AfD: Ein Programm, offen für faschistoide Kräfte und Entwicklungen
Ellen Brombacher, Berlin
Es ist nicht Sinn der nachfolgenden Darlegungen, eine komplexe Analyse des AfD-Programms vorzunehmen; dazu bin ich gar nicht in der Lage, weil mir zu einer Reihe von Abschnitten die notwendige Sachkenntnis fehlt.
Es geht heute um grundlegende Charakteristika des auf dem AfD-Parteitag vom 30.04. / 01.05.2016 beschlossenen Programms. Dieses knüpft an konservative Forderungen etablierter Parteien an und stimuliert die Etablierten zugleich, »neue«, sich an AfD-Positionen anlehnende Forderungen zu formulieren. Im Programm wird nicht generell auf auch von Linken erhobene Forderungen verzichtet. Zugleich ist die AfD-Programmatik mehr als nur konservativ und nicht einmal in Nuancen links. Es soll ein Andock-Programm für alle mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen Unzufriedenen sein, ohne dass die AfD diese Verhältnisse von der Wurzel her in Frage stellt oder auch nur den Kapitalismus und sein imperialistisches Agieren grundsätzlich kritisiert. Es bleibt bei populistischer Parlamentarismus-Schelte. Es ist ein prokapitalistisches, antisozialistisches und inhumanes, weil durchgängig nationalistisch-rassistisches Programm, offen für faschistoide Kräfte und Entwicklungen.
Für diese Feststellung steht die nachfolgende Formulierung exemplarisch: »Wir glauben nicht an die Verheißungen politischer Ideologien oder an die Heraufkunft eines besseren, eines ›Neuen Menschen‹. Eine Geschichtsphilosophie, die von einer Höherentwicklung der individuellen menschlichen Moral ausgeht, halten wir für anmaßend und gefährlich.« Das ist der Anti-Marx pur. Denn Marx stellte fest, »dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen« ist und benennt den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…«
Naturgemäß gibt es gerade unter Linken unzählige Debatten darüber, wie die AfD einzuschätzen ist. Sind das Nazis? Ist ein Teil der Mitglieder faschistoid, und was ist dann der andere Teil? Und was ist mit den Wählern? Wenn es stimmt, dass es sich bei gut 70 Prozent um Protestwähler handelt, die das Parteiprogramm der AfD gar nicht kennen, sind die dann rechts oder protestieren die einfach nur? Und schreiben wir die Protestwähler ab, oder kämpfen wir um sie? Und wenn wir um sie kämpfen, wie soll das vor sich gehen?
All das sind legitime, nicht unwichtige Fragen. Aber – sie sind nicht entscheidend, wenn es um die Charakterisierung der AfD geht. Mitglieder und Wähler werden häufig betrogen, nicht nur von der AfD. Man kann sie manipulieren und zu Handlungen verführen, die sich gegen ihre eigenen Interessen richten. Man muss lediglich an die realen oder vermeintlichen Nöte der nicht nur von Rechtspopulisten als besorgte Bürger Bezeichneten anknüpfen und Sündenböcke für diese Nöte erfinden, gegen die sich dann so wachgerufene, niedrigste Instinkte der Verführten richten. Mitglieder und Wähler werden von Stimmungen geleitet. Stimmungen sind letztlich keine stabile Größe. Sie können schnell aufgeheizt aber sie können auch im positiven Sinne gekippt werden. Wesentlich stabiler ist die Programmatik einer Partei.
Wer die AfD entlarven will, muss deren Programm entlarven. Wählerschelte hilft da nicht weiter. Und regionales Taktieren der AfD vor Wahlen ist in diesem Kontext auch ohne Belang. Die nachfolgenden Zeilen sollen zur Entlarvung der AfD-Programmatik beitragen, ebenso wie die sich der Analyse anschließenden Auszüge aus deren Programm. Die vorliegenden Überlegungen können und sollen eine abschnittsweise Analyse nicht ersetzen.
Kürzlich schrieb mir ein Freund aus Hessen, dem ich ein paar Gedanken zum AfD-Programm mitgeteilt hatte: »Da kommt etwas auf uns zu! Auf Euch im Osten vielleicht noch mehr als im Westen. … Ich habe den Text jetzt erst einmal nur schnell durchgelesen. Aber das reicht bereits, um mir die Augen zu öffnen. Und: Die AfD-Konjunktur gleichzeitig mit der beschlossenen Erweiterung der Bundeswehr und mit dem Schwenk in Österreich. Bislang hielt ich die AfD für so etwas wie eine Turbo-FDP, scheinbar dazu gar nicht passend auch für eine Seehofer-Verlängerung mit heftiger Anti-Merkel-Orientierung (Stichwort Islam …) – schnell nach oben gebracht und bald wieder aus den Schlagzeilen verschwindend. Das war ein großer Irrtum. Ja, … da sind echte Profis am Werk. Es geht ums Ganze, um eine grundsätzliche Umorientierung; gemeint ist tatsächlich eine ›Alternative für Deutschland‹. Proteste unsererseits, die sich auf ›Rassismus‹ konzentrieren, gehen weitgehend ins Leere und verharmlosen sträflich, auch wenn sie gut gemeint sind … Welche Interessen sind finanziell und organisatorisch beteiligt? Es würde mich nicht wundern, wenn unter den Verdächtigen beispielsweise auch Gruppierungen der Bundeswehr zu finden wären.« Soweit aus dem Brief.
Unlängst las ich, es sei falsch, der AfD Neoliberalismus zu unterstellen. Sie bemühe sich vielmehr, den Eindruck zu erwecken, Sozialpolitik betreiben zu wollen. So sei sie für den Mindestlohn. Hier eine allgemeine Bemerkung: Nicht alles, was im AfD-Programm steht, ist unvernünftig. Nicht jede darin enthaltene Forderung ist abzulehnen. Nicht jede Einschätzung ist falsch. Isoliert betrachtet! Ansonsten gilt abgewandelt: Es gibt keine progressiven Bestandteile in einem in Gänze abzulehnenden Programm. Dennoch herauszuarbeiten, was darin im Einzelnen vernünftig erscheint, ist insofern von Bedeutung, als dass diese scheinbar akzeptablen Programmforderungen ein wesentlicher Grund für die Wirksamkeit der AfD-Programmatik sind. Welcher Wähler wünscht sich nicht, dass die GEZ abgeschafft wird. Da interessiert der Kontext eher nicht.
Das scheinbar Akzeptable ist in doppelter Hinsicht gefährlich: Zum einen ermöglicht es erst die Wirkungen der Gesamtdemagogie des Programms, indem durchaus auch an reale Probleme angeknüpft wird. Und zum anderen verlangen gerade die – isoliert betrachtet – akzeptablen AfD-Überlegungen von der Linken einen äußerst präzisen Umgang mit jenen Forderungen und Kritiken, die formal den Eindruck erwecken, hier gäbe es Berührungspunkte. Genannt seien nur die im AfD-Programm teils sehr zutreffenden Charakteristika der EU, die Ablehnung von TTIP, die Forderungen nach Aufhebung von Sanktionen und einem vernünftigen Verhältnis zu Russland oder die nach dem Abzug der sich auf deutschem Boden befindlichen Atomwaffen. Sollen Linke nun ihre diesbezüglichen Positionen aufgeben, weil die Rechte sich dieser Positionen bedient? Und – stellt man die Linke in die rechte Ecke, wenn es mit denen scheinbare Übereinstimmungen in politischen Fragen gibt? Natürlich wird das versucht, besonders durch bürgerliche Medien. Gnade uns Gott, wenn wir uns diesbezüglich nicht unverwechselbar abgrenzen. Antirassismus ist da unabdingbar, reicht aber bei Weitem nicht aus. Gelingen kann diese Abgrenzung nur, wenn die Linke Grundsatzkritik an der AfD übt, wenn sie entlarvt, in welchem Maße diese Partei, die vorgibt, das System bekämpfen zu wollen, eben dieses kapitalistische System stützt. Auch, wenn der BDI-Chef Grillo das noch nicht so sieht. Denn eins kann man der AfD nun wirklich nicht nachsagen: Dass sie antikapitalistisch sei. Im gesamten Programm findet sich nicht einmal ein Halbsatz, der dies belegen würde. Ganz im Gegenteil.
Ein prokapitalistisches Programm
So heißt es im Abschnitt 10 »Wirtschaft, Digitale Welt und Verbraucherschutz«: »Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle. Denn Wettbewerb schafft die Freiheit, sich zu entfalten und selbst zu bestimmen, privates Eigentum an Gütern und Produktionsmitteln erwerben zu können, eigenverantwortlich Verträge zum eigenen Wohl und zum allgemeinen Vorteil zu schließen, zwischen verschiedenen Anbietern oder Arbeitsplätzen wählen zu können, ertragsbringende Chancen zu nutzen, aber auch ein mögliches Scheitern selbst zu verantworten. … Gegebenenfalls erforderliche staatliche Eingriffe – zum Beispiel um Monopole zu verhindern und Marktversagen entgegenzuwirken – sind auf das notwendige Minimum zu begrenzen und müssen für in- und ausländische Investoren kalkulierbar sein. Dies durchzusetzen ist Aufgabe der Wettbewerbspolitik … Zentrale Prinzipien sind Eigentum, Eigenverantwortlichkeit und freie Preisbildung. Der Schutz des Privateigentums ist dabei genauso unentbehrlich wie offene Märkte, Vertragsfreiheit und ein freier Wettbewerb mit entsprechender Wettbewerbspolitik und Monopolkontrolle. Jede Form von staatlicher Planwirtschaft führt früher oder später zu Fehlallokationen und Korruption. Den Abschnitt abschließend, verspricht die AfD der Wirtschaft: »Und nicht zuletzt legen wir unseren politischen Schwerpunkt auf folgende Standortbedingungen: öffentliche Sicherheit und bessere Infrastruktur. Unser Ziel ist ein schlanker, aber starker Staat.« Ergänzt sei: Der soll dann auch die Vermögens- und Erbschaftssteuer abschaffen und Steuern und Abgaben in Zukunft nicht mehr beliebig erhöhen dürfen. Wer so am ehesten begünstigt wird, steht außer Frage.
Den Abschnitt »Arbeitsmarkt und Sozialpolitik« kann man schlicht vergessen. »Die AfD will die Bundesagentur für Arbeit auflösen und ihre Aufgaben vor allem auf kommunale Jobcenter übertragen. Danach gibt es nur noch einen öffentlichen Dienstleister am Arbeitsmarkt: das kommunale Jobcenter.« Damit wäre der Gesamtstaat für das Arbeitslosenproblem nicht weiter verantwortlich und die häufig hoch verschuldeten Kommunen könnten sehen, wo sie bleiben. Dass die AfD für den Mindestlohn votiert, verbindet sie stehenden Fußes mit einer gehörigen Portion Rassismus. Er, der Mindestlohn, schütze die Niedriglohnempfänger auch vor dem durch die derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck. Wieder frei nach Treitschke – die Straße in Steglitz ist immer noch nach ihm benannt: Die Migranten sind unser Unglück.
Es ist nicht abzulehnen, dass die AfD bei der Rente die Kinderzahl und die Erziehungsleistung stärker als bisher berücksichtigt wissen will. Durch eine spezielle Förderung von Mehrkindfamilien möchte sie dazu ermutigen, sich für mehr Kinder zu entscheiden. Diese an sich vernünftigen Forderungen bleiben unkommentiert. Aber bei dem AfD-Programminhalt ist es ausgeschlossen, dass da auch sogenannte nichtdeutsche Familien gemeint sein könnten. Es muss gar nicht mehr erwähnt werden, dass es sich natürlich um deutsche Mehrkindfamilien handeln sollte. Abschließend in diesem Abschnitt plädiert die AfD dafür, Familienarbeit in der Pflege als Beitrag für das Gemeinwohl gesellschaftlich anzuerkennen. Die individuelle häusliche Pflege soll zu einem Hauptbestandteil der sozialen Sicherungssysteme werden. Ein sehr ambivalenter Vorschlag. Und: Der nachfolgende Halbsatz zur Rente geht beinahe unter, wenngleich er Vorschläge anderer Parteien in den Schatten stellt. Die AfD plädiert für »flexible Modelle einer sich parallel zum Anstieg der Lebenserwartung verlängerten Lebensarbeitszeit«. Summa summarum: Das Programm ist auch hinsichtlich seiner sozialpolitischen Vorschläge schlicht unternehmerfreundlich.
Nur, wer Kritik oder auch nur Pseudokritik am bürgerlichen Parlamentarismus und am bürgerlichen Staat zur Systemkritik umwidmet, kann sich einreden, dieses Programm richte sich gegen die bestehenden gesellschaftlichen, also primär ökonomischen Verhältnisse. Wer sich das nicht einredet, findet leicht das Gegenteil heraus. »Nur ein schlanker Staat kann … ein guter Staat sein«, heißt es im AfD-Programm. Und konkret bedeutet das für die AfD, bezogen auf die Aufgaben des Staates: »Es bedarf neuer Konzentration auf die vier klassischen Gebiete: Innere und äußere Sicherheit, Justiz, Auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung.« Also gehört die Sozialpolitik nicht mehr zu den Kernaufgaben des Staates. Das betrifft auch die Bildungspolitik und andere wichtige Politikbereiche. Und genau das ist neoliberal. Dazu passt, dass der Staat seine repressiven Funktionen ausbauen soll. Zugleich soll die Rolle der parlamentarischen Strukturen zugunsten von Volksentscheiden zurückgedrängt werden, und in puncto Volksabstimmungen verlässt sich die AfD offenkundig auf den sogenannten gesunden Menschenverstand. Wörtlich heißt es bei ihnen: »Als ›Partei des gesunden Menschenverstandes‹ setzen wir auf das politische Urteilsvermögen und die Verantwortungsbereitschaft der mündigen Bürger.« Bei den Nazis hieß das das gesunde Volksempfinden – so weit sind sie noch nicht.
Die Protagonisten der AfD verlassen sich auf die Macht der Manipulation. Eine Silvesternacht in Köln genügte, um die Stimmung im Land zu kippen. Oder besser gesagt, die stimmungserzeugende Medienberichterstattung. Als Abend für Abend jubelnde Menschen gezeigt wurden, die auf dem Münchener Bahnhof Flüchtlinge begrüßten, war mir nicht wohl, weil ich mir sicher war, dass bei passender Gelegenheit der Schalter gekippt würde. Und jeder weiß: Wenn das Pendel sehr weit in die eine Richtung ausschlägt, bewegt es sich dann auch entsprechend in die andere. Weniger wäre mehr gewesen. Aber das war wohl gar nicht gewollt. Die Übertreibungen, die einen wie die anderen, waren und sind Teil des perfiden Spiels. Die Übertreibungen boten den Rechten Steilvorlagen und die entsprechenden Reaktionen der Rechten – von CDU/CSU-Politikern über Pegida bis zur AfD – stimulierten rassistische Übergriffe und die Verschärfungen der Asylgesetzgebung. Diese Verschärfungen sind immense. Sie dienen der Abschottung nach außen und der schnellen Abschiebung von im Land lebenden Flüchtlingen. Die zunehmend restriktive Asylpolitik treibt die Entrechtung der Schutzsuchenden voran und raubt immer mehr Flüchtlingen durch die Deklarierung ihrer Herkunftsländer zu »sicheren Herkunftsstaaten« jede Perspektive auf ein faires Asylverfahren. Auf diesen Sachverhalt hier näher einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Jeder, der interessiert daran ist, kann sich kundig machen. Man kann ein bitteres Fazit ziehen: Hinter dem Rauchvorhang staatlich geheuchelter Menschenliebe – hier sind nicht die tausenden und abertausenden freiwilligen Helfer gemeint, denen ausschließlich Respekt und Dankbarkeit gehört – hinter diesem Rauchvorhang wurde – nach der 1993 erfolgten Änderung des Asylparagraphen im Grundgesetz – die reaktionärste Revision des deutschen Asylrechts vorgenommen. Die Rechten profitierten ohne Ende und die Linke stand ziemlich konzeptionslos da. Sie passte sich der rechten Demagogie nicht an, entlarvte diese allerdings nur oberflächlich. Antirassismus, so dringend geboten er ist, ersetzt keinen Antikapitalismus. Der jedoch ist unumgänglich, wenn der prokapitalistische Charakter der AfD aufgedeckt werden soll. Und niemand – außer Sozialistinnen und Sozialisten sowie Kommunistinnen und Kommunisten – wird das tun.
Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild – das Nonplusultra?
Zurück zum AfD-Programm. Nach einer vor Nationalismus strotzenden Präambel »Wir sind offen gegenüber der Welt, wollen aber Deutsche sein und bleiben« beginnt es unter der Überschrift »Demokratie und Grundwerte« mit der Forderung nach Volksentscheiden. »Die AfD setzt sich dafür ein«, heißt es, »Volksentscheide in Anlehnung an das Schweizer Vorbild auch in Deutschland einzuführen.« Und dann folgt – knapp und beiläufig – die Proklamation des Regierungsanspruchs: »Die Einführung von Volksabstimmungen nach Schweizer Modell ist für die AfD … nicht verhandelbarer Inhalt jeglicher Koalitionsvereinbarungen.« Entgegen anderer Verlautbarungen will man also regieren.
Diesem Abschnitt folgt der über den Euro und Europa. Dazu an anderer Stelle mehr. Schon an dritter Stelle folgt der Abschnitt »Innere Sicherheit und Justiz« und danach der über »Außen- und Sicherheitspolitik«. Zwischen dem ersten und besonders dem dritten Abschnitt gibt es einen nirgendwo direkt nachweisbaren aber dennoch vorhandenen Zusammenhang. Im Kontext mit der »Inneren Sicherheit« wird zweifelsfrei auf einen Zuwachs von staatlicher Repression gesetzt. Es ist die Rede von einem »›sicherheitspolitischen Befreiungsschlag‹, um den Schutz der Bürger an erste Stelle zu setzen.« Andere Belange hätten sich dem unterzuordnen. Gewollt sei ein klarer Systemwechsel hin zu Behörden, »die zum maximalen Schutz der Bürger in der Lage sind: Ausländerbehörden, Polizei und Strafverfolgung.«
Es ist essentiell, dass die Ausländerbehörden hier an erster Stelle stehen. Schauen wir uns die Kernaufgaben dieser Behörden an. Sie sind nicht zuletzt für die Erteilung oder Versagung von Aufenthaltserlaubnissen verantwortlich, gegebenenfalls für die Durchführung von Ausweisungen bzw. Abschiebungen. Daneben entscheidet die Ausländerbehörde über die Ausstellung von Aufenthaltsgestattungen für Asylbewerber und Duldungen für Ausländer. Außerdem wird über das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für einen Familiennachzug entschieden. Ausländerbehörden sind an Visaerteilungen beteiligt.
Man muss nicht jahrelang – wie ich von Berufs wegen – ungezählte Male mit angsterfüllten Klienten stundenlang in der Ausländerbehörde zugebracht haben, um zu verstehen: Wer die Ausländerbehörden in vorrangigen Zusammenhang mit einem geplanten »sicherheitspolitischen Befreiungsschlag« bringt, in einem Parteiprogramm, durch das sich wie ein roter Faden die Kriminalisierung von Ausländern per se zieht, der zielt auf ganz neue »Qualitäten« von Abschiebepolitik. Massenhafte Abschiebungen und Bürgersicherheit für Deutsche werden in einen ursächlichen Zusammenhang gestellt, den es so nicht gibt. Dieses demagogische Prinzip, Kausalzusammenhänge zu erfinden, ist ein wesentliches Charakteristikum des AfD-Programms. Noch ein Beispiel hierfür: »Die Mehrzahl der Täter im Bereich der organisierten Kriminalität«, wird einfach behauptet, »sind Ausländer. Sie auszuweisen, muss vereinfacht werden. Deshalb ist für diesen Personenkreis bei entsprechendem Verdacht die OK-Zugehörigkeit [1] als Ausweisungsgrund einzuführen.« Unglaublich diese Forderung: Bei Verdacht wird ausgewiesen! Es würde zu weit führen, zu diesem Abschnitt weiter in die Einzelheiten zu gehen. Es zielt auf massive Verstärkung von Repression: Die Forderung nach Strafmündigkeit bereits mit zwölf Jahren, die Herabsetzung von Ausweisungsvoraussetzungen und Ähnliches sollen hier nur exemplarisch genannt werden. Wenn es um die wahren Deutschen geht ist man – stattgefundenen Amokläufen zum Trotz – von großer Toleranz. Es heißt: »Ein strengeres Waffenrecht wäre ein weiterer Schritt in die Kriminalisierung unbescholtener Bürger und in den umfassenden Überwachungs- und Bevormundungsstaat.«
Nun könnte sich die Frage erheben: Warum die Forderung nach mehr Repression im Inneren und zugleich nach mehr Demokratie? Die Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild sind, wie bereits erwähnt, ja im AfD-Programm das Nonplusultra. Die Frage müsste eigentlich lauten: Sind diese Volksabstimmungen ein Ausweis von mehr Demokratie? Ich möchte hierzu einen Standpunkt äußern, der auch in meiner Partei nicht unumstritten sein dürfte, denn auch DIE LINKE fordert mehr direkte Demokratie. Ich meine, Volksentscheide können ein Ausdruck von entwickelter bürgerlicher Demokratie sein. In einem Klima nämlich, dass wesentlich von humanistischen Werten bestimmt ist und in dem Rechte bestenfalls eine Randerscheinung darstellen. Davon kann heute kaum noch die Rede sein. Seitenlang ließe sich das belegen. Mit der rapide vor sich gehenden Brutalisierung des Kapitalismus in Europa im letzten Vierteljahrhundert geht die massenhafte Vernichtung humanistischer Wertvorstellungen einher. Und die europäische Rechte ist mittlerweile alles andere, als eine Randerscheinung.
Der am 18. Mai 2016 mit 90 Jahren verstorbene Historiker Fritz Stein, der 1938 mit seiner jüdischen Familie aus Hitlerdeutschland geflohen war, warnte wenige Monate vor seinem Tod angesichts des Rechtsrucks in vielen europäischen Ländern vor einem bevorstehenden »Zeitalter der Angst«. »Ich habe mich manchmal beschwert«, so Stern, »dass ich mit dem Ende einer Demokratie aufgewachsen bin und jetzt, am Ende des Lebens, die Kämpfe um die Demokratie noch einmal erleben muss. Eigentlich eine traurige Bilanz.« Von dieser traurigen Bilanz zeugt auch die nachfolgende Einschätzung des britischen Marxisten David Harvey: »Es ist sehr viel mehr in Bewegung geraten, als gewöhnlich anerkannt wird«, sagt er. Die herrschende Klasse, das große Geld bestimme die Politik. Und Leute, die intuitiv eher links seien, trauten der Politik nicht mehr. Sie gingen dementsprechend gar nicht mehr zu Wahlen. Da tauche ein Phänomen wie Corbyn oder Syriza kurz auf, aber verschwände sofort wieder. Und wörtlich: »Die Linke heute wird von einer Politik der Anti-Politik dominiert, und es ist sehr schwer, das in etwas Organisiertes, in eine kontinuierliche Kampagne zu verwandeln.« Viele Leute seien sehr unzufrieden mit dem bestehenden Zustand. Diese Unzufriedenheit könne sich sowohl rechts als auch links artikulieren. »Es ist ein sehr gefährlicher Augenblick«, so Harvey im Wortlaut. »Die Rechte ist im ganzen globalen Norden sehr lebendig und will den Faschismus.«
Wenn Harvey mit diesem Fazit Recht hat, dann sollten Linke mit ihrem Ruf nach mehr direkter Demokratie behutsamer umgehen. Was hülfe ein progressiv ausgehender Volksentscheid zu diesem und jenem, wenn es gleichzeitig möglich würde, reaktionärste Positionen als anscheinenden Volkswillen durchzusetzen. Ich möchte heutzutage weder in Deutschland noch in Frankreich geschweige denn in Ungarn, in Polen oder im Baltikum Volksentscheide, die z.B. über das Schicksal von Geflüchteten entscheiden. Die Protagonisten der AfD verlangen doch nicht mehr direkte Demokratie, weil sie die Volkssouveränität respektieren. Sie vertrauen vielmehr auf die Kraft der Manipulation und sie wissen, dass sie sich hier auf die von ihr so vielgescholtene »Lügenpresse« sicher verlassen können. Die Mitläufer von PEGIDA, AfD und anderen tief-reaktionären Vereinen erfassen solch perfide Spielchen natürlich nicht. Sie finden den Umgang der AfD-Granden mit den bürgerlichen Medien nahezu revolutionär. Endlich gibt es denen mal einer. Die Erfinder, genauer: die Wiedererfinder der Lügenpresse-Losungen allerdings setzen genau auf mediale Manipulation, die – durchaus auch versetzt mit einigen Wahrheiten – erfolgreich und massenhaft wirkt. Die AfD – mit der medial zunehmend freundlicher umgegangen wird – rechnet nicht zuletzt wegen der veröffentlichten Meinung mit wachsender Zustimmung.
Ohne rassistischen Grundpfeiler verlöre diese AfD ihre Identität
Nun, da – wie Gauland es formulierte – der sogenannte Flüchtlingsstrom als Geschenk an die AfD zu versiegen droht, setzte man auf dem AfD-Parteitag strategisch frühzeitig genug voll auf den rassistischen Dauerbrenner der Islamophobie. Sie brüllen nicht »Muslim verrecke«. Sie erzeugen nur die Stimmungen, die letztlich zu Hassausbrüchen und brennenden Moscheen führen. Sie selbst formulieren in beinahe lakonischer Art und Weise. Drei Beispiele sollen das belegen: »Kinder sollen die deutsche Staatsangehörigkeit nur dann erwerben, wenn mindestens ein Elternteil bereits Deutscher ist. Das Territorialprinzip wollen wir aus diesen Gründen wieder aus dem Gesetz streichen. … Wir lehnen Sonderrechte für muslemische Schüler ab und fordern die Teilnahme am Sportunterricht und an Klassenfahrten ohne Ausnahme. … Die AfD lehnt es ab, islamischen Organisationen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen, weil sie die rechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen.« Das klingt alles relativ sachorientiert, aber berührt doch zumindest die kulturellen Lebensgrundlagen der Muslime in Deutschland. Damit fängt es immer an, und niemand sollte heute mehr sagen, er wisse nicht, wohin das führen kann. Noch einmal: Man projiziert die erzeugte Ablehnung der nicht mehr massenhaft kommenden Flüchtlinge verstärkt auf die im Land lebenden Migranten. Und aus Ablehnung Hass werden zu lassen, ist wiederum nur eine Frage der Manipulation und des Auslösers.
Der Auslöser findet sich irgendwann auf natürlichem Wege, und wenn es nicht anders geht, wird er produziert. Die Geschichte ist da reich an Beispielen. Die Rechten halten ihre rassistischen Ressentiments am Kochen. Wenn ihnen das – in Einheit mit stetig zunehmendem Nationalismus und Chauvinismus – gelingt, so muss ihnen vor Volksentscheiden nicht bange sein. Sie werden sich außerdem denken: »Wenn wir irgendwann einmal das Sagen haben, können Volksentscheide gegebenenfalls auch wieder abgeschafft werden.« Und man kann sicher sein, dass sie die politische Macht wollen. Man braucht diesen eloquent-zynischen Gestalten nur zuzuhören, ja es reicht beinahe, sie zu sehen. Leider sind die Worte von Klaus Mann in seinem Lebensbericht »Der Wendepunkt« [2] nicht ohne aktuelle Bezüge, vorausgesetzt, David Harveys Einschätzung ist zutreffend. »Die große Gefahr des Jahrhunderts«, schreibt der Autor von »Mephisto«, »ist der Faschismus, der die leicht erregbaren Massen mit dem Gift rassistischen und nationalistischen Größenwahns infiziert.«
Es lässt sich ohne Übertreibung feststellen: Das AfD-Programm lebt wesentlich vom rassistischen Gift und vom wieder im völkischen Gewand daherkommenden Nationalismus. Dass in diesem – im Vergleich mit der Terminologie offen agierender Nazis – eine eher pseudosachliche Sprache dominiert, darf uns nicht täuschen. Die führenden AfD-Leute – nicht gerade Höcke, sehr wohl aber Petry, Gauland oder Meuthen – benutzen im Regelfall Formulierungen, die politisch korrekt erscheinen, die aber mit Sicherheit niedere Instinkte hervorrufen und befördern sollen. Diese Form der Manipulation beherrschen sie meisterhaft, und die Rede von Meuthen auf dem AfD-Parteitag steht geradezu exemplarisch für diese Meisterschaft. Wir haben es mit Profis zu tun, die genau wissen, wo sie hinwollen und gleichzeitig ziemlich sicher bewerten, wie weit sie in der gegeben Situation gehen können. So war im Programmentwurf zu lesen: »Schluss mit ›Politischer Korrektheit‹. Was wahr ist, kann nicht unkorrekt sein.« Wohl aus taktischer Vorsicht findet sich diese Formulierung nicht mehr im beschlossenen Grundsatzprogramm der AfD, sie bestimmt nichtsdestoweniger ihr Agieren. Was wahr ist, bestimmen natürlich sie. Eine ihrer »Wahrheiten« lautet: Die AfD tritt einer »islamischen Glaubenspraxis, die sich … gegen die jüdisch-christlichen und humanistischen Grundlagen unserer Kultur richtet, … klar entgegen.« Was verstehen die unter einer islamischen Glaubenspraxis? Das Ganze oder bestimmte Richtungen? Die AfD lässt es offen. Oder doch nicht? »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«, haben sie in ihr Programm aufgenommen, und als auf ihrem Programmparteitag ein mit dieser Formulierung nicht einverstandener Delegierter empfahl, doch einmal mit den Menschen in benachbarten muslimischen Gemeinden zu reden, erntete er lauten, höhnischen Protest. Da war es zu Ende mit der politischen Korrektheit, da sprach das gesunde Volksempfinden, oder, wie es in deren Programm heißt: der gesunde Menschenverstand. »Mit Muslimen reden. Wo kommen wir denn dahin?« Dieser rassistische Ausbruch zeigte, wes Geistes Kind die Parteitags-Versammelten waren und sind. Daran änderte auch der Besuch Petrys beim Zentralrat der Muslime in Deutschland nichts, im Gegenteil. Islamophobie ist Parteiräson in der AfD. Ohne diesen rassistischen Grundpfeiler verlöre diese Partei ihre Identität. Sie muss rechts bleiben und weiter nach rechts gehen, sonst bleibt sie nicht. Noch eine Bemerkung zu den »jüdisch-christlichen … Grundlagen unserer Kultur«. Wenn es den Rechten passt, gehört die jüdische Kultur zu Deutschland. Wenn es um die Periode geht, in der jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland und den von der faschistischen Wehrmacht besetzten Gebieten beinahe ausgelöscht wurde, dann liest sich das im AfD-Programm so: »Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.« Da es diese im Programm behauptete Verengung in der Sicht auf deutsche Geschichte real gar nicht gibt, kann das ja nur heißen, es sei an der Zeit, über die negativ-identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte weniger zu reden. Bis zur Schlussstrichmentalität ist da kein weiter Weg. Der hessische Oberstudienrat Höcke macht es in Thüringen schon einmal vor, wie das gehen kann. Er verrichtet gemeinsam mit anderen offensichtlich gerne die Drecksarbeit, damit die AfD auch von jenen verstanden wird, die mit einer kryptischen Ausdrucksweise nicht so vertraut sind.
Ja, es wird zwischen den AfD-Protagonisten durchaus echte Differenzen in puncto Taktik geben. Zu vermuten ist allerdings auch ein gehöriges Maß an Arbeitsteilung. Schaut man sich im Programm besonders den Abschnitt 7 »Kultur Sprache und Identität« sowie den Abschnitt 9 »Einwanderung, Integration und Asyl« an, so hat man einen sicheren Kompass, wo die alle hinwollen. Reden zum Fenster heraus sind in der Politik nie so wichtig, wie tatsächliche Grundsätze. »Die Ideologie des Multikulturalismus«, so heißt es im Programm, »die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.« Das wird man ja wohl mal sagen dürfen, heißt es zu solchen völkischen Tiraden. Im Programm klingt das dann so: »Die AfD fordert daher das selbstverständliche Recht auf freie Rede für freie Bürger wieder ein. Niemand darf Angst haben, seine Meinung zur Einwanderungs- und Asylpolitik zu sagen.« Und damit nach Möglichkeit jeder auch nur halbwegs kritische Ton zu solcherart Aufruf nach dem Recht auf Hetze verschwindet, verlangt die AfD an anderer Stelle im Programm die faktische Abschaffung der öffentlich-rechtlichen Sender, nämlich die umgehende Abschaffung der »Zwangsfinanzierung« des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dessen Umwandlung in ein Bezahlfernsehen. Ähnlich wie der Aufsichtsrat von Aktiengesellschaften sollten dessen Kontrollgremien von den (zahlenden) Zuschauern gewählt werden. Nur dann sei das Prädikat »staatsfern« auch gerechtfertigt.
In der Substanz reaktionär
Noch vieles müsste zum Programm gesagt werden. Die AfD setzt auf eine aggressive Militärpolitik im sogenannten deutschen Interesse. Sie befürwortet die NATO, will aber mehr deutschen Einfluss. Deutschland benötige »Streitkräfte, deren Führung, Stärke und Ausrüstung an den Herausforderungen künftiger Konflikte orientiert sind und höchsten internationalen Standards entsprechen … Sicherheit und Freiheit Deutschlands und seiner Verbündeten sind im Finanzhaushalt mehr als heute angemessen zu berücksichtigen.« Auch für die Geheimdienste fordert die AfD größere Befugnisse und mehr Geld. Die AfD kritisiert die EU, in der Sache zum Teil berechtigt. Eine Formulierung soll das belegen: »Die Politik in Europa ist durch eine schleichende Entdemokratisierung gekennzeichnet, die EU ist zu einem undemokratischen Konstrukt geworden, dessen Politik von demokratisch nicht kontrollierten Bürokratien gestaltet wird.« Um diesen Zustand zu beenden, fordert die AfD die Reform der EU faktisch unter der alten NPD-Losung: Ein Europa der Vaterländer. Also Nationalismus anstelle undemokratischer EU-Strukturen. Welcher Fortschritt! Das AfD-Programm ist gerade im Kontext mit der EU-Kritik antiinternationalistisch und durchaus auch antisozialistisch. Es heißt: »Die Versprechen, durch multinationale Großstaaten und internationale Organisationen einen Ersatz für funktionierende demokratische Nationalstaaten zu schaffen, werden nicht eingehalten und sind nicht einhaltbar. Es handelt sich dabei um ideengeschichtlich alte Utopien. Sie zu realisieren, hat stets großes Leid über die Menschen gebracht.«
Die AfD verlangt strikt die Abschaffung des Euro. Dabei dürfte sie kaum im Sinn haben, den gebeutelten Staaten Südeuropas wieder die Chance zu geben, Produktivitätsunterschiede durch nominale Auf- und Abwertungen von Währungen auszugleichen – wie realistisch solche Rückkehrkonzepte heute auch sein mögen. Es geht ihnen einzig darum, dass Deutschland nicht weiter zahlen muss. Dass diese von Deutschland und anderen EU-Staaten gezahlten Gelder primär den zockenden deutschen und anderen Banken zugutekommen, darüber natürlich kein Wort. Man kann Abschnitt für Abschnitt dieses Programms durchgehen: Es ist in der Substanz so reaktionär, dass nicht ins Gewicht fällt, dass da ein paar vernünftige Vorschläge drin zu finden sind, die – weil sie vernunftgeleitet erscheinen – die demagogische Wirkung des Programms verstärken.
Im Abschnitt Bildung verbirgt sich nicht nur eine hier bereits zitierte, clever formulierte Aufforderung zur Geschichtsrevision. Wir finden auch andere Ungeheuerlichkeiten. So z.B.: »Das Klassenzimmer darf kein Ort der politischen Indoktrination sein. An deutschen Schulen wird oft nicht die Bildung einer eigenen Meinung gefördert, sondern die unkritische Übernahme ideologischer Vorgaben. Ziel der schulischen Bildung muss jedoch der eigenverantwortlich denkende Bürger sein. Die einseitige Hervorhebung der Homo- und Transsexualität im Unterricht lehnen wir ebenso entschieden ab wie die ideologische Beeinflussung durch das ›Gender Mainstreaming‹. Das traditionelle Familienbild darf dadurch nicht zerstört werden. Unsere Kinder dürfen in der Schule nicht zum Spielball der sexuellen Neigungen einer lauten Minderheit werden.« Und auch der Abschnitt Familie bietet de facto an Nazitraditionen angelehnte Positionen zur Homosexualität und ebenso ein reaktionäres Frauenbild. Und im Kontext mit einem reaktionären Frauenbild darf die nachfolgende, zutiefst zynisch formulierte Forderung nicht fehlen: »Die AfD setzt sich für eine Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene ein. … Die AfD wendet sich gegen alle Versuche, Abtreibungen zu bagatellisieren, staatlicherseits zu fördern oder sie gar zu einem Menschenrecht zu erklären.«
Es versteht sich von selbst, dass der Abschnitt »Einwanderung, Integration und Asyl« vor Infamie nur so strotzt. Die Kernformulierung, die die de facto Abschaffung des Asylrechts beinhaltet, ohne dass dies explizit gefordert wird, lautet: »Die AfD setzt sich daher für eine vollständige Schließung der EU-Außengrenzen ein und fordert, den aus politischen und anderen Gründen flüchtenden Menschen folgende Option anzubieten: In der Herkunftsregion von Flüchtlingsbewegungen, wie z.B. Nordafrika, werden Schutz- und Asylzentren in sicheren Staaten eingerichtet. Vorrangiges Ziel ist, solche Aufnahmeeinrichtungen unter UN- oder EU-Mandat zu betreiben. Anträge auf Schutz sollen danach nur noch dort gestellt und entschieden werden. Antragsteller in Deutschland und Europa sind ausnahmslos zur Rückkehr in diese Zentren zu verpflichten. Sollten sich solche Aufnahmeeinrichtungen nicht innerhalb überschaubarer Zeit international organisieren lassen, dann wird Deutschland eigenständig in sicheren Staaten geschützte Aufnahmeeinrichtungen nach ortsüblichen Standard und ortsüblicher Grundversorgung einrichten.« Das ist Zynismus in Reinkultur! Liest man den Abschnitt über die Energiepolitik und Umweltfragen, so gibt es gar kein Umweltproblem; der CO2-Ausstoß ist prima und die Atomkraftwerke sind es auch. Wörtlich heißt es: »Kohlendioxid (CO2) ist kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil allen Lebens.« Und natürlich waren die Ausstiegsbeschlüsse aus der Kernkraft von 2002 und 2011 sachlich nicht begründet und wirtschaftlich schädlich. Die Katastrophe von Fukushima ist natürlich kein Sachgrund für den Ausstieg aus der Kernenergie. Da erhebt sich schon die Frage, ob die Atomlobby in der AfD ihren besten Fürsprecher gefunden hat. Und noch etwas ist im Abschnitt Energiepolitik bemerkenswert: »Wir wollen die Technik, Vorteile und Risiken des Fracking nach den bestehenden strengen deutschen Umwelt- und Bergbaugesetzen erforschen. Sollten die Risiken beherrschbar erscheinen, wollen wir Fracking entwickeln und mögliche Standorte erkunden lassen. Daher setzt sich die AfD dafür ein, das im April 2015 in den Bundestag eingebrachte restriktive ›Fracking-Gesetz‹ zurückzuziehen. Hierzu – wenngleich im Programm an ganz anderer Stelle – passt noch etwas anderes, nämlich, dass sich die AfD der Forschung und Entwicklung im Bereich der Gentechnik öffnet. Natürlich sind »Gentechnisch veränderte Futter- und Lebensmittel oder aus diesen gewonnene weiterführende Produkte (…) zu kennzeichnen.« Damit soll es hier mit Programmeinzelheiten genug sein, auch wenn zu einzelnen Programmabschnitten noch gar nichts gesagt wurde. Kernsätze zu allen Abschnitten finden sich in der dem Artikel nachfolgenden Dokumentation.
Einfache Antworten zur Lösung komplizierter Probleme
Kehren wir, nach all den Beispielen, noch einmal zum prokapitalistischen und nationalistisch-völkischen Charakter des Programms zurück. Worin besteht der unbedingt zu entlarvende Zusammenhang zwischen dem Agieren der AfD und den Interessen zumindest bestimmter Kapitalfraktionen? Je unpopulärer es für den Kapitalismus wird, optimale Bedingungen für Profitmaximierung zu gewährleisten, desto mehr bedient er sich des Prinzips: Teile und herrsche. Und desto unbequemer wird die bürgerliche Demokratie. Die greift man über Parlamentarismusschelte an. Das haben schon die Nazis getan. Das Prinzip teile und herrsche erfordert Sündenböcke, denen die Verantwortung für die vom völlig asozial gewordenen Profitstreben verursachten Verwerfungen auferlegt wird. Heutzutage dienen Flüchtlinge als solche. Nichts gibt es, woran sie nicht schuld sind. Und ein beträchtlicher Teil der in sozialer Bedrängnis oder Unsicherheit Lebenden – nicht zuletzt so mancher Hartz-IV-Empfänger oder vom sozialen Abstieg bedrohte Kleinbürger – lassen sich dazu aufhetzen, die noch Schwächeren zu bedrängen und zu verachten. Das System produziert den zunehmenden sozialen Verfall und den rapiden Abbau der noch vorhandenen Reste bürgerlicher Demokratie. Es produziert die Kriege und damit auch die Flüchtlinge. Es ist perfide, den Leuten hierzulande dann eizureden, die Geflüchteten seien an Sorgen und Problemen der Hiesigen schuld. Und genau das tut – bei weitem nicht alleine – aber in der »reinsten Form« die AfD. Vergleichbares hatten wir schon einmal und bekannt sind die Resultate. Man fragt sich, warum dieser rassistische Betrug immer wieder funktioniert. Demagogie funktioniert eben. Sie bietet einfache Antworten zur Lösung komplizierter Probleme. Man bietet den Verunsicherten – bei Verzicht auf grundlegende Systemkritik – den plumpen Hass auf die parlamentarische Ordnung. Man verspricht ihnen, man werde ihre Probleme lösen, indem bestenfalls noch nützliche Fremde ins Land gelassen werden und man bietet ihnen die völkische Heimat, in der sie durch Volksentscheide selbst bestimmen könnten, was gut für sie sei. Das funktioniert besonders dann, wenn die solchen Manipulationen Ausgesetzten keine konsequente Oppositionskraft von links wahrnehmen. Das, so scheint mir, ist grob skizziert die Lage, die auch zu den beunruhigenden Ergebnissen der Landtagswahlen in Sachsen Anhalt aber auch in Baden-Württemberg und Rheinland Pfalz geführt haben. Gleiches trifft auf die Kommunalwahlen in Hessen zu.
Auf der Bundeskonferenz der KPF am 10. April 2016 schätzen wir in diesem Kontext ein: »Natürlich steht eine faschistische Machtergreifung nicht vor der Tür. Es gleicht daher einer Farce, im Angesicht der über 24 Prozent, die die AfD in Sachsen-Anhalt an Stimmen erhielt, die Möglichkeit einer CDU/LINKEN-Koalition ins Spiel zu bringen. Wir werben ja auch nicht um die Teilnahme der Rüstungsindustrie an der Friedensbewegung. Was ist also so beunruhigend? Es sind die offenkundig massenhaft vorhandenen faschistoiden Stimmungen, die hinter den Erfolgen von AfD, PEGIDA und anderen Nazi-Kräften stehen. Nicht umsonst unterstrich der Leipziger Polizeipräsident unlängst seine Einschätzung, dass in Deutschland derzeit eine »Pogromstimmung« herrsche. Stimmungen sind – im Gegensatz zu Überzeugungen – nichts Stabiles. Sie schwanken mit den sie hervorbringenden Umständen. Aber – Stimmungen sind allemal gut als politische Manövriermasse. Stimmungen dienen den Herrschenden zur Durchsetzung ihrer Interessen – und zumindest im Kapitalismus – in der Regel gegen die Interessen derer, die Träger von Massenstimmungen sind. Massenstimmungen werden manipuliert, zuvörderst über die Medien.«
Wir stehen vor der äußerst schwierigen Aufgabe, uns diesen Stimmungen entgegenzustellen, ohne uns zu isolieren. Die bürgerlichen Parteien sind da in einer qualitativ völlig anderen Lage. Natürlich fürchten sie alle und zu Recht die AfD-Konkurrenz. Aber ihre Kritik an der Konkurrentin ist halbherzig, muss halbherzig bleiben. Für ihre neoliberalen und antisozialistischen Positionen kann das Establishment die AfD gar nicht kritisieren. Für deren Haltung zur Bundeswehr oder zu den Geheimdiensten auch nicht. Und in puncto Nationalismus und Rassismus? Auch diesbezüglich dürfte eine glaubhafte Kritik schwer fallen, im Angesicht des dreckigen Asyldeals mit Erdogan oder der menschenverachtenden Asylpakete, in denen Regime zu sicheren Drittstaaten gemacht werden sollen, die zwar foltern, aber angeblich nicht systematisch. Die etablierten Parteien, die eher im Windschatten der AfD manche von deren Forderungen in abgemilderter Form übernehmen, als sie prinzipiell abzulehnen, können mit kritischen Äußerungen nur an der Oberfläche bleiben, weil sie sonst an dem Ast sägen, auf dem sie selber sitzen. Von den parlamentarischen Parteien kann nur DIE LINKE eine kompromisslose Auseinandersetzung mit den von der AfD vertretenen Positionen führen. Das verlangt allerdings von manchen Protagonisten unserer Partei, sich auf die eigenen antikapitalistischen Wurzeln zu besinnen und nicht dabei stehen zu bleiben, den Rassismus der AfD zu geißeln. Wir müssen offen sagen, dass diese Partei Kapitalinteressen wahrnimmt; sicher nicht die aller Kapitalfraktionen gleichermaßen. Aber die Atom- und Rüstungsindustrie z.B. dürfte mit den entsprechenden programmatischen Forderungen dieser Partei kaum Probleme haben. Die gesellschaftliche Funktion der AfD ist es nicht zuletzt, von Klasseninteressen abzulenken und anstelle von Unten und Oben die Fremden und das Völkische zu setzen. Wer soll das hörbar aussprechen, wenn wir das nicht tun? Bleibt die Frage, wer uns hört? Beginnen wir mit dem Schwierigsten, mit denen, die – wie es umgangssprachlich heißt – »total zu sind«.
Die Mitscherlichs zitieren in ihrem Werk »Die Unfähigkeit zu trauern« aus einem von Max Horkheimer verfassten Essay »Über das Vorurteil«, in dem Horkheimer seinerseits aus einem Brief von Theodor Mommsen folgendes wiedergibt: »Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, dass überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In den vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder irgendjemand anderes Ihnen sagen könnten, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. Sie hören nur ihren eigenen Hass und Neid, ihre eigenen niedrigsten Instinkte. Alles andere zählt für sie nicht. Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral. Man kann sie nicht beeinflussen.«
Dies ist geschrieben im Schatten von Auschwitz und in der Absolutheit kaum zu akzeptieren. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass diese Einschätzung auf eingefleischte Rassisten im Wesentlichen zutrifft. Die werden uns sicherlich nicht zuhören. Und die haben – wie einer aktuellen Studie der Universität Leipzig [3] zu entnehmen ist – zugenommen. Sie finden in der AfD eine Heimat. »35 Prozent der rechtsextrem Eingestellten gaben an, AfD zu wählen, vor zwei Jahren waren es lediglich 6,3 Prozent.« Doch wir müssen um all denjenigen ringen, die – wenn auch beeinflusst von rassistischen Klischees – keine Menschenfeinde sind, nicht frei von Empathie. Ihnen müssen wir mit Achtung begegnen. Achtung schließt ein, ihnen nicht zu schmeicheln. Wir müssen schon auch aussprechen, dass sie Gefahr laufen, den Falschen zu folgen. Wir brauchen weder eine Verniedlichung faschistoider Denkansätze noch ein elitäres Verhalten denen gegenüber, die gerade auf die Nazi-Demagogie hereinfallen. Wir können diesbezüglich nur wirkungsvoll agieren, wenn wir die Programmatik der Rechten, allen voran die der AfD entlarven. Versuchen wir also, aufzuklären über die wahren Ursachen dafür, dass die Welt aus den Fugen gerät, jeden Tag ein wenig mehr. Bis in die Familien hinein. Das geht nicht ohne schonungslose Systemkritik. Zu dieser Systemkritik gehört nicht zuletzt, nachzuweisen, dass für die sozialen Probleme im Land nicht die Flüchtlinge verantwortlich zu machen sind, sondern asoziale Politik im Interesse des Kapitals. Erinnert sei an das Konzept und die Realisierung der 2005 eingeführten Agenda 2010. Und zur Systemkritik gehört auch, aufzuzeigen, was uns die Kriege kosten, die dann Fluchtbewegungen zwangsläufig nach sich ziehen. Das ist die Aufgabe aller Linken. Und das ist der ideologische Teil des Antifaschismus unserer Tage. Hinzu kommt natürlich die antifaschistische Aktion auf der Straße und die Solidarität mit all jenen, die der Hass der Rechten besonders trifft, zuvörderst Flüchtlinge und Asylbewerber. Das Entscheidende im Kampf gegen die Rechte bleibt allerdings, dass für die große Mehrheit im Lande, die den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen ausgesetzt ist, eine linke Oppositionskraft deutlich wahrnehmbar ist und bleibt. Der Linksparteichef in Sachsen Rico Gebhardt formulierte das kürzlich so: »Als Sozialisten wollen wir die herrschenden Verhältnisse ändern. Das wollen wir wieder sichtbar machen.« Ein stetes Schielen auf eine mögliche Regierungsbeteiligung ist – wie die Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt verdeutlichten – diesem Ziel nicht dienlich. Das sollten wir in Vorbereitung der Abgeordnetenhauswahlen am 18. September 2016 in Berlin zu keiner Zeit aus den Augen verlieren.
Anmerkungen:
[1] OK steht für »Organisierte Kriminalität«. Die strittige Definition, auf der auch die Lageberichte des Bundeskriminalamtes zur Organisierten Kriminalität basieren, ist in den Gemeinsamen Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren der Länder über die Zusammenarbeit bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität vom 8. Juli 1992 (JMBl/92, Nr. 9, S.139) nachzulesen.
[2] Klaus Mann: »Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht«, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1979
[3] Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hrsg.): »Die enthemmte Mitte: Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland.« Psychosozial-Verlag, Juni 2016, ISBN-13: 978-3-8379-2630-9
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