Am 1. Juli 1937 wurde Pfarrer Martin Niemöller verhaftet
Horsta Krum, Berlin
Genauer gesagt: er wurde in Untersuchungshaft gebracht. Sieben Monate später, Anfang Februar 1938, fand der Prozess statt. Die Anklage lautet: Kanzelmissbrauch und Aufforderung zum Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Das Urteil legte sieben Monate Festungshaft fest und 2.000 Reichsmark wegen Vergehen gegen Paragraph 4 der Staatsschutzordnung. Dies war praktisch ein Freispruch, denn die Festungshaft und 500 Reichsmark waren bereits abgegolten. Der Angeklagte hätte auf freien Fuß gesetzt werden müssen.
Der Staatsanwalt hatte händeringend stichhaltiges Material für eine harte Strafe gesucht, fand aber keins, denn der Widerstand des Angeklagten richtete sich vor allem gegen die "Deutschen Christen", die ein Christentum ohne Judentum durchsetzen wollten und die den Arierparagraphen (christliche Juden nicht in kirchlichen Ämtern) auch in der Kirche einführen wollten. Der Widerstand richtete sich also nicht gegen den Staat. Die Juden, sagte er, seien ihm unsympathisch, aber es gehe von der Bibel her nicht an, die Taufe durch den Stammbaum zu ersetzen. Das bisherige Leben des Angeklagten ist eindeutig: Im ersten Weltkrieg war er erfolgreicher U-Boot-Kommandant gewesen und weigerte sich, "sein" U-Boot den Engländern als Reparation zu übergeben. Dann gehörte er zu den Freikorps, die die Arbeiteraufstände im Rheinland niederschlugen. Er begrüßte die Machtübernahme Hitlers und seiner Partei, weil sie die Ehre Deutschlands wiederherstellen würden. 1935 erschien sein Buch "Vom U-Boot zur Kanzel", das seine Loyalität ebenfalls belegte.
Nach dem Theologiestudium wurde er Pfarrer in Berlin-Dahlem. Dort gründete er 1933, mit anderen zusammen, den "Pfarrernotbund", aus dem 1934 die "Bekennende Kirche" hervorging. Fast alle ihrer Mitglieder hatten die gleiche theologische und politische Überzeugung wie Niemöller: ihr Kirchenkampf wurde im NS-Staat ausgetragen, nicht gegen ihn. [Die Angaben über den Prozess stützen sich auf den Bericht von M. Ziegler, den Rosenberg als Beobachter entsandt hatte. H. Prolingheuer hat diesen Bericht bekannt gemacht.]
Hitler fürchtete Niemöllers Temperament und Beliebtheit, auch im Ausland. Deshalb sollte das Gericht zu einer gut fundierten Verurteilung kommen. Als Hitler das Urteil erfuhr, soll er, nach Angaben des NS-Ideologen Rosenberg, getobt haben. Einen Freispruch duldete er nicht, deshalb wurde Niemöller sein "persönlicher Gefangener". Der solle "auf das anständigste behandelt" werden, er solle Zigarren erhalten und Bücher, die er wolle.
Auch im Konzentrationslager Sachsenhausen (ab 1941 Dachau) änderte Niemöller seine Überzeugung nicht; so meldete er sich 1939 bei Kriegsbeginn freiwillig, um seine Erfahrung und seine Kenntnisse in den Dienst Deutschlands zu stellen. Keitel, der Chef der Wehrmacht, lehnte das Gesuch ab.
Der radikale Bruch in Niemöllers Überzeugung (was in der Kirchensprache "Buße" oder "Umkehr", d.h. Kehrtwendung um 180 Grad, genannt wird) geschah 1945, als er das Konzentrationslager verließ und begriff, was die Nazi-Herrschaft angerichtet hatte: "Von 1933 bis zum 1. Juli 1937 habe ich kein Alibi. Ich bin schuldig geworden, weil ich 1933 noch Hitler gewählt habe, weil ich geschwiegen habe, als man Scharen von Kommunisten verhaftete und einsperrte; ja, auch im KZ bin ich schuldig geworden, denn während all die Menschen ins Krematorium geschleift wurden, habe ich mich in die Ecke gedrückt und nichts dazu gesagt."
Im Herbst 1945 treffen sich Verantwortliche, um die evangelische Kirche neu zu ordnen. Niemöller ist dabei und wird Leiter des Amtes, das die Beziehungen zu anderen Kirchen regelt, besonders zum Ausland. Auf diesem Treffen wird ein Schuldbekenntnis formuliert, mit dem Niemöller nicht einverstanden ist: "Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt haben ..." – besagt diese Formulierung doch, dass die Richtung, in die die Kirche ab 1933 ging, insgesamt richtig war, die Kirche hat nur eben nicht genug getan! Und der erste Satz trifft noch weniger zu. So formuliert Niemöller einen Satz, dem die anderen Teilnehmer nicht zu widersprechen wagen, auch, um die ausländischen Kirchen nicht zu verärgern: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden."
Der Kirchengeschichtler Hans Prolingheuer sagt pointiert, dass in diesem Schuldbekenntnis Wahrheit (der Satz von Niemöller), Halbwahrheit (der Komparativ) und Unwahrheit (der erste Satz) dicht nebeneinander stehen. Genauso muss es Niemöller empfunden haben, denn später bereut er, dass er sich auf diesen Kompromiss-Text eingelassen hat.
1947 treffen sich Angehörige der Bekennenden Kirche und formulieren – unter Mitwirkung von Niemöller – ein deutlicheres Wort: "Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum von einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könnte ... Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine "christliche Front" aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt ... Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag ... für das ... Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten ... zur Sache der Christenheit zu machen."
Niemöller kann sich mit dieser Erklärung identifizieren; aber sie löste eine Flut von Protesten aus. In der Folgezeit setzt sich insgesamt die rechte konservative Richtung durch, deren bekanntester Vertreter Dibelius ist.
Niemöller wird Präsident der Landeskirche von Hessen-Nassau. Er bleibt unbequem innerhalb der Kirche und als Staatsbürger. Deutlich lehnt er die Politik Adenauers ab, beteiligt sich an Protesten gegen die atomare Aufrüstung. 1959 sagt er: "darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten die hohe Schule der Berufsverbrecher" – was ihm eine Anzeige des damaligen Verteidigungsministers Strauß einbringt, die aber im Sande verläuft.
In einem Winkel seines Herzens ist Niemöller wohl immer Marine-Offizier geblieben. Noch im hohen Alter verblüffte er durch sein militärisches Wissen und stritt leidenschaftlich über die Qualität der kaiserlichen Marine.
1946 schreibt ihm sein Freund, der bekannte Schweizer Theologe Karl Barth: "Die Art, wie man Dich ... in Ehren kalt zu stellen und unschädlich zu halten versucht hat, ist verräterisch dafür, wie die Dinge in der EKD (der Evangelischen Kirche Deutschlands) noch immer und nun aufs Neue stehen." Heimlich wünschten sich vielleicht einige, "es stünde zu Dachau oder anderwärts ein wunderschönes Gedächtniskirchlein, zu welchem sie alle Jahre einmal wallfahren könnten ..."
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