An den Deutschen, dem ich auf der Straße begegne (1943)
Jean Guéhenno
Ich weiß nicht recht, was ich empfinde, wenn ich dir ganz nahe bin. Ich hasse dich nicht, nicht mehr. Ich weiß, dass du mich nie beherrschen wirst. Ich gebe vor, dich nicht zu sehen. Ich tue so, als gäbe es dich überhaupt nicht. Ich habe mir vorgenommen, nie mit dir zu sprechen. Ich kann deine Sprache, aber wenn du das Wort an mich richtest, hebe ich die Arme zum Himmel und spiele einen, der nicht versteht. Neulich allerdings bist du auf mich zugetreten. Du irrtest umher wie eine verlorene kleine Drossel, auf der Suche nach Notre Dame. Da habe ich geruht zu verstehen, und mit einer Handbewegung, wortlos, habe ich dir die Türme gezeigt, die auf der anderen Seite des Flusses in den Himmel ragten und dir fast in die Augen sprangen. Du bist dir dumm vorgekommen, bist errötet, und ich war zufrieden. So steht es also mit uns ...
Du bist allzu zugeknöpft. Die Herrenhandschuhe, die du trägst? Du bist allzu korrekt. Dein Dolch? Deine Pistole? Ein behandschuhter Erschießer. Deine Stiefel? Wieviel Paar Schuhe könnte man daraus für die machen, die jetzt barfuß laufen!
Ich sehe dich von Kopf bis Fuß in deiner Uniform, die nun schon ein bisschen zerknittert ist, an den Knien und Ellbogen ziemlich abgewetzt, mit dieser Inschrift in der Mitte, auf deinem Nabel, auf deiner Koppelschnalle, die ich stets mit derselben Überraschung entziffere: »Gott mit uns«. Ein seltsamer Gott! Ist er auch mit dir, wenn du erschießt? War er mit dir, als du meinen Freunden, um besser zielen zu können, jenes weiße Herz aus weißem Papier an die Brust geheftet hattest? Denn du machst gern alles gründlich. Begreifst du, dass ich dich nicht ansehen kann? Denn wenn du es am Ende gewesen wärest? Wenn ich in deinen Augen jenes Flämmchen entdeckte, welches bewirkt, dass du so gut erschießt? Ihr seid nicht so zahlreich in Paris, und sechshundertsiebzig Pariser sind bereits erschossen worden. Zu zehn je Kommando, macht das sechstausendsiebenhundert Todesschützen. Wer sagt mir, dass du nicht einer von ihnen bist?
Ich sage mir, dass es bei euch sicher auch verschiedene gibt, wie bei uns. Auch ganz schön schlechte. Zum Beispiel die Offiziere, die man zwischen der Madeleine und der Oper antrifft, mit ihren feinen Tuchmänteln, ihren hohen, selbstgefälligen Mützen, den vernickelten Dolchen, die ihnen am Gesäß baumeln, dümmlichen Stolz ins Gesicht geschrieben. Und dann eure kleinen geschäftigen Weibsbilder, diese Postbediensteten und Telefonistinnen. Neulich bin ich vor dem Marineministerium stehengeblieben, um mir die Posten anzusehen, diese beiden unbeweglichen Hampelmänner, die dort seit über zwei Jahren zu beiden Seiten des Eingangs stehen, wie ein Symbol eurer schaurig funktionnierenden Ordnung mitten in Paris. Ich sah eine Weile zu, wie sie ihre Marionettendrehungen vollzogen, und ich wandte mich mich voller Widerwillen ab, wobei ich - o Schicksal! - jemanden anrempelte. Ich entschuldigte mich. Ich blickte hoch, wer stand vor mir? Eine dieser Walküre-Telefonistinnen, rot vor Zorn, mit schäumendem Mund, drauf und dran wegen der Kränkung, die die sie erlitten hatte, die Wache zu rufen. Aber meine Entschuldigung hatte sie verwirrt. Sie fasste sich wieder und sagte mit triumphierender Miene: »Ach! ... so ...« Ich habe meine Entschuldigung sehr bedauert ...
Aus »Frankreich meines Herzens« (1987), S. 39ff.