Als der Krieg nach Deutschland zurückkam
Wolfgang Gehrcke, Berlin
20 Jahre nach Beginn des Kosovo-Kriegs – 10 Jahre nach der Sezession von Kosovo
»Es war einmal …«, so beginnen Märchen, und im Rückblick auf eine historisch doch nur ganz kurze Zeitspanne erscheint es wie ein Märchen, dass man sich einmal sicher war, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen wird. Denn das war 1949, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, klar: Von deutschem Boden wird niemals mehr Krieg ausgehen.
Bis zur Vereinigung 1989 war diese Maxime zwar immer gefährdet, beide deutschen Staaten gehörten schließlich Militärpakten an und die NATO verfolgte eine expansive Strategie, aber sie hatte sich durchgesetzt und hielt. Die Bundeswehr und die NVA waren Armeen zur Abschreckung, nicht zum Krieg. Die US-amerikanische »Nachrüstung« mit Pershing II und Cruise Missile in Westdeutschland wie auch die sowjetischen SS20 in Ostdeutschland waren eine große Belastung für den Frieden im Herzen Europas, aber selbst damals war niemand davon ausgegangen, dass ein Krieg mit deutscher Beteiligung direkt vor der Tür stünde. Die Doktrin der Abschreckung, der möglichen atomaren Vernichtung – »wer als erstes schießt, stirbt als Zweiter« – disziplinierte Ost und West. Hinzu kamen eine starke Friedensbewegung im Westen und eine engagierte Anti-Kriegsstimmung im Osten, die einen Krieg als Mittel ausschlossen.
Wenn man die Lebenserinnerungen von Generälen und Offizieren der Nationalen Volksarmee liest oder ihnen zuhört, wird viel tiefergehend deutlich, dass die NVA keine Armee für den Krieg, sondern eine Armee zur Verhinderung des Kriegs war. Das konnte man von der Bundeswehr leider nicht in dieser Eindeutigkeit sagen. Zu sehr war sie geprägt von Offizieren und Generälen, die ihr Kriegs-»handwerk« noch unter den Nazis gelernt hatten. Doch um 1968, so schien es, war endlich eine Generation herangewachsen, die sich vom Krieg als Mittel der Politik befreit hatte.
Mit der Bundestagswahl vom 27. September 1998 ging endlich die bleierne Zeit der Kohl-Ära zu Ende. Und die Hoffnung auf Rot-Grün war riesig, groß auch bei mir. Doch bevor Gerhard Schröder als Bundeskanzler von der SPD und Josef Fischer als grüner Aussenminister im Bundestag vereidigt wurden, reisten sie zu ihrem Antrittsbesuch in die USA. Nicht einmal Oskar Lafontaine als designierter Finanzminister und SPD-Vorsitzender wusste von dieser Reise. An deren Ende stand die deutsche Zustimmung zu einer Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg. Rot-Grün, Schröder und Fischer, brachen mit dem Vermächtnis von Buchenwald wie mit dem von Willy Brandt: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!
Der Bundestag, damals noch in Bonn, stimmte mit großer Mehrheit für die deutsche Kriegsbeteiligung. Deutschland beteiligte sich an dem NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien. Das hatte ich mir nie vorstellen können. Selbst der Verteidigungsminister, der unter Kohl das Kommando hatte, Volker Rühe, hat mir immer wieder gesagt, es sei die Politik der Regierung Kohl, dass keine deutschen Soldaten dort eingesetzt werden dürften, wo deutsche Soldaten schon einmal waren. Kohl wusste noch, was ein Krieg bedeutet, Schröder und Fischer hingegen, zudem unter Druck der USA, waren diese Kenntnisse abhanden gekommen. Die Friedensbewegung brachte zigtausende Menschen zum Protest gegen den NATO-Krieg auf die Straße, und im Bundestag stimmten die Fraktion der PDS und einzelne, leider wenige, Abgeordnete anderer Fraktionen gegen die deutsche Kriegsbeteiligung.
Die Bevölkerung in Deutschland sollte jetzt ganz schnell von ihrer »Kriegsmüdigkeit geheilt« werden, nicht zuletzt mit einer Dauerberieselung über Verbrechen der Serben, vor allem aber mit dem Vergleich Fischers, Kosovo sei die Rampe von Auschwitz. Das war die Geburtsstunde der »humanitären Intervention« als Kriegsgrund. Die terroristische UCK wurde zu einer Befreiungsorganisation umgemodelt und das alte Jugoslawien als gewalttätig, autoritär, eben: kommunistisch, diskreditiert. Und das alles, nachdem doch vorher Jugoslawien als moderner Staat galt, der sich gegen den »Sowjetimperialismus« auflehnt.
Der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi besuchte Milošević, um in letzter Minute einen Krieg zu verhindern. Das hat ihm bei den anderen Bundestagsparteien und in den Medien harsche Kritik eingebracht, aber es war ein mutiger Versuch, einen Krieg in Europa in letzter Minute zu verhindern. Keiner konnte damals verbindlich sagen, wie sich Russland, politisch mit Serbien verbunden, verhalten würde. Ein großer Krieg, vielleicht sogar ein Weltkrieg, konnte zumindest nicht ausgeschlossen werden. Die Linke in Europa war zu schwach, um der NATO Einhalt zu gebieten.
Ich erinnere mich an eine Reise mit Gregor Gysi nach Italien, als wir die italienischen Kommunisten gebeten hatten, durch ihren Austritt aus der italienischen Regierung den Krieg zu stoppen, wenigstens zu verzögern. Wir konnten sie nicht überzeugen; vielleicht auch deshalb nicht, weil sie spürten, dass die PDS als Oppositionspartei, wäre sie in der Regierung, selbst diese Konsequenz vielleicht nicht gezogen hätte. Das Argument »wenn wir gehen, kommt es nur noch schlimmer« ist eine starke, aber schlimme Fessel, damals wie heute. Was aber kann schlimmer sein als der Krieg selbst?
Der Kosovo-Krieg hat bei mir die Erkenntnis gefestigt, man muss aus der NATO austreten, die NATO muss aufgelöst werden, sie ist nicht reformierbar. Rot-Grün hat deutsche Kriegsbeteiligung wieder möglich gemacht, und es ist der Fluch dieser bösen Tat, dass sie fortwährend Böses gebiert. Das war und ist der tiefste Einschnitt nach dem II. Weltkrieg. Die bleierne Zeit von Helmut Kohl haben Schröder und Fischer durch eine bleihaltige Zeit ersetzt, just als die Chance bestand, nach der Auflösung des Warschauer Paktes auch die NATO aufzulösen.
Das ist heute schwieriger als damals, aber noch dringender. Stabilität für den Balkan ebenso wie für die anderen Krisenregionen in Europa (und anderswo) ist nur durch Abrüstung, zivile Konfliktlösung und eine beherzte Politik der guten Nachbarschaft zu erreichen.
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