Allendes Traum von einer anderen Welt
Michael Holzmann, Freising
Es gibt nicht viele Beispiele praxistauglicher Umsetzungen sozialistischer Ideen auf unserem Planeten. Allendes Version eines chilenischen Sozialismus, der, genussfreudig, nach Rotwein und Empanadas schmecken sollte, gehört sicher dazu. Salvador Allende wurde am 26. Juni 1908 geboren. Er entschied sich für ein Medizinstudium, das er 1933 erfolgreich beendete. Die schlechte körperliche Verfassung vieler seiner Landsleute machte aus ihm einen politischen Menschen. Als Mediziner spürte er intensiver als andere, was es für die menschliche Entwicklung bedeutet, wenn Kinder mangelernährt heranwachsen müssen. Es können daraus irreversible Schäden, die das weitere Leben überschatten, entstehen. 600.000 Kinder waren unterernährt, mehr als die Hälfte der Chilenen war schlecht ernährt. Es waren systembedingte schwere Körperverletzungen. Dazu kam noch, dass – bei einer damaligen Bevölkerung von 10 Millionen – 500.000 Familien wohnungslos waren, die Versorgung der Menschen mit sauberem Wasser und Elektrizität sehr mangelhaft war. Es wurde immer wieder in Chile über diese Probleme diskutiert, jedoch veränderte sich nichts. Allende wurde klar, dass diese Defizite systembedingt waren. Deshalb wollte er das kapitalistische System überwinden, das offensichtlich in seinen Profiteuren ein hohes Maß an Gleichgültigkeit gegenüber den elenden Lebensverhältnissen der Mehrheit ihrer Landsleute erzeugte. Ein Wirtschaftssystem schaffen, das Mitgefühl und Solidarität zwischen den Menschen förderte, ein Bewusstsein in der Gesellschaft verankern, das die Deckung der grundlegenden Bedürfnisse aller Bürger – Nahrung, Bekleidung, Wohnung, Arbeit, Strom, sauberes Wasser, Kulturzugänge – zum obersten Ziel aller Anstrengungen erklärt. Dieses Alternativmodell nannte Allende »Sozialismus«. Der Sozialismus nach Allende bedeutete radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche, alle Bürger sollten die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens haben. Es ging ihm also um wirkliche und vertiefte Demokratie. Dies musste zu einer Konfrontation mit den Trägern des bürgerlichen Staates führen. Die extrem ungleiche Verteilung des von allen erwirtschafteten Reichtums, Teil der DNA des Kapitalismus, bedeutete immer auch ein Übermaß an politischer Macht in den Händen der Profiteure dieses Systems, so dass Chile mehr einer inszenierten Demokratie glich. Wer es wie Allende mit der Demokratie ernst meinte, untergrub aus der Sicht der Besitzenden ihre Machtbasis. Allendes Sozialismus war nicht autoritär. Er beschrieb ihn als freiheitlich, und mit einem Mehrparteiensystem vereinbar.
Allende war wohl die prägendste Persönlichkeit der politischen Linken Chiles. Er bekannte sich zu einem lebendigen Marxismus. Er war Mitbegründer der sozialistischen Partei Chiles, 1933. 1939 wurde er Gesundheitsminister in einer »Volksfrontregierung«, er galt als »Minister der Armen«. 1952 erstmals Präsidentschaftskandidat eines Wahlbündnisses linker Parteien, ohne Erfolg. Dies setzte sich 1958 und 1964 fort. Eine Konsequenz dieser Niederlagen war eine Politik der Verbreiterung, man versuchte die verschiedenen progressiven Gruppen im Land besser zusammenzufassen zu einem Bündnis. So gründete sich die Unidad Popular (Volkseinheit) 1969, die die Kommunisten, die Sozialisten, die Sozialdemokraten, eine abgespaltene Gruppe linker Christdemokraten, MAPU genannt, die Partei linker Christen und die revolutionäre Linke Chiles, die MIR, umfasste. Am 4. September 1970 war es dann soweit: Allende errang eine relative Mehrheit von 36,6 Prozent, knapp vor dem Kandidaten der politischen Rechten, Allesandri, der 35,3 Prozent erreichte. Es war gute Tradition in Chile, dass das Parlament den Kandidaten mit der relativen Mehrheit zum Präsidenten wählte. Dies geschah dann auch am 24. Oktober 1970. Das sollte aus Sicht der US-Regierung unbedingt vermieden werden. Die von ihr betriebene Anstachelung der Armee zum Militärputsch scheiterte. Die US-Regierungen betrachteten Lateinamerika als ihren »Hinterhof«, in dem sie schalten und walten zu können glaubten nach ihren Vorstellungen. Am 3. November 1970 trat Allende sein Amt offiziell an.
Nun war sie an der Macht, die Regierung der Lebenden, die Interessenvertreterin derjenigen, die das kapitalistische System in eine ausweglose Mangelexistenz hineinzwang. Es gab viel zu tun in diesem potentiell so reichen Land. Kraftvoll waren die ersten Schritte: eine Erhöhung der Löhne um 50 Prozent, die Einfrierung der Preise für die Mieten und die wichtigen Grundbedarfsmittel, kostenloser Zugang zu den Schulen und zur Gesundheitsversorgung, für jedes Kind umsonst ein paar Schuhe und den täglichen halben Liter Milch, sowie Alphabetisierungsprogramme. Nun mussten diese Maßnahmen finanziert werden. Dazu diente die Nationalisierung der ertragreichen Kupferminen, bislang eine verlässlich sprudelnde Geldquelle für US-amerikanische Konzerne. Das jedoch reichte nicht. So gelangte das »heiße Eisen« der Verteilungsgerechtigkeit auf die Tagesordnung der chilenischen Gesellschaft. Die reiche Oberschicht musste lernen, etwas abzugeben, damit andere leben konnten. Dieser Lernprozess fand nicht statt.
Allende wollte das Elend der Mehrheit beenden. Die Lebendigkeit des Lebens hatte sich zu wehren gegen die bürgerliche Lebenslogik der Anhäufung. Dies machte den Konflikt unausweichlich. Das Ziel der entfachten, destruktiven bürgerlichen Energie war es, eine Atmosphäre der Unregierbarkeit zu schaffen, um der Öffentlichkeit die angebliche Unfähigkeit der Regierung vor Augen zu führen. Die Großgrundbesitzer verbrannten ihre Ernte, die Händler hielten ihre Waren des täglichen Bedarfs zurück, die Spediteure traten in den Streik, die US-Regierung verhängte ein umfassendes Handelsembargo und verhinderte in den internationalen Gremien Kreditzusagen an Chile. Die chilenische Wirtschaft litt fortan an einem erheblichen Mangel an Ersatzteilen und Maschinen, eine massive Flucht des privaten Kapitals kam hinzu. Die Eigner der Großbetriebe wollten die Produktion stilllegen. In dieser Bedrängnis, als die Kapitalisten sich selbst »aus dem Spiel« nahmen, entwickelte sich so etwas wie die »Geburt einer anderen Welt«. Die Arbeiter übernahmen die stillgelegten Betriebe in Eigenregie, organisierten Landbesetzungen, um die unbewirtschafteten Flächen selbst zu bebauen, um auf diese Weise die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Feudalistische, hierarchische und herrschaftliche Strukturen verschwanden plötzlich zugunsten einer echten, demokratischen und basisorientierten Selbstorganisation mit dem interessanten Ergebnis, das es besser lief als unter der kapitalistischen Knute. Die unerwartete Kraft der Arbeiter zur Selbstorganisation »rettete« die Regierung und ließ alle bürgerlichen Versuche, Allende vorzeitig aus dem Amt zu kegeln, ins Leere laufen.
Die Ergebnisse der Kommunalwahlen – die Unidad Popular erreichte über 50 Prozent – und der Wahlen zum Parlament Chiles, dem Kongress – die Unidad Popular steigerte sich auf knapp 44 Prozent – ließen erkennen, dass immer deutlicher und organisierter sich der Wille nach grundlegenden sozialen Veränderungen aus der Bevölkerung heraus formierte. Es war absehbar, dass auf demokratischem Wege Chile die Richtung in »eine andere Welt« einschlagen würde, und somit die Privilegien einer eher kleinen Schicht mitsamt ihres Reichtums von einer Mehrheit nicht länger hingenommen werden würden. Diese Schicht geriet immer mehr in Panik, und sie ließ deshalb ihre demokratische Fassade vollends fallen. Sie forderte nun den Einsatz nackter Gewalt durch das Militär, um ihren »besitzfixierten« Lebensstil zu retten. Die chilenische Armee galt allgemein nicht als putschfreudig, es dauerte also einen längeren Zeitraum, um sie schließlich nach 3 Jahren Allende-Regierung auch durch den Austausch des Oberkommandierenden – neuer Chef wurde ein Herr Pinochet – putschwillig zu machen. Der Militärputsch gegen die rechtmäßige chilenische Regierung geschah am 11. September 1973, die Armee bombardierte den Präsidentensitz und trieb auf diese Weise Allende in den erzwungenen Freitod. Die Aufgabe der neuen Militärregierung war es, das Unerhörte – das kritische Bewusstsein, mitsamt dem Infragestellen ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse – »auszurotten«, unter Zuhilfenahme faschistischer Methoden.
Es gehört zum »guten Ton« von weiten Teilen der westlichen Medien, Allende schlecht zu machen. Eine chilenische Journalistin, Augenzeugin dieser bewegenden Zeit, erinnert sich nach 26 Jahren:
»Am Abend nach dem Wahlsieg herrschten auf den Straßen bei den armen Leuten überschwengliche Glücksgefühle, eine Ausgelassenheit, wer aber genau hinspürte, bekam jedoch schon jetzt eine Ahnung des kommenden ›Furchtbaren‹, des bevorstehenden Dramas, das sich dahinter verbarg. Man konnte es förmlich riechen. Die ›Allende-Zeit‹ war eine Zeit der Werte, der Hingabe und der Solidarität. Nie waren wir so frei wie in den 3 Jahren. Nie waren wir so glücklich wie in den 3 Jahren. Wir glaubten mit den Fingern den Himmel zu berühren.«
Zum Schluss noch ein Auszug aus der Rede von Salvador Allende vor der Uno-Vollversammlung in New York am 4. Dezember 1972. Allendes Reden hatten manchmal etwas Poetisches, sie waren politische Poesie. Ich meine damit, dass er imstande war, mit seinen Worten das Innerste im Zuhörer zu berühren, die Sehnsucht nach einer menschlicheren, anderen Welt wach zu machen. Zugleich wird in einfachen Sätzen klar, was es heißt, »links« zu sein.
»Die Völker südlich des Rio Bravo erheben sich, und sagen: Es reicht. Schluß mit der Abhängigkeit! Schluß mit der Unterdrückung! Schluß mit der Einmischung! Hunderttausende Chilenen haben mich mit großer Begeisterung verabschiedet, und mir diese Botschaft mit auf dem Weg gegeben: Das Vertrauen in unsere eigenen Kräfte stärkt unseren Glauben an die großen Werte der Menschheit, und auch unsere Überzeugung, dass diese Werte siegen werden, denn sie sind unzerstörbar.«