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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ängste der Bürger. Ein Déjà-vu.

Lion Feuchtwanger schrieb 1929 in »Erfolg«, im ersten Roman seiner »Wartesaal-Trilogie«

 

[...] Allmontäglich, zuerst im Kapuzinerbräu, dann in den riesigen Biersälen von drei oder vier anderen Brauereien, sprach der Führer zum Volk. Immer bestimmter verlautete, die Patrioten würden bald losschlagen. Von einem Montag zum andern wartete man, Kutzner werde jetzt den genauen Tag ansagen. Immer dichtere Massen strömten zu seinen Versammlungen, Beamte und Angestellte erzwangen sich früheren Büroschluß, um sich einen Platz zu erstehen. Keiner wollte die Verkündigung des Freiheitstages versäumen. In einem der blauen Straßenbahnwagen, die zum Kapuzinerbräukeller fuhren, stand, gepreßt zwischen andern, die zum Kutzner wollten, der Altmöbelhändler Cajetan Lechner. Er war in Holland gewesen, er hatte das Schrankerl wiedergesehen. Der Holländer hatte ihn zum Essen eingeladen. Es war gut und reichlich gewesen; allein der Lechner, befangen durch die Dienerschaft und das ungewohnte Besteck, hatte nicht recht zugegriffen. Hinterher hatte er geschimpft auf den Holländer, den Geizhammel, den notigen, der einen hungern läßt. Aber Aufnahmen jedenfalls von dem Schrankerl hatte er gemacht, gute Aufnahmen, er stand oft davor, das Herz voll Zärtlichkeit, empört über die Regierung, die ihn erst gezwungen hatte, sich von dem Schrankerl zu trennen, und dann duldete, daß ihm ein galizischer Jud das gelbe Haus vor der Nase wegkaufte. Er ging zum Kutzner, überzeugt, der Führer werde ihn rächen und bewirken, daß er doch noch hochkommt.

Als er aus der Straßenbahn stieg, rempelte ihn einer derb an, entschuldigte sich: »Hoppla, Herr Nachbar.« Es war der Hautseneder. Der Lechner haßte diesen seinen Mieter vom Unteranger; noch schwebte der Prozeß, weil damals der Hautseneder seinen Hausherrn aus dem zweiten Stock hinausgeschmissen hatte. Jetzt stand man nebeneinander, dicht gedrängt, schob sich gemeinsam vor. Man grollte noch ein bißchen, grantelte einander an, aber schließlich wurde man zusammen in den Saal gespült, an einen Tisch. Man konnte nicht umhin, brummig Rede und Gegenrede zu tauschen.

Es war gut eine halbe Stunde vor Beginn, aber schon war der Saal dick voll. In den tief hängenden Wolken des Tabakrauchs schwammen tomatenrote Rundschädel mit Schnauzbärten, graue Tonkrüge. Verkäufer riefen aus: »Die verbotene Nummer des ›Vaterländischen Anzeigers‹«; denn die Behörden verboten zuweilen, aber sie achteten nicht auf die Durchführung ihres Verbots. Man wartete geruhsam, schimpfte derweilen über die Ungerechtigkeit der Regierung. Frau Therese Hautseneder zum Beispiel hatte die Unbill der neuen Ordnung am eigenen Leib zu spüren bekommen. Ein Reisender hatte ihr einen Staubsauger Apollo verkauft, auf Abzahlung. Dann war ein anderer Reisender gekommen, der bot ihr einen Staubsauger Triumph an, auch auf Abzahlung, etwas billiger. Das mit dem andern Vertreter, erklärte er, werde er ordnen. Er ordnete aber nicht, und nun sollte sie beide zahlen. Herr Hautseneder, tagsüber in der Sendlinger Linoleumfabrik beschäftigt, erklärte, er denke nicht daran, den Lohn von vier Monaten für ihre damischen Faxen zu opfern; sie sei überhaupt narrisch, und er lasse sich scheiden. Frau Hautseneder ihrerseits beschloß, in die Isar zu gehen. Es kam zu einem umständlichen Prozeß. Die Rechtsanwälte sprachen von Vorspiegelung falscher Tatsachen, von Schlüsselgewalt und ähnlichem. Das Ganze endete mit einem flauen Vergleich, der niemanden befriedigte, und damit, daß Herr und Frau Hautseneder, sowie die Vertreter von Apollo und Triumph, mißvergnügt über die bestehende Gesellschaftsordnung, zu den Wahrhaft Deutschen übergingen.

Viele, während sie auf den Einmarsch des Führers warteten, erzählten von ähnlicher Unbill. Alle schimpften sie, daß der Wert der Mark von Tag zu Tag so närrisch sank, alle machten sie die Juden und die Regierung dafür verantwortlich, alle erhofften sie sich Befreiung durch den Kutzner. Der Regierungsinspektor a. D. Ersinger war ein Herr, der sehr auf Sauberkeit hielt. Leib und Seele, Wohnung und Kleidung sauberzuhalten, war nicht leicht in diesen miserablen Zeiten. Er war ein friedfertiger Mann, geneigt, der Obrigkeit zu gehorchen, auch wenn die Herkunft ihrer Macht zweifelhaft war. Als ihm aber seine Frau, statt der gewohnten hygienischen Rolle, Zeitungspapier ins Klosett hing, da riß ihm die Geduld, und er ging zum Kutzner. Dem Maurerpolier Bruckner waren im Krieg drei Söhne erschossen worden, einer an der Somme, einer an der Ahne, einer am Isonzo, der vierte war in den Karpaten verschollen.

Die Kirche hatte für den schimpfenden Alten keinen Trost, als daß Gott, wen er liebe, züchtige. Der Maurerpolier Bruckner fand besseren Trost bei Kutzner. Die Hofrätin Beradt war zwar ihre unwillkommene Mieterin Anna Elisabeth Haider durch deren Ableben losgeworden. Doch auch ihre späteren Mieter trieben Ungebühr aller Art, lärmten, empfingen zweideutige Besuche, kochten verbotenerweise im Zimmer auf elektrischen Apparaten. Mußte sich eine anständige Witfrau das bieten lassen? Sie mußte es. Sie konnte sich des Gesindels nicht entledigen: infolge der gottlosen Mieterschutzgesetze. Der Führer, hoffte sie, wird Ordnung schaffen. Herr Josef Feichtinger, Gymnasiallehrer am Luitpoldgymnasium, war erst am Isartorplatz umgestiegen, wo er noch einen Einkauf zu tätigen hatte, statt am Stachus. Er hatte nicht den für die Benutzung von Umsteigescheinen vorgeschriebenen kürzesten Weg genommen und wurde bestraft. Er war in Ehren zweiundvierzig Jahre alt geworden: unter dieser Regierung wurde man bestraft, weil man am Isartorplatz zwei blaue Hefte kaufte. Er ging zum Kutzner. Der Rauch wurde dicker, Schweiß und Hitze stärker, die grauen Tonkrüge undeutlicher, die runden Schädel röter. Der Altmöbelbändler Lechner zog immer heftiger sein gewürfeltes Taschentuch. Endlich hielt, begleitet von den Fahnen, unter ungeheurem Jubel, Robert Kutzner seinen Einzug, den sorglich gescheitelten Kopf gereckt, marschierend zu der dröhnenden Blechmusik. Er sprach von dem Schmachfrieden von Versailles, von den frechen Advokatentricks des Franzosen Poincaré, von internationaler Verschwörung, von Freimaurern und Talmud. Was er sagte, war nicht unbekannt, aber es wirkte neu durch die Urwüchsigkeit des Dialekts, durch die Kraft des Vortrags. Voll Bewunderung dann und Ehrfurcht in der Stimme sprach er von dem italienischen Führer Mussolini, wie der sich kühn der Stadt Rom und der Apenninenhalbinsel bemächtigt hatte. Seine Tatkraft, rief er, solle auch den Bayern leuchtendes Vorbild sein, und er verhöhnte die Reichsregierung und prophezeite den Marsch auf Berlin. [...]

»Wir Wahrhaft Deutschen«, rief er, wenn wir an der Macht wären, »wir brauchten kein Ausnahmegesetz.« – »Was würdet Ihr denn tun?« rief eine wohlklingende, sonore Stimme dazwischen. Robert Kutzner schwieg einen Augenblick. Dann, in den lautlos gespannten Saal hinein, leise, mit einem träumerischen Lächeln, sagte er: »Wir würden unsere Gegner legal hängen lassen.«

Es machten aber die Wahrhaft Deutschen vier Prozent der Bevölkerung aus, vierunddreißig Prozent waren neutral: die Gegner waren zweiundsechzig Prozent. [...]

(1929. Aufbau-Verlag Berlin 1956, S. 539-543)