder der Emigration. Ist die Behauptung von der fehlenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der DDR nun grobe Unkenntnis oder schlicht Lüge?

Wie dem auch sei, von unseren Volksvertretern hätte ich mehr Kenntnisse und größeren Anstand erwartet, und monatlich über 9.000 € Diäten sind so etwas nicht wert.

Armes Deutschland!