Antikommunismus und Neofaschismus in Europa
Emil Hruska, Tschechien
Zum Jahrestag der sogenannten Kristallnacht in Deutschland, am 10. November dieses Jahres, haben tschechische Neonazis unter Beteiligung von Neonazis aus dem Ausland versucht, einen Aufmarsch im Judenviertel in Prag durchzuführen. Da diese provokative Veranstaltung amtlich verboten worden war, griff die Polizei durch. Weil aber gegen die Neonazis viele Bürger und vor allem die Anhänger der linken autonomen Bewegungen demonstrierten, wurde der Polizeieingriff in Medien – und zwar auch von der Seite der führenden Politiker – als ein Eingriff gegen rechte und linke Extremisten bezeichnet, da die beiden Seiten doch die öffentliche Ordnung störten. Doch nicht genug damit: Das Verbot des Aufmarsches führte zu sehr ernst gemeinten Debatten über die Rechte der Neonazis als unsere Mitbürger im Rechtsstaat – weil die Entscheidung des Stadtamtes und folglich des Verwaltungsgerichtes angeblich im Widerspruch zum Versammlungsgesetz stand. Allgemein gelte doch, daß die Einhaltung der politischen Rechte, auch der Neonazis, auch unsere Freiheit schützt und die Grundlage des Rechtsstaates ist. Wenn aber im Rechtsstaat die Neonazis mehr oder weniger günstige Bedingungen für ihre Tätigkeit haben und sich auf die gesetzlichen politischen Rechte stützen können – wie kann sich dann der Rechtsstaat gegen Neonazis überhaupt noch effektiv wehren, wenn er auf Grundlage der schlechten Gesetze agiert?
Ein zweites Beispiel: Am 14. November wurde bekannt, daß die rechtsextreme Fraktion im Europäischen Parlament, die seit Januar dieses Jahres unter dem Namen „Identität, Tradition, Souveränität“ existierte, zerbrochen ist. Auch wenn alle Gegner der extremen Rechten diese Tatsache nur begrüßen können, muß man doch nach ihren Ursachen fragen. Denn der Bruch erfolgte nicht infolge von konzentriertem politischem und rechtlichem Druck der Gegner, sondern auf Grund unappetitlicher nationalistischer Streitereien innerhalb der Fraktion. Der Nationalismus, den man für ein begleitendes Phänomen und einen der zentralen Punkte der neonazistischen Ideologie halten kann, hat sich in diesem Fall paradoxerweise gegen die Rechtsextremisten selbst gewendet.
Das Phänomen des Nationalismus erfährt, so meine ich, gegenwärtig eine rasante und ungewöhnliche Wiederbelebung in den meisten europäischen Ländern, und seine Formen nehmen immer militantere Gestalt an – auch wegen seiner engen Verbindung mit dem Neonazismus. Für mich, dessen ursprüngliche Heimat – die Tschechoslowakei – gerade infolge des starken Nationalismus zweimal zerschlagen wurde, ist es besonders tragisch zu beobachten, wie heute Belgien zerfällt, das immer als ein Modell der europäischen Integration bezeichnet wurde, und wie flämische Nationalisten, vor allem Anhänger der extremen Rechten, erklären, daß ihr Vorbild gerade der Zerfall der Tschechoslowakei ist! Wenn aber das Modell der Integration zerfällt, was bedeutet das für die Integration als solche?
Den Trägern der zersetzenden Tendenzen in Europa, zu denen vor allem die Nationalisten gehören, schenkt man auf der Ebene der europäischen Institutionen paradoxerweise Gehör. Niemand bezweifelt, daß man ethnische und andere Minderheiten schützen muß. Aber wenn jemand auf seinen Rechten und seinem Schutz besteht, der unter dem „Minderheitenschutz“ die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten, in der Regel von Nachbarstaaten begreift und selber solche Rechte nicht zu respektieren bereit ist, muß man einen solchen Ruf einer sehr kritischen Analyse unterziehen – vor allem dann, wenn nicht von Minderheiten, sondern von sogenannten Volksgruppen die Rede ist. Wie die Erfahrungen zeigen, versteckt sich hinter solchem Ruf der historische Revisionismus, der nicht nur Folgen des Zweiten, sondern auch des Ersten Weltkrieges betrifft.
Es gelang zum Beispiel den nationalistisch orientierten ungarischen Abgeordneten im Europäischen Parlament, in der Sitzung des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres am 5. November dieses Jahres, den Punkt „Diskriminierung der Nationalminderheiten in EU-Ländern“ einzureihen. Allen aber war klar, daß es sich um einen weiteren Versuch handelte, im Europäischen Parlament die Problematik der sogenannten Beneš-Dekrete wiederzubeleben – was zum Glück nicht gelang.
Mit anderen Worten: wenn von der Beachtung der sogenannten gemeinsamen europäischen Werte die Rede ist, dann ist es unbedingt nötig, unter diese Werte neben der Toleranz gegenüber den Mitgliedern der nationalen, ethnischen und anderen Minderheiten auch die Unzulässigkeit des historischen Revisionismus einzureihen.
Als Bürger der Tschechischen Republik will ich auch sagen, daß ein bedeutsames Segment des Nationalismus und des mit ihm untrennbar verbundenen historischen Revisionismus, mindestens aus tschechischem Blick, die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) ist – eine Gruppierung, die auch von der Bundesregierung unterstützt wird, und zugleich eine Gruppierung, die schon jahrzehntelang die Beziehungen zwischen Tschechien und der BRD stört. Es ist aufschlußreich, die politische Taktik, die Formen und Methoden dieser Organisation zu verfolgen. Ihre Amtsträger knüpfen stetig an die Tätigkeit der ehemaligen „Volkstumskämpfer“ in der Tschechoslowakei an und haben deshalb große Erfahrungen. Man kann ihre Tätigkeit als findige Kombination aus unterschiedlichem Druck, hochentwickelter Heuchelei, der Suche nach immer neuen Wegen und Verbündeten, und – schon in der Zeit vor dem tschechischen EU-Beitritt – buchstäblich auch dem Mißbrauch der europäischen Institutionen, vor allem des Europäischen Parlaments für die Durchsetzung der revisionistischen Ziele charakterisieren.
Die SL-Amtsträger sprechen gerne über die „Europäisierung der sudetendeutschen Frage“. Diese beinhaltet bis heute laut ihrer Satzung „den Rechtsanspruch auf die Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe“ und „das Recht auf Rückgabe bzw. gleichwertigen Ersatz oder Entschädigung des (nach dem 2. Weltkrieg) konfiszierten Eigentums der Sudetendeutschen“. Voraussetzung für die Erfüllung solcher Ansprüche wäre die Revision der Resultate des Zweiten Weltkrieges, die sowohl im Potsdamer Abkommen als auch – was die Tschechoslowakei betrifft – in Präsidentendekreten (laienhaft und ungenau Beneš-Dekrete genannt) festgeschrieben wurden. Die sogenannte „Europäisierung der sudetendeutschen Frage“ bedeutet aber nur die Störung der europäischen Integration. Als im September dieses Jahres das slowakische Parlament die Unantastbarkeit der sogenannten Beneš-Dekrete bekräftigte, und zwar als Folge der immer stärkeren Tätigkeit der ungarischen Nationalisten, bezeichnete der SL-Vorsitzende und Abgeordnete des Europäischen Parlaments Posselt die sogenannten Beneš-Dekrete umgehend als ein „Krebsgeschwür in der EU, das endlich operativ entfernt werden müsse“. Und da die ungarische Nationalisten mit der SL sehr eng zusammenarbeiten, war es nicht überraschend, daß die Problematik der sogenannten Beneš-Dekrete wieder im Parlament behandelt werden sollte.
Diskussionsbeitrag von der Veranstaltung „Antikommunismus und Neofaschismus in Europa“ in Berlin (Europahaus) am 26. November 2007