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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Aktuelle Aufgaben im Wahlkampf unter den Bedingungen der Wirtschafts- und Finanzkrise

Sahra Wagenknecht, Berlin

In ihrer Rede auf der Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform am 19. April 2009, die wir hier dokumentieren, formulierte Sahra Wagenknecht Kritik am Entwurf für ein Wahlprogramm der Linken. Sie bezieht sich dabei auf dessen ersten Entwurf. Erfreulicherweise hat inzwischen eine grundlegende Überarbeitung dieses Wahlprogramms stattgefunden. Der auf der Sitzung des Parteivorstandes am 10. Mai 2009 beschlossene Entwurf hat die massiv aus der Partei geäußerte Kritik aufgegriffen und die entsprechenden Stellen in einer Weise verändert, daß ein insgesamt vernünftiger linker Text dabei herausgekommen ist. – Red.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich werde im folgenden etwas sagen zu der Situation, in der wir uns befinden – vor allem natürlich der ökonomischen Situation in diesem Wahljahr – und dann konkret eingehen auf das Wahlprogramm, auf die Wahlstrategie der Linken und auf unsere Aufgaben, so wie ich sie sehe.

Das Wahljahr und wahrscheinlich auch ein großer Teil der kommenden Legislatur werden ja im Zeichen dieser schwersten Weltwirtschaftskrise seit über 80 Jahren stehen. Wenn man sich jetzt die Überschriften der Zeitungen vergegenwärtigt, könnte man fast das Gefühl haben, daß überall plötzlich Linke am Ruder sind. Auf einmal sind die sogenannten Selbstheilungskräfte des Marktes völlig out, man setzt statt dessen auf politische Gestaltung, auf Verstaatlichung von Banken, sogar den Begriff der Enteignung findet man inzwischen in Bundesgesetzen wieder. Wenn man etwas naiv nur diese Begrifflichkeiten verfolgt, könnte man meinen, wir leben hier in ganz neuen Zeiten. So ist das natürlich nicht. Die Politik der Herrschenden hat weiß Gott nichts mit einer Sozialisierung des gesellschaftlichen Reichtums zu tun, sondern das, was hier sozialisiert werden soll, sind die riesigen Verluste, die die sogenannten Wirtschafts-Eliten in ihrer jahrelangen Jagd nach Maximalrenditen produziert haben. Die entscheidende Frage ist damit längst nicht mehr, ob der Staat sich in die Wirtschaft einmischt, ob der Staat und die Gesellschaft sich wirtschaftlich engagieren, sondern in wessen Interesse, mit welchen Zielen und auf wessen Kosten sie das tun.

Die Grenzen des globalen Kapitalismus

Die Gegensätze sind also nicht mehr so, wie sie teilweise früher suggeriert wurden nach dem Motto: Die Linke steht für Staatseingriffe oder für stärkere staatliche Gestaltung, der politische Konservatismus steht für den freien Markt. Nun war es ja nie so, daß sich der kapitalistische Staat völlig rausgehalten hätte aus dem Wirtschaftssystem. Dennoch haben die Konservativen und Liberalen bis zur Krise immer diesen freien Märkten gehuldigt. Dies hat sich nun geändert und es ist völlig offensichtlich geworden, daß die Neoliberalen entfesselte Märkte eben nur so lange propagieren, solange die Konzernbosse und Vermögensmillionäre von diesen freien Märkten profitieren und daß "Privat vor Staat" sich in dem Augenblick erledigt hat, wo es um die Verteilung von Verlusten geht.

Die Krise hat auch offensichtlich gemacht, wie verlogen das jahrelange Geschwätz über leere Kassen und öffentliche Sparzwänge war: Denn wer mal eben so 480 Milliarden aus dem Hut zaubern kann, um sie in maroden Banken zu versenken und wer gleichzeitig die Forderung nach einem Hartz-IV-Regelsatz von 500 € für populistisch erklärt, der beweist letztlich nur, in wessen Diensten er Politik macht. Daher sollte man solchen Leuten niemals wieder die Heuchelei durchgehen lassen, für armutsfeste Renten, für soziale Sicherheit, für ein gebührenfreies Studium oder gebührenfreie Gesundheitsversorgung sei das Geld nicht da. Sie beweisen jetzt: Wenn sie wollen, haben sie unendlich viel Geld, und das ganze Problem besteht darin, daß sie für bestimmte Dinge das Geld gar nicht haben wollen.

Die Krise hat natürlich auch die Systemfrage und die Alternative "Sozialismus oder Barbarei" in einer völlig neuen Dimension auf die Tagesordnung gebracht. Denn diese Krise ist eindeutig eine Systemkrise. Sie ist das Ergebnis einer jahrelangen Politik der Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung, der Lohndrückerei, die jenem wildgewordenen Kapitalismus den Weg bereitet hat, in dem wir heute leben. So wurden beispielsweise in Deutschland durch rüdes Lohndumping und durch sozial verantwortungslose Steuergeschenke allein in den letzten 10 Jahren rund eine Billion Euro zu Gunsten der Bezieher von Kapital- und Vermögenseinkommen umverteilt. Eine Billion Euro allein in 10 Jahren! Und es war genau diese Einkommenskonzentration zu Gunsten der oberen Zehntausend, die die Nachfrage auf den Gütermärkten abgewürgt und zugleich dafür gesorgt hat, daß sich die Finanzmärkte immer mehr aufblähten und eine riesige Finanzblase entstehen konnte, die jetzt geplatzt ist.

Daß dieses absurde Entwicklungsmodell nicht schon sehr viel früher in eine dramatische Krise geführt hat, hatte vor allem mit speziellen Entwicklungen in den USA zu tun. Das Kapitalismusmodell made in USA bestand nämlich darin, Löhne durch Schulden zu ersetzen, und so für eine gewisse Zeit das Nachfrageproblem des Kapitalismus zu lösen. Denn die USA haben schon wesentlich früher als die Bundesrepublik mit rabiatem Lohndumping die Profitraten erhöht. Sie haben heute reale Stundenlöhne, die auf dem Niveau der siebziger Jahre liegen. Und normalerweise führt dieses Lohndumping genau zu dem, was wir in Deutschland erleben: Der Binnenmarkt geht kaputt, weil die Leute sich kaum noch etwas leisten können. Dies hat in den USA jedoch nicht stattgefunden, weil den Privathaushalten durch Ausweitung der Kreditvergabe die Möglichkeit gegeben wurde, trotzdem so weiter zu konsumieren, als würden sie noch ordentlich verdienen. Dadurch konnte nicht nur in den USA der Binnenmarkt stabilisiert werden, sondern die Konzerne auf der ganzen Welt – und insbesondere eben auch die deutschen Konzerne – haben durch dieses Modell weiterhin ihren Umsatz und damit ihre Profite realisieren können. Insoweit sind das exportorientierte Modell Bundesrepublik und die Hyperverschuldung der amerikanischen Konsumenten zwei Seiten einer Medaille.

Allerdings ist dieses Grundmodell, das den globalen Kapitalismus in den letzten 30 Jahren getragen hat, in dieser Krise an seine Grenzen gestoßen, weil sich die Verschuldung nicht endlos steigern läßt. Irgendwann ist die Grenze da, wo eindeutig die Zahlungsfähigkeit in Frage steht. Da schwirren ja Zahlen durch die Landschaft, die man sich kaum noch vorstellen kann, also wie viele Zig-Billionen dort an faulen Krediten produziert, verpackt und weiterverkauft wurden – all dies ist auch die Folge der Hyperverschuldung vor allem der amerikanischen Privathaushalte. Und mit diesen faulen Kreditpapieren, die jetzt in riesigem Umfang abgeschrieben werden müssen, ist auch die exportorientierte Strategie in Deutschland gescheitert. Und nun soll in der Bundesrepublik eine Mehrheit der Menschen die Rechnung für eine Party zahlen, zu der sie nicht mal eingeladen waren. Denn das exportorientierte Modell Bundesrepublik war eben kein Modell, das für die Beschäftigten, für die Rentner oder gar für die Arbeitslosen Vorteile gebracht hat. Profitiert von diesem Modell, das zeigen die volkswirtschaftlichen Daten, haben vor allem die oberen Zehntausend, profitiert haben die Manager mit ihren Millionenboni und aufgeblasenen Gehältern – das ist ja inzwischen auch in der öffentlichen Debatte.

Was allerdings interessant ist bei aller berechtigten Aufregung über diese Boni und auch darüber, daß sie immer noch gezahlt werden: Über die riesigen Summen, die in Form von Dividenden an Großaktionäre und Kapitaleigner ausgeschüttet werden, regt sich kaum jemand auf. Dabei ist das, denke ich, der eigentliche Skandal. Gerade jetzt in der Wirtschaftskrise, wo bereits Tausende Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben und wo sehr, sehr viele Menschen in Kurzarbeit gezwungen werden und akute Einkommenseinbußen haben, schüttet die deutsche Industrie, schütten die deutschen DAX-Konzerne riesige Dividenden aus, nämlich insgesamt 22 Milliarden Euro. Das ist mehr als bis zum Jahr 2005 in Deutschland jährlich an Dividenden ausgeschüttet wurde. Lediglich in den letzten Jahren des Hyperaufschwungs zahlten sie noch höhere Dividenden, aber auch jetzt mitten in der Wirtschaftskrise haben sie offensichtlich immer noch 22 Milliarden in ihren Kassen. Bei einigen Instituten kann man sogar sehr deutlich nachvollziehen, wo das Geld herkommt. Auch die Deutsche Bank hat ja in diesem Jahr wieder Dividende ausgeschüttet, und in dem Fall ist es völlig eindeutig: Das ist eine Dividende, die der internationale Steuerzahler zahlt. Das ist eine Dividende, die zum Beispiel dadurch gezahlt werden kann, daß allein die USA an die Deutsche Bank 12 Milliarden überwiesen hat. Hierbei handelt es sich um Verpflichtungen des Versicherungskonzerns AIG, die der amerikanische Staat quasi übernommen hat. Aber auch der deutsche Staat handelt nicht anders. So hat die Deutsche Bank zum Beispiel von der Rettungsaktion für die IKB profitiert, bei der auch Milliarden an Steuergeldern geflossen sind. Und die Deutsche Bank profitiert natürlich von der zigmilliarden-schweren Rettungsaktion für die Hypo Real Estate, weil alle diese Rettungsaktionen die Verpflichtungen solcher Banken gegenüber anderen Banken decken. Das heißt, Steuergeld wird hier ganz direkt genutzt, nicht nur, um Boni auszuschütten, sondern diese Boni sind in der Dimension fast klein im Vergleich zu diesen riesigen Dividenden, die an Aktionäre und Kapitaleigner fließen.

Gerade in dieser Situation ist es um so wichtiger, daß die Linke eben nicht mit weichgewaschener Beliebigkeit, sondern mit klaren anti-neoliberalen und antikapitalistischen Positionen in die kommenden Wahlkämpfe geht.

Gegen die kapitalistische Anarchie

Dies ist wichtig, weil die Krise selbst diese Systemfragen aufwirft. Wir kriegen ja auch die Argumente fast schon auf dem silbernen Tablett serviert. Über die Fehler des Kapitalismus zu reden, das ist nicht länger etwas Abstraktes, sondern das ist Alltagserleben – und zwar inzwischen Alltagserleben für ganz viele Menschen. Ich denke, in dem Anti-Krisenprogramm, das der Parteivorstand auf seiner März-Sitzung beschlossen hat, ist es auch gut gelungen, antikapitalistische Positionierung zu tagespolitischen Forderungen zu konkretisieren. Ich selbst habe das in vielen Veranstaltungen erlebt: Diese Art, wie klare Systemkritik formuliert und mit sehr konkreten Forderungen verbunden wird, ist auch für Menschen vermittelbar, die sich bisher nicht mit Marx oder mit Systemkritik in prinzipieller Weise auseinandergesetzt haben. Das ist ein Zugang, um zum Nachdenken anzuregen, was diese Krise eigentlich mit Eigentumsfragen zu tun hat. Denn wer die Krise bekämpfen will, der muß letztlich auch wirtschaftliche Eigentumsverhältnisse verändern. Und ein erster Schritt dazu ist die Forderung: Steuergeld für strauchelnde Unternehmen darf nicht Zocker freikaufen, sondern solches Steuergeld muß öffentliche Eigentumsrechte begründen. Diese Eigentumsrechte müssen dann natürlich auch genutzt werden, um tatsächlich die Prioritäten des Wirtschaftens zu ändern: Weg von der Profitorientierung und hin zu einer Wirtschaft, die tatsächlich das Allgemeinwohl und die Interessen der Beschäftigten in den Mittelpunkt stellt.

Wer die Krise und ihre Ursachen bekämpfen will, der muß die Politik der Entstaatlichung, Liberalisierung, Deregulierung, der bedingungslosen Wettbewerbsorientierung sofort stoppen und schließlich rückgängig machen. Das heißt, Schlüsselbereiche der Wirtschaft und die Daseinsvorsorge gehören in öffentliche Hand und es müssen eine Million zusätzliche öffentliche Arbeitsplätze geschaffen werden mit Schwerpunkten bei Bildung, Gesundheit und Pflege. Alleine der Pflegenotstand, allein die Situation in den Krankenhäusern, allein die Situation in Schulen und Universitäten zeigen ja, wie diese ganze Kürzungspolitik über Jahrzehnte eben auch das Angebot völlig ruiniert und ausgedünnt hat. Das heißt, es geht nicht nur darum, Arbeitsplätze zu schaffen, um irgendwelche Beschäftigung einfach nur zu schaffen, sondern es geht darum, einen existentiellen Bedarf zu decken, wobei gleichzeitig natürlich mit öffentlicher Beschäftigung auch ganz klar die Krise bekämpft wird.

Selbstverständlich sind solche Projekte finanzierbar. Eine konkrete Forderung der Linken ist ja die Millionärssteuer, das heißt die Besteuerung von Menschen, die über mindestens 1 Million € an Vermögen verfügen. Und das Interessante ist, deren gibt es in diesem Land eine ganze Menge. Und wenn man sich deren Vermögensentwicklung anguckt, dann ist einem auch ziemlich klar, wer von der Entwicklung der letzten Jahre profitiert hat. Die Einkommen und Vermögen der Superreichen haben sich in den letzten zehn Jahren teilweise verdoppelt oder sogar mehr als verdoppelt. Auch auf den heutigen Finanzmärkten gilt ja in vieler Hinsicht immer noch der uralte Spruch: Geld verschwindet nicht, es wechselt immer nur den Besitzer. Und das, was bei den einen die "Löcher" sind und die riesigen Verluste und das, was irgendwelche Bad Banks auffangen sollen, das sind bei den anderen die großen Vermögen, und diese anderen müssen zur Kasse gebeten werden.

Wer die Ursachen der Krise bekämpfen will, der muß außerdem den Finanzsektor grundlegend reorganisieren. Dabei sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, daß private Banken, die selbst nach den Kennzahlen der Bundesbank bankrott sind, ohne jede Entschädigung der Aktionäre zu verstaatlichen sind. Insofern ist es völlig absurd, daß den Aktionären der Hypo Real Estate überhaupt noch Angebote gemacht werden – für ein Institut, das ganz offensichtlich nur noch rote Zahlen schreibt. Aber noch wichtiger als eine rasche Verstaatlichung ist es, das Geschäftsmodell dieser Banken grundsätzlich zu verändern. Es hat sich ja klar gezeigt, daß ein Finanzsystem, das ausschließlich auf Rendite orientiert, letztlich noch nicht mal mehr seine elementarsten Aufgaben erfüllt, nämlich die Wirtschaft mit Kredit zu versorgen. Das heißt, dieser uralte Anspruch der Neoliberalen, daß Profitorientierung durch den Egoismus der Einzelnen am Ende doch das beste Ergebnis für alle bringt, ist durch die Krise eindeutig widerlegt worden. Die Profitorientierung des Finanzsystems hat genau das Gegenteil gebracht: riesige Verluste und Zerstörung von volkswirtschaftlichem Reichtum.

Ich finde, dies sollte man ihnen offensiver entgegnen, weil sie so gerne mit dem Argument kommen, daß der Kapitalismus so produktiv sei. Daß Kapitalismus nicht sozial ist, hat sich ja inzwischen herumgesprochen. Aber daß der Kapitalismus produktiv ist und dadurch sehr viel Reichtum produziert, ist in den meisten Köpfen immer noch drin. Dabei hat die Krise dies eindeutig widerlegt: Der Kapitalismus ist nicht produktiv, er zerstört Reichtum, er zerstört Wohlstand, er zerstört produktive Kapazitäten, wenn man ihm freien Raum läßt. Der Kapitalismus ist – um mal dieses Schlagwort der Neoliberalen und Konservativen aufzugreifen – wirtschaftsfeindlich. Nicht die Linken, sondern der Kapitalismus ist wirtschaftsfeindlich.

Eine starke Linke!

Wer die Krise bekämpfen will, der muß eine radikale Umverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten einleiten. Dazu gehört selbstverständlich die Abschaffung des Sozialverbrechens Hartz IV, das auf der einen Seite für viele Menschen Armut per Gesetz bedeutet, auf der anderen Seite aber auch ein Motor des ganzen unverschämten Lohndumpings der letzten Jahre war. Dieses Sozialverbrechen muß weg. Das Gleiche gilt für die von Rot-Grün eingeführte Liberalisierung der Leiharbeit. Auch hier hat die Krise offensichtlich gemacht, wie verlogen es war, den Leuten zu erzählen, Leiharbeit sei der Einstieg in den Arbeitsmarkt. Inzwischen traut sich auch die SPD nicht mehr zu erzählen, daß es irgendein Einstieg ist. Leiharbeit war ganz offensichtlich der Schleudersitz, der die Betroffenen bei der ersten Abschwächung des Wirtschaftsgeschehens ins soziale Nichts katapultiert hat. Diese Liberalisierung gehört zurückgenommenen, und das gleiche gilt für die gesamte Agenda 2010. Diese Agenda ist die Politik der Arbeitgeberverbände und Konzernvorstände, und genau diese Politik hat die Grundlagen der gegenwärtigen Krise gelegt. Ich finde es wirklich verblüffend, mit welcher Kühnheit auf die Blödheit der Leute spekuliert wird, wenn man sich zum Beispiel das aktuelle Wahlprogramm der SPD anschaut: Diese Partei zieht mit den gleichen Leuten an der Spitze in den Wahlkampf, die genau diese Agendapolitik, die Hartz IV gemacht haben, die die Rente mit 67 gemacht haben, die den Spitzensteuersatz, der bei Kohl immerhin noch bei 53% war, runtergeschleust haben. Mit dem gleichen Personal ziehen sie in den Wahlkampf und präsentieren ein Wahlprogramm, bei dem man den Eindruck bekommt, als hätten sie zentrale Forderungen einfach von der Linken abgeschrieben. Und jetzt wollen sie den Leuten weismachen, daß ein Müntefering und ein Steinmeier für diese Forderungen agieren, das ist doch völlig absurd. Diese Leute haben nicht einmal die Absicht, auch nur eine dieser Forderungen nach den Wahlen zu realisieren. Und deswegen heißt es natürlich auch für die Linke: Eine Partei, die mit solchem Personal agiert und in die Wahlkämpfe zieht – zu so einer Partei können wir nur in prinzipieller Opposition stehen. Das muß auch so bleiben, völlig unabhängig davon, was sie in ihre Wahlprogramme aus Überlebensinteresse hineinschreiben. Natürlich möchte die SPD gern aus dem Tief von 23 oder 25 Prozent wieder rauskommen. Das ist ja auch verständlich. Aber durch Lügen und Heuchelei, hoffen wir mal, wird ihnen das nicht gelingen.

Interessant ist – und auch dies muß ein zentrales Thema der Wahlkämpfe werden – daß sich die herrschende Politik darüber ausschweigt, wer diese milliardenschweren Rettungsaktionen am Ende bezahlen soll. Diese 480 Milliarden, die für die Bankenrettung verplant sind, tauchen ja in keinem Bundeshaushalt auf und sind bisher überhaupt nicht gegenfinanziert. Das begründen sie zum Teil damit, daß es sich ja nur um Bürgschaften handeln würde, die womöglich gar nicht fällig werden. Wobei, glaube ich, jeder sozusagen im Alltagsleben immer ganz gut lernt: Bürge nie für einen anderen, es sei denn, Du hast tiefes Vertrauen zu ihm. Eine Bürgschaft ist ja gerade deshalb notwendig und wird deshalb nachgefragt, weil sie im Notfall eingelöst werden kann – und dann fließt das Geld.

Es ist völlig klar: Wenn die herrschenden Parteien aus dieser Bundestagswahl einigermaßen unbeschadet herauskommen, dann bekommen wir eine noch viel brutalere Agenda 2020, mit der sie dann die Rettungsprogramme für die Banken gegenfinanzieren. Dann droht eine neue Runde brutaler sozialer Einschnitte, bei der sie an allem die Axt ansetzen werden, das ihre Streichorgien bis jetzt noch überlebt hat. Dafür haben sie ja die Schuldenbremse beschlossen, daß sie irgendwann sagen können: Jetzt können wir uns nicht weiter verschulden, jetzt müssen wir hier und dort die Ausgaben streichen. Aber das diskutieren sie natürlich vor den Wahlen nicht. Aber die Konzepte, wer für die Krise bezahlen soll, liegen mit Sicherheit längst in der Schublade. Gerade deswegen ist es so wichtig, daß die Linke gestärkt aus diesen Wahlen hervorgeht. Das ist das einzige, was ihnen dann möglicherweise doch Angst macht und von solchen Plänen entweder abhalten oder zumindest die Durchsetzung erschweren kann. Dies kann aber nur gelingen, wenn eine entsprechende linke Kraft da ist, der es gelingt, eine starke Gegenbewegung ins Leben zu rufen; eine soziale Protestbewegung bis hin zu sozialen Streikbewegungen, die wir ja auch in anderen Ländern erleben. Frankreich führt ja inzwischen vor, was man machen kann, wenn einem die ganzen Lasten der Krise aufgehalst werden sollen. Das brauchen wir in Deutschland auch, und dafür brauchen wir eine starke Linke, und wir brauchen sie eben auch im Bundestag. Unsere Stärke wird mit darüber entscheiden, welche Konzepte nach der Wahl aus der Schublade gezogen werden – oder in der Schublade drin bleiben.

Nun wird ja derzeit viel darüber diskutiert, daß die Linke trotz Wirtschafts- und Finanzkrise in ihren Umfragen stagniert. Nun ist dazu, denke ich, verschiedenes zu sagen. Das eine ist: Wir stagnieren natürlich auf hohem Niveau. Diese 10 oder 11% bundesweit, die wir in allen Umfragen haben, sind doch etwas, wovon die Linke über lange Jahre nur träumen konnte. Wir hatten doch in diesem Land – also in der Bundesrepublik sowieso nie und auch nach der Vereinigung nie – eine Linke, die 10% bundesweit erreicht hat. Das ist ein gutes Ergebnis und da sollten wir uns auch nicht einreden lassen, die Linke befände sich in einem gewaltigen Abwärtstrend.

Daß unsere Umfrageergebnisse zur Zeit stagnieren, hat mit vielen Dingen zu tun, in Deutschland etwa mit verbreitetem Antikommunismus. Hinzu kommt, daß die erste Reaktion auf eine krisenbedingte Verunsicherung oft eher konservativ ist und nicht unbedingt aufbegehrend, widerständig oder eben gar links. Das ist eine Situation, die man erst einmal so hinnehmen muß, auch wenn man sich damit nicht abfinden sollte. Dazu kommt ein zweiter Punkt: Indem die Regierung mit der Art, wie sie argumentiert ("Verstaatlichung, staatliche Eingriffe, staatliche Gestaltung") einen Teil der Terminologie besetzt, die eigentlich der Linken zugeordnet wird, gelingt es ihr natürlich auch in gewissem Umfang, weitere Stimmenverluste zu verhindern oder gar Leute für sich zu gewinnen, die den Marktradikalismus ablehnen. Und noch schlimmer ist, daß sie diese eher linke Terminologie besetzt, damit aber eine Politik macht, für die am Ende die einfachen Leute und die Steuerzahler bluten müssen. Wenn man jetzt nicht sehr politisiert, heißt es dann später: Aha, staatliche Gestaltung bedeutet am Ende nur, daß die Zocker freigekauft werden. Das ist auch einer der Gründe für den Höhenflug der FDP, weil natürlich nicht wenige Wähler sagen: Dann haben wir doch lieber den freien Markt, der zwar auch ganz schlimme Folgen haben kann, aber hin und wieder auch den Richtigen trifft. Denn wenn sie das alles laufen lassen würden, würde ja auch der eine oder andere der sehr Vermögenden auf der Strecke bleiben. Es ist daher eine wichtige Aufgabe der Linken, ganz klar zu machen, daß das, was wir wollen an öffentlichem Eigentum, an staatlicher Aktion, an Verstaatlichung, an Vergesellschaftung sich ganz klar von dem unterscheidet, was die Regierung derzeit macht.

Ein weiterer Grund für stagnierende Umfragewerte, der immer wieder angeführt wird, lautet: Die Krise kommt bei vielen noch nicht an. An diesem Argument ist etwas dran, wobei es mir eher umgekehrt zu sein scheint: Die Krise war für viele schon da, als sie sich noch gar nicht in den Wirtschaftsdaten niederschlug. Schon als wir nach den Statistiken noch einen Aufschwung hatten, sind die Löhne gesunken, sind die Renten gesunken, ist Hartz IV durch Preissteigerung weggeschmolzen. Das heißt: Für viele Menschen war bereits Krise als offiziell noch Aufschwung war. Dagegen hat sich mit dem Beginn der wirklichen Krise für viele Menschen erst einmal nicht viel geändert. Es ist sogar so, daß dadurch, daß die Preise zur Zeit relativ wenig steigen, sich die Situation von Hartz-IV-Empfängern oder Rentnern erst einmal stabilisiert hat. Zwar sind die Leistungen nicht gestiegen, aber die Preise steigen nicht mehr so stark wie es vor einem Jahr oder vor zwei Jahren der Fall war. Eben, weil die Lebenssituation für viele Menschen schon länger miserabel ist, ist die jetzige Krise für viele aktuell kein Grund, zur Linken zu gehen und das ist sicherlich auch ein Grund, warum wir derzeit als Linke nicht zulegen.

Nun behauptet so mancher, daß ein Grund für stagnierende Umfragewerte darin läge, daß die Linke zu radikale oder zu antikapitalistische Forderungen stellen würde. Das ist eine völlig absurde Behauptung, die völlig aus dem Nichts hergeholt ist. Das Gegenteil trifft zu: Die Linke ist heute deutlich antikapitalistischer als es beispielsweise die PDS in den letzten Jahren ihrer Existenz gewesen ist, und gerade deswegen haben wir heute deutlich bessere Ergebnisse und einen ganz anderen Rückhalt. Eine Partei, die sich dem Neoliberalismus anpaßt, wäre die völlig falsche Antwort auf die gegenwärtige Situation und garantiert keine Strategie, irgendwo mehr Rückhalt zu erhalten. Zumal vieles dafür spricht, daß sich die Krise noch in diesem Jahr dramatisch verschärfen und den Alltag von Menschen dramatisch verändern wird. Für die Bundesrepublik ist 2009 ein wirtschaftlicher Einbruch um mindestens 7% vorhergesagt. So etwas hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben. Und auch wenn wir uns internationale Daten angucken, wie der Welthandel eingebrochen ist, wie gerade die Industrieaufträge einbrechen, da haben wir Größenordnungen von minus 30%! Das sind schon Werte, die mit jenen der Weltwirtschaftskrise von 1930 vergleichbar sind. Und spätestens 2010 erwarten die meisten Wirtschaftsinstitute in Deutschland über 5 Millionen Arbeitslose.

Es gibt auch nichts, was auf eine baldige Erholung hindeutet. Weltwirtschaftlich gibt es nichts, weil dieses Finanzblasenreanimierungsprogramm, das die USA betreibt, zwar vielleicht dazu führt, daß wieder die eine oder andere Aktie steigt und vielleicht auch wieder Gewinne ausgeschüttet werden. Dies wird an der realen Nachfragesituation aber nichts ändern, weil es ihnen höchstwahrscheinlich nicht gelingen wird, noch einmal eine derartige Verschuldungswelle in Gang zu setzen. Und nur wenn ihnen dies gelänge, könnten sie Nachfrage generieren und die reale Wirtschaft ankurbeln. Binnenwirtschaftlich gibt es ebenfalls kaum Anzeichen dafür, daß sich die Situation stabilisiert – bei der Politik, die die Bundesregierung macht, schon gar nicht. Wir haben in Deutschland ein völlig falsch gestricktes und viel zu kleines Konjunkturpaket, das ja sogar Wirtschafts-Nobelpreisträger wie Paul Krugmann und andere vernichtend kritisiert haben. Um zu zeigen, daß es nichts taugt, reicht schon eine Größenordnung: So sieht dieses Konjunkturpaket gerade mal 9 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Investitionen pro Jahr vor – obwohl Deutschland, wenn es alleine nur den Durchschnitt der EU an öffentlichen Investitionen erreichen wollte, 25 Milliarden in jedem Jahr mehr investieren müßte. Das heißt, dieses "Investitionsprogramm" ist so minimal, das kann die Wirtschaft gar nicht ankurbeln. Hinzu kommt, daß man nicht bereit ist, zusätzliche öffentliche Arbeitsplätze zu schaffen. Man streicht zwar die Schulen bunt, aber es wird kein einziger Lehrer eingestellt. Auch die Krankenhäuser kriegen eine nettere Fassade, aber drinnen bleibt der Pflegenotstand. Insofern ist es völlig absurd zu glauben, daß durch dieses Programm die Situation auf dem Arbeitsmarkt oder die konjunkturelle Situation verbessert werden könnte. Was den steuerlichen Teil dieses Programms angeht, ist er ja sogar eine brutale Fortsetzung der alten Umverteilungspolitik. So hat das Finanzministerium selber bestätigt, daß die Bezieher von Einkommen bis zu 10.000 € durch das Konjunkturprogramm um insgesamt 150 Millionen € entlastet werden – währenddessen die Entlastung für diejenigen mit über 53.000 € Jahreseinkommen bei dem Zehnfachen liegt, nämlich bei 1,4 Milliarden €. Das kann natürlich auch konjunkturell nur nach hinten losgehen.

Erfordernisse und Chancen

Zu erwarten ist also, daß sich Wirtschafts- und Finanzkrise gegenseitig verstärken und die Ökonomie in eine Abwärtsspirale hineintreiben. Dies bedeutet nicht, daß sich die Menschen in dieser Situation automatisch nach links orientieren. Wir alle wissen um die erschreckende Erfahrung der letzten Weltwirtschaftskrise, die ja in Deutschland bekanntlich das genaue Gegenteil bewirkt hat. Aber es besteht durchaus die Chance, den wachsenden Unmut in eine widerständige, soziale und tendenziell antikapitalistische Richtung zu wenden und damit gleichzeitig zu verhindern, daß diese Krise den braunen Sumpf wieder so richtig nach oben bringt. Aber das ist eine Frage des Agierens der linken Bewegungen. Das heißt aber auch, es ist eine verdammte Verantwortung, gerade in dieser Situation seine Glaubwürdigkeit nicht zu verspielen, seinen Rückhalt nicht zu verspielen, die Menschen für sozialistische Konzepte auch zu gewinnen.

Wir werden die Menschen aber nicht dadurch erreichen, daß wir unsere Positionen weichwaschen. Das ist das alte Problem von Original und Kopie. Die SPD hat ja auch keinen CDU-Wähler dadurch gewonnen, daß sie die CDU an Kapitalhörigkeit übertroffen hat. Diejenigen, die den Hartz-IV-Parteien trotz des ganzen Desasters immer noch vertrauen, die werden sie auch weiterhin wählen. Aber es gibt inzwischen eine wachsende Zahl von Menschen in diesem Land, die ganz klar spüren, daß die etablierten Parteien ihre Interessen nicht vertreten. Diese Menschen haben inzwischen das Gefühl: Egal, welche von denen ich da wähle, die unterscheiden sich sowieso nicht. Welche Farbenspiele die jetzt miteinander auskungeln, ob das schwarz-gelb, rot-grün oder weiß ich was ist: Das geht alles gegen meine Interessen. Und diese Menschen kann die Linke erreichen, und um die muß die Linke kämpfen. Aber dies wird ihr nur gelingen, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt: Sie muß erstens Forderungen aufstellen, die diese Menschen tatsächlich nachvollziehen können. Und das zweite ist: Sie muß glaubwürdig vermitteln, daß die Linke wirklich für diese Forderungen kämpft und sie nicht nur ins Wahlprogramm schreibt, so wie die SPD. Und das ist eine sehr schwierige Aufgabe weil die Menschen einfach zu oft erlebt haben, daß Parteien ihnen vor Wahlen das Blaue vom Himmel versprechen und sich danach einen Dreck darum scheren, ob solche Forderungen realisiert werden oder nicht.

Im Unterschied zu allen anderen parlamentarischen Parteien sollte die Linke in der herrschenden Auseinandersetzung auch die Partei sein, die offen die Systemfrage aufwirft. Den Kapitalismus in Frage zu stellen, ist ein Gebot des Realismus und der Glaubwürdigkeit. Denn es ist einfach nicht realistisch, den Leuten zu erzählen, daß man mit ein bißchen mehr Regulierung die Krise überwinden und soziale Verhältnisse schaffen könnte. Das merken die Leute irgendwann auch, daß das nicht stimmt. Systemkritik ist also auch eine Frage von Glaubwürdigkeit, ist auch notwendig, um begründen zu können, warum bestimmte Forderungen machbar sind und unter welchen Bedingungen. Das ist auch etwas, was durch die Krise ins Alltagsbewußtsein eindringt. Daß zum Beispiel ohne Eingriffe ins kapitalistische Eigentum diese ganz irrsinnige Renditefixierung nicht überwindbar ist, ist etwas, was mehr und mehr Menschen erleben. Genau deswegen kämpfen ja zum Beispiel VW-Arbeiter darum, daß das VW-Gesetz erhalten bleibt, weil sie genau wissen, daß es besser ist, auch den Staat auf der Arbeitgeberbank zu haben als alleine Porsche. Denn wenn Porsche da alleine sitzt, zieht der eben seine Renditefixierung durch. Auch für Opel-Beschäftigte ist Verstaatlichung inzwischen eine Hoffnung. Natürlich ist öffentliches Eigentum durch den Mißbrauch, der damit betrieben wurde, nicht ungebrochen populär. Dennoch ist das Ansehen von öffentlichem Eigentum durch den ungleich gemeingefährlicheren Gebrauch von kapitalistischem Eigentum in den letzten Jahren klar gestiegen. Was die Daseinsvorsorge angeht, so gibt es inzwischen breite Mehrheiten, die fordern, daß Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Wohnen oder Energie in öffentliche Hand gehören. Auch die Forderung nach Verstaatlichung des Bankensystems ist inzwischen eine Forderung, die von sehr großen Teilen der Bevölkerung geteilt wird. Daß Steuergeld nur gegen öffentliche Eigentumsrechte fließen sollte, ist ebenfalls eine Position, die sehr viele Menschen nachvollziehen können.

Natürlich sollte die Linke nicht nur Forderungen stellen, die sowieso schon alle teilen. Als Linke haben wir auch die verdammte Pflicht, Menschen von unseren Positionen zu überzeugen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Gerade in der aktuellen Situation ist es unsere Aufgabe, öffentliches Eigentum zu verteidigen und die Chancen, die es eröffnet, immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Und über das Eigentum reden heißt, über das System zu reden. Natürlich wäre mit der Vergesellschaftung von RWE und EON noch nicht der Kapitalismus überwunden, auch noch nicht mit der Verstaatlichung von Commerzbank und Deutscher Bank. Aber es sind immerhin erste Schritte in ein anderes Wirtschaftssystem. Und insofern drängt sich die Eigentums- und Systemfrage geradezu auf. Und wenn man sie dann nicht aufgreift, dann ist natürlich der Verdacht naheliegend, daß das kein Zufall ist.

Programme und Erkennbarkeit

Das ist auch ein Problem, das wir jetzt mit diesem Wahlprogramm haben. Ich finde den Programmentwurf, den wir jetzt vorliegen haben, nicht akzeptabel. Die Linke kann unmöglich mit diesem Wahlprogramm in die Wahlkämpfe gehen, denn es erfüllt überhaupt nicht die Aufgaben, die wir in der aktuellen Situation haben. Ich möchte daher kurz erzählen, wie dieser Programmentwurf zustande kam, denn das erschließt sich ja nicht so unmittelbar. Bei dem Europawahlprogramm war es ja so: Es hat einen ersten Entwurf gegeben, der ist im Vorstand durchgefallen. Daraufhin wurde im Vorstand eine Redaktionsgruppe gebildet mit Vorstandsmitgliedern, die haben den Entwurf überarbeitet, dann hat der Parteivorstand das abgesegnet, und dann wurde es in die Partei zur Debatte gegeben. Das ist eigentlich ein normaler Vorgang, würde man denken, daß ein wichtiges Papier vom Parteivorstand beraten und beschlossen wird, bevor es zur Debatte in die Partei geht.

Das ist aber in diesem Fall ein großer Irrtum. Der Vorstand hat den Entwurf des Bundestagswahlprogramms zwar beraten, aber eben sehr bewußt nicht beschlossen. So hat es bei der Parteivorstandssitzung Ende März, als der erste Entwurf des Wahlprogramms beraten wurde, sehr fundamentale Kritik gegeben. Man könnte sagen, der Entwurf ist auf dieser Sitzung durchgefallen. Es ist aber nicht so gewesen, daß daraufhin eine Redaktionsgruppe aus dem Vorstand eingerichtet wurde. Dies ist leider mit knapper Mehrheit abgelehnt worden. Statt dessen wurde beschlossen, daß sich Parteivorstandmitglieder an dieser Redaktionsgruppe noch nicht einmal beteiligen dürfen.

Damit ist klar: Sie wollten das, was sie beim Europaprogramm erlebt haben, nicht noch einmal erleben. Deswegen war also die Position: Parteivorstand raushalten. Wir durften zwar Anträge an die Redaktionsgruppe stellen und das haben wir auch fleißig gemacht. Aber die Redaktionsgruppe war völlig frei darin, ob sie diese Anträge berücksichtigt oder nicht. Und so habe ich den Programmentwurf erst dann gesehen, als er an alle verschickt wurde. Hinzu kam, daß diese Redaktionsgruppe die Beschlußlagen des Parteivorstands für sich in keiner Weise als bindend ansah. Wir hatten ja in der gleichen Vorstandssitzung im März auch das Antikrisenprogramm beschlossen. Nun könnte man ja denken, daß die Forderungen des Antikrisenprogramms auch in das Programm für die Bundestagswahl aufgenommen werden, weil dies nun mal Beschlußlage ist. Ist es aber nicht! Ganz prägnant war der Unterschied zum Beispiel bei der Frage Hartz IV und Mindestlohn. Der Vorstand hat auf der Sitzung klar beschlossen, beim Hartz IV-Regelsatz ist unsere Forderung 500 €, beim Mindeststundenlohn 10 €. Im Bundestagswahlprogramm stehen aber wieder 435 € und 8 € drin. Das hat man inzwischen korrigiert, weil es offensichtlich doch viele gab, die das peinlich fanden. Doch dieser "Fehler" bei den Zahlen ist signifikant für das gesamte Programm – und das macht den Umgang mit ihm so schwierig.

Der Programmentwurf hat ja insgesamt 58 Seiten, einzeilig bedruckt. Es stellt sich also die Frage, wer dieses Programm überhaupt lesen wird. Ich glaube, die Autoren haben gehofft, wenn sie die Leute durch Länge erschlagen, dann wird sich schon keiner durchfinden und dann macht auch keiner Anträge. Es ist auch in anderer Hinsicht ein schlechtes Zeichen, denn wenn man konkrete Forderungen formulieren will, braucht man nicht so viel Platz. Das Antikrisenprogramm Detailhat vier Seiten. Da werden die wirtschaftspolitischen Forderungen der Linken zusammengefaßt. Wenn man sagen würde, natürlich muß Außenpolitik dazu, muß Innenpolitik und Europapolitik dazu, dann hätte man ein Volumen von vielleicht 10 Seiten gehabt. Mit verständlichen Forderungen, wo man klar gesagt hätte: So, das und das will Die Linke – und wer das liest, wüßte auch, was die Linke will. Wer dieses Wahlprogramm gelesen hat – und das ist das Schlimmste daran – der weiß nicht, was die Linke will, sondern, er hat ein diffuses Gefühl, da drückt sich eine Partei um Positionen.

Es steht zwar alles irgendwo auch drin, aber es steht dann zwei Seiten später das Gegenteil. Und wenn eine Partei so formuliert, kann man nur den Eindruck bekommen: Da will sich jemand alle Türen offen halten. Besonders prägnant ist das zum Beispiel bei dem Kapitel über Außenpolitik. Hier gab es den Antrag aus dem Parteivorstand, in das Programm den Satz aufzunehmen: Die Linke lehnt alle Kriegseinsätze der Bundeswehr auch mit UN-Mandat ab. Das hat man tatsächlich aufgenommen. Der Satz steht allerdings ungebrochen neben anderen Aussagen, zum Beispiel der Aussage, daß Militärbündnisse wie die NATO sich der UNO strikt unterordnen sollen. Was ja letztlich bedeutet, daß die UNO doch militärisch tätig wird. Denn wozu sollte sich die NATO einem Gremium, das überhaupt nicht militärisch agiert, unterordnen? Es ist auch interessant, daß die Forderung nach Ablehnung sämtlicher Militäreinsätze in der Zusammenfassung dieses Kapitels nicht auftaucht. So haben sie zwar den Antrag an irgendeiner Stelle hineingenommen, um ihrer Pflicht Genüge zu tun. In der Zusammenfassung gibt es eine grundsätzliche Ablehnung sämtlicher Militäreinsätze aber nicht mehr. Statt dessen findet man dort die Position, nur eine machtvolle, demokratisch reformierte UNO kann wirksam die notwendige globale Verantwortung übernehmen. Da kann sich dann jeder alles mögliche drunter vorstellen.

Genauso diffus ist auch der Umgang mit der Forderung nach Auflösung der NATO. Im Europawahlprogramm gibt es klare Positionen. Natürlich sind wir für die Auflösung jeglicher Militärbündnisse und damit auch für die Auflösung der NATO. Das ist ja nun einmal das Bündnis, in dem Deutschland drin ist. Jetzt steht im Programmentwurf zwar auch, daß Die Linke die Auflösung von Militärbündnissen als Ziel der Außenpolitik betreiben sollte. Dies ist aber schon ein bißchen was anderes als die ganz konkrete Forderung, wir wollen die NATO auflösen. Aber es ist sogar noch schlimmer, denn es geht da nämlich weiter: Solange die NATO noch existiert, soll die deutsche Außenpolitik bloß "darauf hinwirken, daß sich die NATO von einem Interventionsbündnis weg entwickelt" – was immer damit gemeint sein soll. Also, irgendwann wollen wir alle Militärbündnisse auflösen, aber solange es die NATO noch gibt, können wir auch in eine Bundesregierung gehen, wir müssen nur gucken, daß sich die NATO von einem Interventionsbündnis "weg entwickelt". Damit sind die Türen wirklich in alle Richtungen offen; das sind ja schon ganze Toreinfahrten für potentielle Militärpolitik. Und so ist dieses ganze Kapitel gestrickt. Daß das zum Beispiel in der Friedensbewegung kein Vertrauen schafft, wenn wir dieses Kapitel so beibehalten, ist völlig klar. Und das ist ruinös. Wenn Die Linke so auftritt, braucht sie sich nicht zu wundern, daß die Leute sich fragen: Was will eigentlich diese Partei? Was wird die machen, wenn sie wirklich mal die Option hat, etwas anderes zu tun als Oppositionspolitik?

Ähnlich diffus sind auch die wirtschaftlichen Passagen in diesem Wahlprogramm. Einerseits werden Privatisierungen abgelehnt. Da gibt es auch gute Formulierungen und es stehen auch wirklich viele sinnvolle Dinge drin, z. B. daß die Daseinsvorsorge in öffentliche Hand gehört. Ein paar Seiten weiter findet man dann allerdings plumpeste Polemik gegen Staatseigentum, selbst bei der Bahn. Ich meine, es ist völlig absurd: Wir sagen, wir wollen die Bahn nicht privatisieren, aber in staatlicher Hand soll sie auch nicht sein. Also, was wollen wir? Wollen wir gar keine Bahn mehr? Das paßt einfach hinten und vorne nicht zusammen.

Kampf für eine andere Politik und wirtschaftliche Ordnung

Es ist auch bezeichnend, daß in diesem Wahlprogramm keine Silbe an Systemkritik zu finden ist, was angesichts dieser Krise wirklich blamabel ist. Der einzige, der radikalste antikapitalistische Satz im ganzen Wahlprogramm ist der: Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden! Der Satz klingt sehr radikal, ist ein Zitat aus dem Ahlener Programm der CDU. Das traut man sich gerade noch so, weil die CDU das auch schon mal so formuliert hat. Ansonsten bewegt sich die Systemkritik – oder man kann es noch nicht einmal so nennen – auf dem Level des lahmen Satzes: Der gegenwärtige Kapitalismus ist sozial ungerecht. Das ist so ein Satz, den hätte man auch 1970 formulieren können. Den kann heute wirklich von Sommer bis Steinmeier jeder unterschreiben. Mit Systemkritik hat dies allerdings nichts mehr zu tun.

Daß das alles kein Versehen ist, wird an einigen Anträgen deutlich, die wir als Vorstandsmitglieder gestellt haben. Zum Beispiel hatte ein Drittel der Vorstandsmitglieder eine alternative Präambel formuliert und als Vorschlag eingereicht. Von dieser alternativen Präambel haben sie kleine Versatzstücke genommen, aber gleichzeitig modifiziert. Diese Modifikationen sind wirklich interessant, weil sie deutlich machen, worauf es ankam: Nämlich die Eigentumsfrage und die Systemfrage auszublenden. Nehmen wir zum Beispiel den Satz, den wir für die Präambel beantragt hatten: "Wer die aktuelle Krise bekämpfen will, muß einerseits über Sofortmaßnahmen die Reorganisation der Ökonomie und Finanzsphäre in Gang setzen und zugleich Schritte einleiten, die das bestehende kapitalistische Wirtschaftsmodell schrittweise überwinden." Im Wahlprogramm wird daraus: "Wer die aktuelle Krise bekämpfen will, muß mit Sofortmaßnahmen das Wirtschaftsleben wieder in Gang setzen und zugleich die bisherigen Regeln des Wirtschaftens ändern." Aber "den Kapitalismus überwinden" und ein paar "Regeln ändern" sind doch offensichtlich zwei unterschiedliche Dinge.

Noch eindeutiger ist es bei dem Schlußsatz unserer Präambel: "Wir kämpfen für eine andere Politik und eine andere wirtschaftliche Ordnung, gerade jetzt!" Aus diesem Schlußsatz hat der Wahlprogrammentwurf gemacht: "Wir werben" – wir kämpfen nicht, wir werben, aber gut – "wir werben für eine andere Politik, für einen Politikwechsel, gerade jetzt." Also aus der anderen wirtschaftlichen Ordnung ist der Politikwechsel geworden. Das ist kein Zufall! Das ist eine ganz klare Strategie. Und genauso lief es auch bei der Eigentumsfrage. Zum Beispiel ist im Antikrisenprogramm und auch in unserer Präambel die Position drin gewesen, daß "jeder Euro Steuergeld, der zu Gunsten eines privaten Unternehmens fließt, zu öffentlichen Eigentumsrechten oder kollektiven Belegschaftsbeteiligungen in gleicher Höhe führen muß". Daraus ist in der Präambel dieses Wahlprogrammentwurfs geworden, daß es "staatliche Hilfen nur im Tausch mit einem Ausbau von Mitentscheidungsrechten" geben dürfe. Also auf der einen Seite öffentliche Eigentumsanteile, auf der anderen Seite "Ausbau von Mitentscheidungsrechten", also das, was Frau Schaeffler jetzt macht. Darf Frau Schaeffler also jetzt staatliches Geld kriegen? Das ist eine derartige Verwässerung, die finde ich schon ziemlich happig.

Das alles kann überhaupt nicht anders verstanden werden als ein Signal an potentielle Koalitionspartner: Seht mal her, wir poltern zwar manchmal ein bißchen, wir haben auch ein paar radikale Forderungen, aber mit unserem tollen Wahlprogramm können wir letztlich alles machen. Und wenn ihr irgendwie doch Lust habt, mit uns eine Koalition zu machen – kein Problem, wir haben hier sozusagen vorgebaut. Nun gibt es immer wieder auch Genossinnen uns Genossen unter uns, die sagen, wir sollten doch nicht immer solche Schreckgespenster aufbauen. Niemand könne doch im Ernst daran glauben, daß die SPD im Herbst mit der Linken koaliert. Warum sollten die denn wegen Koalitionsoptionen, die gar nicht stehen, hier solchen Mist schreiben? Allerdings denke ich, daß man dies schon ein bißchen differenzierter betrachten muß. Denn erstens geht die Legislaturperiode vier Jahre lang und was in diesen vier Jahren passieren wird, ist ziemlich offen. Ich glaube auch nicht, daß im Herbst irgendeine Koalition mit der Linken zustande kommt. Aber es ist alles andere als sicher, daß die Koalition, die diesen Herbst gebildet wird, wirklich diese vier Jahre überlebt. Und dieses Wahlprogramm soll vorbauen für die gesamten vier Jahre und möglicherweise auch für Konstellationen, in denen sich personell oder sonst in der Linken etwas ändert. Und das Zweite ist, wenn man sich ein bißchen mit der Psychologie der Akteure befaßt, die dort dieses Programm schreiben: Das sind ja nicht zufällig sehr ähnliche Leute, die 2002 schon mal Programme geschrieben haben und Wahlkämpfe geleitet haben. Und auch 2002, wo die PDS ganz offen auf eine Koalition mit Schröder gesetzt und sich damit unter die Fünf-Prozent versenkt hat – auch damals war die Wahrscheinlichkeit, daß es im Herbst 2002 eine Koalition mit der PDS hätte geben können, nicht sehr hoch. Aber offensichtlich scheint es für einige das Wichtigste zu sein, die Tür für eine Regierungsbeteiligung nie zuzumachen – egal, ob dadurch unsere Glaubwürdigkeit beschädigt wird und wir Rückhalt verlieren.

Allerdings ist der große Unterschied zu damals, daß wir heute in der Partei andere Mehrheitsverhältnisse haben. Und darin gründet sich auch meine Hoffnung, daß dieses Wahlprogramm nicht so bleiben wird. Aber es wird nur dann nicht so bleiben, wenn wir alle daran mitarbeiten, daß es sich ändert. Wir als Linke sind eine starke Gegenkraft in diesem Lande. Wir haben eine unglaubliche Chance, Widerstand zu organisieren, Gegenbewegung zu initiieren und antikapitalistische Argumentationen in die Öffentlichkeit zu bringen. Aber dafür brauchen wir eine Linke mit klarem antineoliberalen und antikapitalistischen Profil und natürlich mit friedenspolitischen Positionen, die die Türen in Richtung Kriegspolitik auch nicht einen kleinen Spalt breit offen lassen, und schon gar nicht sozusagen diese Toreinfahrt, die da drin ist. Dafür laßt uns alle gemeinsam kämpfen. Danke.Detail