Abrüstung durch Aufrüstung?
Florian Rötzer
Die US-Regierung will das Atomwaffenarsenal einerseits reduzieren, aber andererseits auch mit vielen zusätzlichen Milliarden modernisieren und erneuern. US-Präsident Obama hatte letztes Jahr in Prag verkündet [www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30693/1.html], er strebe eine atomwaffenfreie Welt an. Gleichzeitig sagte der weiterhin Krieg führende Friedensnobelpreisträger, daß die USA, bis es soweit ist und solange es noch Atomwaffen gebe, aber ein zur Abschreckung und zur Vergeltung ausreichendes Arsenal aufrechterhalten und modernisieren werden.
Im April veröffentlichte das Weiße Haus, nachdem mit Rußland ein Start-Folge-Abkommen zur weiteren Reduktion von Sprengköpfen und Trägersystemen geschlossen wurde, die neue Nuklearstrategie (Nuclear Posture Review [www.defense.gov/npr/]). Darin wurde das Abschreckungskonzept verändert, weil nun der nukleare Terrorismus und die Weiterverbreitung der Atomwaffentechnik die größte Bedrohung darstellen – und nicht mehr gegnerische Staaten mit Atomwaffen (Nuklearer Terrorismus: Ein Albtraum, der Wirklichkeit werden könnte? [www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32459/1.html]). Man verzichtet prinzipiell auf die Androhung eines Atomschlags gegen Staaten, die selbst über keine verfügen und die den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet haben sowie sich an die damit verbundenen Verpflichtungen halten, selbst wenn sie US-Ziele mit biologischen oder chemischen Waffen angreifen. Hier würde man mit einem verheerenden Schlag mit konventionellen Waffen reagieren.
Aber man ließ sich natürlich Hintertüren offen, da man sich etwa einen Einsatz von Atomwaffen vorbehält, wenn die USA etwa durch neue biologische Waffen schwer gefährdet wären, zudem bleiben Nordkorea und Iran mögliche Angriffsziele. Und ganz deutlich wird auch gemacht, daß eine glaubhafte nukleare Abschreckung, an der festgehalten werden müsse, eine Modernisierung des Arsenals und damit mehr Geld erforderlich machen.
Im Mai veröffentlichte [www.defense.gov/news/newsarticle.aspx?id=59004] das Pentagon als Geste für größere Transparenz genaue Angaben über das vorhandene Atomwaffenarsenal. Danach besitzen die USA noch einsatzbereite und inaktive 5.113 Nuklearsprengköpfe (dazu kommen freilich noch 4.500 ausrangierte, aber intakte Sprengköpfe). Damit ließe sich schon eine kleine Apokalypse veranstalten, allerdings hatten die USA – ein Beleg für den Irrsinn der Rüstungsspirale – 1989 noch mehr als 22.000 Sprengköpfe. Das neue Start-Abkommen sieht vor, die Zahl der einsatzbereiten Sprengköpfe von jetzt 2.200 bis 2020 auf jeweils 1550 und die der Träger auf jeweils 700 zu reduzieren. Der Trick dabei ist freilich, daß anders gezählt wird. Beispielsweise zählt jedes Flugzeug, das bis zu 20 Sprengköpfe mit sich führen kann, als eine Atomwaffe, wie der Experte Hans Kristensen von der Federal of American Scientists (FAS) anmerkt [www.fas.org/blog/ssp/2010/03/newstart.php].
Nach Kongreßdokumenten [www.fas.org/press/news/2010/nnsa_plan.html#ssmp], die die Federation of American Scientists [www.fas.org/] und Union of Concerned Scientists [www.ucusa.org/] erhalten haben, sieht die für die Atomwaffen zuständige National Nuclear Security Administration (NNSA) im Energieministerium in dem FY 2011 Stockpile Stewardship Plan zwar vor, die Sprengköpfe von jetzt über 5.000 auf 3.000-3.500 zu reduzieren, aber dieser 30-40prozentige Abbau, der weniger ist, als im neuen Start-Abkommen vorgesehen, führt nicht zu Kostensenkungen. Das Ministerium sieht vor, daß in den nächsten 20 Jahren bis 2030 175 Milliarden US-Dollar in den Atomwaffenkomplex investiert werden sollten, um damit zur Ersetzung der alternden Infrastruktur neue Waffen zu bauen, sie zu testen und Simulationen durchzuführen. Wartung der Waffen und deren Operation sind in diesen Kosten nicht enthalten, denn dies wird vom Haushalt des Pentagon bestritten. Das Pentagon wiederum sieht Ausgaben von 100 Milliarden für neue Trägersysteme (Bomber, Kampfflugzeuge und U-Boote) vor.
Zudem ist vorgesehen, daß mehr als 3.000 Sprengköpfe einsatzbereit bleiben sollen, obgleich das Start-Abkommen eine Reduktion auf 1.550 vorsieht und natürlich sowieso weiter abgerüstet werden könnte, um die Abschreckung aufrechtzuerhalten. Die Kosten für die Erhaltung und Modernisierung des Atomwaffenarsenals seien unabhängig von der Zahl der einsatzbereiten Sprengköpfe, heißt es aus dem Ministerium. Selbst wenn man die Zahl der Sprengköpfe auf 500 reduzieren würde, blieben die veranschlagten Kosten erhalten. Kristensen von der FAS kann sich diese kaum nachvollziehbaren Kostenangaben nur so erklären, daß die US-Regierung damit sicherstellen will, möglicherweise die Abrüstung einstellen und wieder auf Aufrüstung umstellen zu können. Oder, da schon mit der Produktion neuer Sprengköpfe des Typs W88 begonnen wurde: man plant eine schnellere Produktion von neuen Sprengköpfen. Nach den Angaben des Ministeriums könne man derzeit 20 im Jahr herstellen, bis 2022 sollen es 80 sein. Geplant wird auch die weitere Modernisierung, Erweiterung und Veränderung des vorhandenen Arsenals. Allerdings soll das Atomwaffenarsenal auch besser gesichert werden.
Kristensen kritisiert [www.fas.org/blog/ssp/2010/07/stockpilepla], daß die Pläne der US-Regierung eine falsche Botschaft aussenden, zumindest wenn die Abrüstung weiter verfolgt wird, die auch zum Vorbild für andere Staaten dienen sollte, um einer atomwaffenfreien Welt näherzukommen. Kristensen weist etwa darauf hin, daß Präsident Obama von der Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung gesprochen habe, während das Energieministerium von einer Weiterentwicklung spricht. So sollen neue Fabriken zur Herstellung von Atomwaffen gebaut und eine "agilere Abschreckung" bewirkt werden. Wird man den Bemühungen Obamas also wirklich Glauben schenken, daß er die Bedeutung der Atomwaffen und deren Zahl reduzieren will, um auch anderen Staaten eine Abrüstung nahe zu legen, wenn gleichzeitig das Atomwaffenarsenal mit viel Geld modernisiert werden soll?
Am 15. Juli 2010 erschienen in "Telepolis", www.heise.de/tp