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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

An meine Landsleute

Werner Mittenzwei, Bernau

Am 7. September 1960 starb Wilhelm Pieck. Über seine menschliche Wärme und sein Fingerspitzengefühl gibt es viele Geschichten. Eine davon erzählt Werner Mittenzwei in "Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln", 2 Bände, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1986.

Für Brecht war Wilhelm Pieck der einzige namhafte Politiker, den er näher kannte, mit dem er sich duzte. Mit ihm, der ein großer Freund der Künste war, ein unermüdlicher Theatergänger bis ins hohe Alter hinein, hätte Brecht gerne engeren Kontakt gehabt. Die sich in den folgenden Jahren rasch verschlimmernde Krankheit des Präsidenten verhinderte einen Gedankenaustausch, wie ihn sich Brecht wünschte. Pieck kam zu Schriftstellern und Künstlern immer als ein Fragender, niemals als einer, der seine Ansichten loswerden wollte. Wenn Wilhelm Pieck Künstler und Wissenschaftler zusammenrief, gab es keine Referate, sondern nur Aussprachen über Sorgen, Schwierigkeiten, Probleme. Solche Zusammenkünfte pflegte Pieck meist mit den Worten einzuleiten: "Also schießt los!" Der Kunst näherte er sich, nicht weil sie auch der Politik nützlich sein konnte, sondern weil sie ihm Spaß machte, seine Neugier weckte. Vor allem diese Haltung imponierte Brecht. Aber auch viele Schauspieler, die sich gegenüber der Politik im allgemeinen skeptisch verhielten, hatten den Alten gern. Pieck, dessen Rat auch Brecht öfter eingeholt hätte, suchte zunächst immer erst den Rat des anderen. Als er Staatspräsident wurde, schrieb ihm Brecht: "Lieber Genosse Wilhelm Pieck, darf ich Dir, um meine Freude über Deinen Amtsantritt auszudrücken, ein kleines Gedicht schicken, dessen Sprecher Du noch viel besser sein könntest als der Dichter? Mit sehr herzlichen Grüßen, auch von Helli, Dein bertolt brecht."

Das Gedicht war überschrieben "An meine Landsleute". Schon darin kam der besondere, persönliche Bezug zu dem Manne zum Ausdruck, dem Brecht das Gedicht gewidmet hatte. Wenn Wilhelm Pieck auf Massenveranstaltungen oder im Radio sprach, pflegte er seine Rede mit "Meine Landsleute" zu beginnen. Das Gedicht ist in Form einer Bitte abgefaßt, die einer, auf den nicht gehört wurde, an seinesgleichen richtet:

Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen
Als ob die alten nicht gelanget hätten:
Ich bitt euch, habet mit euch selbst Erbarmen!

Der Text geht davon aus, daß die Kommunisten immer gesagt hatten: "Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!" Doch die, die das aussprachen, wurden vertrieben oder eingesperrt. Nun aber, da die Nichtbelehrbaren im Elend sitzen, wendet sich der Sprecher, der Wilhelm Pieck sein könnte, nicht mit Vorwürfen an sie, sondern mit der inständigen Bitte:

Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten
Habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen!

Der Gestus der Bitte enthält die Selbstverleugnung des echten Agitators, der nicht darauf pocht, daß er es schon immer gesagt hat, daß man nur auf ihn hätte hören sollen, sondern der geduldig immer wieder von vorn beginnt. Er verweist darauf, man möge an sich selbst denken, an das Nächstliegende, an das Elementare. Aber er beläßt es nicht bei Worten, sondern verlangt Haltungen. Mehr als die Verführten, die in "gestorbenen Städten" sitzen, beschreibt der Gestus, die Diktion des Gedichts die Bescheidenheit und Weisheit des vertriebenen und nun heimgekehrten Agitators, der ohne Verbitterung seine Aufgabe fortsetzt und seine Landsleute warnt, nicht wieder aufs Messer zu setzen, sondern zur Kelle greifen. Gerade in dieser Hinsicht zeichnet das sonst stark verallgemeinernde Gedicht sehr persönliche Züge Wilhelm Piecks nach. Brecht schickte es ihm, mit der Hand, in seiner "Schönschrift" geschrieben, wie er es nur bei ganz seltenen Anlässen und für sehr enge Freunde tat.