Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Apologetik der Diktatur

Wladimir W. Putin, Präsident der Russischen Föderation

Aus der Rede auf dem 11. Waldai-Forum am 24. Oktober 2014, Teil 2:

Russland hat mehrfach vor einseitigen gewaltsamen Aktionen, vor Einmischungen in die Angelegenheiten souveräner Staaten, vor dem Anbandeln mit Extremisten und Radikalen gewarnt und darauf bestanden, dass man jene Gruppierungen, die gegen die syrische Zentralregierung vorgehen – vor allem die ISIS – auf die Listen terroristischer Organisationen setzt. Und was war das Ergebnis? Es gab keine Reaktion. Mitunter bekommt man den Eindruck, dass unsere Kollegen und Freunde ständig mit den Ergebnissen ihrer eigenen Politik kämpfen, all ihre Gewalt in die Beseitigung der Risiken stecken, die sie selbst schaffen, und dafür einen immer höheren Preis zahlen.

Verehrte Kollegen, der Moment der Unipolarität hat überzeugend aufgezeigt, dass die Erweiterung der Dominanz eines Gewaltmonopols nicht dazu führt, dass die globalen Prozesse steuerbarer werden. Im Gegenteil, eine solche instabile Konstruktion hat ihre Unfähigkeit bewiesen, effektiv gegen solche realen Bedrohungen wie regionale Konflikte, Terrorismus, Drogenschmuggel, religiöser Fanatismus, Chauvinismus und Neonazismus vorzugehen. Gleichzeitig hat sie der Äußerung von nationalem Eitelkeitswahn, der Manipulation der öffentlichen Meinung, grober Unterdrückung des Willens der Schwachen durch den Willen der Starken den Weg geebnet. Im Grunde ist eine unipolare Welt eine Apologie, sie ist die Apologetik einer Diktatur, sowohl über den Menschen als auch über Länder. Diese unipolare Welt erwies sich übrigens sogar als für den sogenannten, selbsternannten Führer als unbequem, nicht zu stemmen und schwer zu steuern, gerade jetzt wurde das auch laut gesagt, und damit bin ich vollkommen einverstanden. Daher rühren die heutigen Versuche, nun schon im neuen historischen Abschnitt, eine Art quasi-bipolares System als ein bequemes Modell für die Wiedererrichtung der – in diesem Fall – amerikanischen Dominanz zu etablieren. Es ist dabei nicht einmal wichtig, wer genau in der amerikanischen Propaganda die Rolle des »Zentrums des Bösen«, also den Platz der UdSSR als Hauptgegner einnimmt: ob der Iran, als ein Land, das nach Atomtechnologie strebt, oder China, als führende Weltwirtschaft, oder Russland, als eine Atom-Supermacht.

Wir sehen jetzt wieder Versuche, die Welt zu zerschlagen, Trennlinien zu ziehen, Koalitionen nicht für, sondern gegen beliebige Parteien zu bilden, und abermals ein Feindbild zu schaffen wie in Zeiten des »Kalten Krieges«, und damit das Recht auf die Führungsrolle, oder wenn Sie so wollen, das Diktat zu erlangen. Wir verstehen und wissen ja bereits, wie die Lage im Zeitalter des »Kalten Krieges« interpretiert wurde. Den Verbündeten der Vereinigten Staaten wurde immer gesagt: »Wir haben einen gemeinsamen Feind, er ist schrecklich, es ist das Zentrum des Bösen; wir werden euch, unsere Verbündeten, vor ihm schützen, folglich haben wir das Recht, euch zu befehlen, eure politischen und wirtschaftlichen Interessen zu opfern, Ausgaben für die kollektive Verteidigung zu machen, aber befehligen werden diese Verteidigung natürlich wir.«

Kurz, heute gibt es das Bestreben, nun schon in der neuen, veränderten Weit die gewohnten Prinzipien einer globalen Beherrschung umzusetzen, und all das mit der Absicht, die eigene Außerordentlichkeit zu gewährleisten und daraus politisches und wirtschaftliches Kapital zu schlagen.

Logik der Konfrontation

Dabei divergieren solche Versuche nicht nur mehr und mehr mit der Realität und widersprechen der Vielfältigkeit der Welt. Solche Schritte werden unvermeidlich zu Gegenreaktionen führen und einen gerade entgegengesetzten Effekt hervorbringen. Wir sehen doch, was passiert, wenn die Politik leichtfertig mit der Wirtschaft vermengt wird, wenn die Logik der Zweckmäßigkeit der Logik der Konfrontation nachgibt, selbst, wenn sie damit ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Positionen und Interessen aufgibt, einschließlich der Interessen der nationalen Unternehmen.

Gemeinsame Wirtschaftsprojekte, gegenseitige lnvestitionen sind es, die Länder objektiv näherbringen, dabei helfen, die laufenden Probleme in den internationalen Beziehungen abzumildern. Allerdings ist die weltweite Business-Community heute dem beispiellosen Druck der westlichen Regierungen ausgesetzt. Von welchem Unternehmertum, von welcher wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit oder Pragmatismus kann denn die Rede sein, wenn das Motto »Das Vaterland ist in Gefahr, die freie Welt ist in Gefahr, die Demokratie ist in Gefahr« aufgeworfen wird? Man muss sich ja mobilisieren – und genau das ist die Politik des Mobilmachens.

Die Sanktionen unterminieren bereits die Grundlagen des Welthandels und die Regeln der WTO, das Prinzip der Stabilität des Privatvermögens, sie erschüttern das liberale Modell der Globalisierung, welches auf dem Markt, der Freiheit und der Konkurrenz beruht – ein Modell, dessen hauptsächliche Nutznießer, wie ich anmerken möchte, ja gerade die Länder des Westens sind. Jetzt riskieren sie Vertrauensverlust in ihre Rolle als treibende Kräfte der Globalisierung. Man fragt, was denn nun zu tun sei? Denn das Wohlergehen beispielsweise der Vereinigten Staaten ist ja in weiten Teilen vom Vertrauen der Investoren, dem  der ausländischen Besitzer von Dollars und US-amerikanischer Wertpapiere abhängig. Und dieses Vertrauen wird offenkundig unterminiert; die Früchte der Enttäuschung von der Globalisierung findet man jetzt in vielen Ländern.

Der berüchtigte Präzedenzfall Zypern und politisch motivierte Sanktionen haben die Tendenzen in Richtung wirtschaftlicher und finanzieller Souveränisierung, zum Bestreben einzelner Staaten oder ihrer regionalen Vereinigungen, sich gegen das Risiko auswärtigen Drucks abzusichern, nur verstärkt. So unternimmt bereits jetzt eine immer größer werdende Zahl an Staaten Versuche, sich aus der Dollarabhängigkeit zu befreien, alternative Finanzzentren und Reservewährungen zu etablieren. Unserer Meinung nach sägen unsere amerikanischen Freunde schlicht an dem Ast, auf dem sie sitzen. Man darf Politik und Wirtschaft nicht in einen Topf werfen, aber genau das ist es, was passiert. Ich war und bin der Meinung, dass politisch motivierte Sanktionen ein Fehler waren, ein Fehler, der allen nur Verluste bringt, und ich bin mir sicher, dass wir davon noch zu sprechen haben.

Sanktionen sollen uns schädigen

Wir verstehen schon, wie und unter wessen Druck solche Entscheidungen getroffen wurden. Ich möchte betonen, dass Russland nicht die Pose eines Beleidigten annehmen oder jemanden um etwas bitten wird. Russland ist ein sich selbst genügendes Land. Wir werden unter den außenwirtschaftlichen Bedingungen arbeiten, die sich ergeben haben, unsere Produktion und Technologien weiterentwickeln, entschiedener bei Umgestaltungen vorgehen, und der äußere Druck wird, wie das schon öfter der Fall war, unsere Gesellschaft nur konsolidieren, uns keine Gelegenheit geben, uns zurückzulehnen, ich würde sagen – er zwingt uns dazu, uns auf unseren wichtigsten Entwicklungsrichtungen zu konzentrieren.

Sicherlich stören uns die Sanktionen, mit diesen Sanktionen möchte man uns schädigen, unsere Entwicklung hemmen, uns in eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Isolation drängen – anders gesagt in die Zurückgebliebenheit. Doch ich möchte unterstreichen – das habe ich bereits gesagt und wiederhole es –, dass die Welt sich von Grund auf geändert hat. Wir haben es nicht vor, uns vor der Welt zu verschließen und uns für irgendeinen geschlossenen Entwicklungsweg, einen Weg der Autarkie zu entscheiden; wir sind immer dialogbereit, darunter auch zu Fragen der Normalisierung von Wirtschaftsbeziehungen, und ebenso auch der politischen Beziehungen. Wir rechnen hier mit einer pragmatischen Herangehensweise und pragmatischen Standpunkten der Businesskreise der führenden Länder der Welt.

Heute erklingen Behauptungen, Russland würde sich angeblich von Europa abwenden – wahrscheinlich ist das in den Diskussionen hier bereits angeklungen – Russland würde sich angeblich nach anderen Geschäftspartnern umsehen, vor allem solchen in Asien. Ich möchte sagen, dass das in keiner Weise stimmt. Unsere aktive Politik in der Asiatisch-Pazifischen Region gibt es nicht erst seit heute, sie hat nicht erst mit den Sanktionen begonnen, sondern bereits vor mehr als nur ein paar Jahren. Wir sind genau wie viele andere, darunter westliche Länder, davon ausgegangen, dass der Osten einen immer bedeutenderen Stellenplatz in der Welt einnimmt, was die Wirtschaft und die Politik angeht, und man muss das natürlich berücksichtigen.

Ich möchte nochmals unterstreichen: alle tun das, und auch wir werden das tun, zumal ein bedeutender Teil unseres Staatsgebiets in Asien gelegen ist. Warum sollten wir auch darauf verzichten, unsere diesbezüglichen Vorteile zu nutzen? Das wäre doch einfach kurzsichtig.
Der Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen mit diesen Staaten, gemeinsame Integrationsprojekte sind ein wichtiger Stimulus für unsere eigene, innere Entwicklung. Die heutigen demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Tendenzen zeugen davon, dass die Abhängigkeit von einer Supermacht natürlich ganz objektiv abnehmen wird, und davon reden und schreiben europäische und amerikanische Fachleute selbst.

Vielleicht erwarten uns in der Weltpolitik die gleichen Phänomene wie in der globalen Wirtschaft, und das ist eine intensive Konkurrenz in der einen oder anderen konkreten Nische, ein häufiger Wechsel von Führungskräften in bestimmten Richtungen. All das ist möglich.

Gegen globale Anarchie

Es steht außer Frage, dass im globalen Wettbewerb die Rolle von humanitären Faktoren steigen wird: das sind Bildung, Wissenschaften, Gesundheit, Kultur. Das wird seinerseits Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen haben, auch deshalb, weil die Ressource der sogenannten sanften Gewalt größtenteils von realen Errungenschaften bei der Bildung von Humankapital abhängt, mehr, als von der Gerissenheit propagandistischer Kunstgriffe.

Gleichzeitig stellt die Heranbildung einer sogenannten polyzentrischen Welt – und darauf möchte ich, verehrte Kollegen, auch Ihre Aufmerksamkeit lenken – nicht von sich aus höhere Stabilität dar, eher sogar umgekehrt Die Aufgabe bei der Heranbildung eines globalen Gleichgewichts bereitet einiges Kopfzerbrechen, ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten.

Was erwartet uns, wenn wir es vorziehen, nicht den Regeln gemäß zu leben, seien diese Regeln auch noch so streng und unbequem, sondern ganz ohne Regeln? Ein solches Szenario ist durchaus greifbar, man kann es nicht ausschließen, wenn man die aufgeheizte Lage in der Welt berücksichtigt. Bewertet man die heutigen Tendenzen, dann kann man schon eine Reihe an Prognosen abgeben, und leider sind diese nicht optimistisch. Wenn wir daran scheitern, ein fest umrissenes System gegenseitiger Verpflichtungen und Vereinbarungen zu schaffen, keine Mechanismen aufbauen, die Krisensituationen aufzulösen helfen, dann werden die Anzeichen einer weltweiten Anarchie sich nur verstärken.

Bereits heute ist die Wahrscheinlichkeit einer ganzen Reihe an verschärften Konflikten mit wenn nicht direkter, so doch mittelbarer Beteiligung von Großmächten enorm angestiegen. Dabei sind nicht nur die traditionellen Widersprüche von Staaten untereinander, sondern auch die innere Instabilität einzelner Staaten ein Risikofaktor, besonders, wenn es um solche Länder geht, die an den Nahtstellen geopolitischer Interessenssphären von Großmächten oder entlang von kulturhistorischen und wirtschaftlichen Grenzen zivilisatorischer »Kontinente« liegen.

Die Ukraine, von der hier sicher bereits viel die Rede war und auch noch die Rede sein wird, ist ein Beispiel für diese Art von Konflikten, die Auswirkung auf das weltweite Kräfteverhältnis haben – und dabei denke ich, dass dies bei weitem noch nicht der letzte dieser Art ist. Hieraus folgt die greifbare Perspektive der Zerstörung des bisherigen Systems der Vereinbarungen über die Begrenzung und Kontrolle der Arten von Bewaffnung. Den Beginn dieses gefährlichen Prozesses legten zweifelsohne die Vereinigten Staaten von Amerika, als sie im Jahre 2002 einseitig aus dem ABM-Vertrag zurücktraten und darauf daran gingen und es heute noch aktiv betreiben, ihr eigenes globales Raketenabwehrsystem aufzubauen.

Verehrte Kollegen und Freunde, ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass nicht wir mit diesem Prozess angefangen haben. Wir verfallen erneut in jene Zeit, als nicht ein Gleichgewicht von Interessen und gegenseitiger Garantien, sondern die Angst, ein Gleichgewicht der potentiellen gegenseitigen Vernichtung die Länder von direkten Konfrontationen abhält. Aufgrund des Fehlens von rechtlichen und politischen Instrumenten kehren die Waffen zentral auf die globale Tagesordnung zurück, sie werden überall und auf jede erdenkliche Weise eingesetzt, auch ohne Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Wenn jedoch der Sicherheitsrat es ablehnt, diese Art von Entscheidungen mit zu produzieren, dann wird er sogleich als veraltet und zu einem ineffizienten Instrument erklärt.
Teil 1 der Rede ist im Heft 4/2015 der Mitteilungen dokumentiert, der abschließende Teil 3 folgt.
Quelle: http://www.kremlin.ru/news/46860, Übers.: Horst Neumann, Friedensinitiative Bad Kleinen.