9. November 1923: Wie der Nazipartei ein Putsch in Bayerns Hauptstadt ermöglicht wurde …
Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jena
Als im März 1920 Kapp, Lüttwitz und Konsorten marschierten, um den 9. November 1918 ungeschehen zu machen, blieb es der gerade ins Leben getretenen NSDAP – trotz eifriger Hilfe bayerischer Reichswehroffiziere – verwehrt, den Putsch zu unterstützen: der Generalstreik kam ihr zuvor. Der Putsch gegen die Weimarer Republik scheiterte. In Bayern mußte allerdings das sozialdemokratische Kabinett am 16. März einer rein bürgerlichen Regierung weichen. Ihr stand der rechtskonservative Monarchist Gustav Ritter von Kahr vor, unter dessen Regie der Freistaat sich zur "Ordnungszelle" Deutschlands entwickelte, d.h. zu einer Hochburg monarchistisch-partikularistischer Kräfte, zum Schlupfwinkel rechtsradikaler Terrorgruppen und damit auch zur Brutstätte völkisch-faschistischer Organisationen.
Die Heimat der NSDAP
Von dieser Politik – getragen von der Bayerischen Volkspartei (BVP), der konservativen Bayerischen Mittelpartei und dem Reichswehrgruppenkommando – profitierte vor allem die Nazipartei. Obwohl in ihren Veranstaltungen nationalistische Stimmungen geschürt und rassistische Vorurteile propagiert wurden, und obwohl es regelmäßig zu Krawallen und handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, schritten die Münchener Behörden selten ein. Ebenso empfand die Landesregierung diese Partei als eine willkommene Unterstützung eigener Politik gegenüber den Arbeiterorganisationen wie auch für ihre Attacken gegen die Reichsregierung. Die Verhältnisse im Norden Deutschlands bezeichnete sie als "bereits halb bolschewistisch", die Berliner Regierung als eine "verschleierte Sowjetregierung". Kahr empfing sogar eine Delegation der NSDAP mit der Begründung, alle "nationalen Kräfte" müssten gemeinsam gegen die vom Zentrumspolitiker Joseph Wirth geleitete Reichsregierung vorgehen.
So ermuntert und gefördert gingen die Blicke der Nazipartei rasch über die bayerischen Landesgrenzen hinaus. Sie trachtete danach, rechtsextreme Organisationen zusammenzuführen und unter ihrer Regie zusammenzuschließen. Sie entwickelte sich zu einer diktatorisch geleiteten, jeglichen demokratischen Gebarens entbehrenden Partei, in der über Gewalt und Terror als Mittel der Politik keinesfalls nur theoretisiert wurde. Faktisch bei jeder sich bietenden Gelegenheit probte ihre im August 1921 entstandene Sturm-Abteilung (SA) den Bürgerkrieg. Mit Gummiknüppeln, Totschlägern, Reitpeitschen und Pistolen ging sie, aufgeputscht durch antimarxistische und antisemitische Parolen, äußerst brutal vor. Ungefähr 15.000 SA-Männer waren es schließlich, die im November 1923 für das Vorhaben bereit standen, von Bayern aus das gescheiterte Kapp-Abenteuer zu wiederholen.
Den Putschplänen der NSDAP kamen die permanenten Spannungen zwischen Bayern und dem Reich zugute, schien doch im Freistaat alles recht und nützlich zu sein, was sich für den Kampf gegen Republik und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse mobilisieren ließ. Die Landesregierung begrüßte die provokatorischen Zwischenfälle in München, als Reichspräsident Friedrich Ebert zu Besuch erschien. Sie hielt die NSDAP für "notwendig als ausgleichendes Moment gegenüber den Anmaßungen der freien Gewerkschaften", wie es in einem Bericht der Münchener Polizei hieß. Deren Überwachung erfolge nur, um das "Überschäumen des jugendlichen Kraftgefühls rechtzeitig verhindern zu können".
Als in Italien die Organisation der Schwarzhemden unter der Führung Benito Mussolinis im Oktober 1922 die Regierung übernahm, priesen die deutschen Faschisten deren "konsequente Kampfführung", mit der allein Erfolg erzielt werden könne. Alles stand nun im Zeichen ihres nach italienischem Vorbild angestrebten "Marsches auf Berlin". Pläne und Einsatzbefehle nahmen eine immer konkretere Gestalt an. Die seit März 1923 von Hermann Göring geführte SA gebärdete sich offen als ein Wehrverband und veranstaltete in Bayern eine militärische Übung nach der anderen. Wie immer, wenn sich rechtsradikale Verbände formierten und zum Losschlagen bereithielten, wurde das Gerücht ausgestreut, ein "Linksputsch" stünde bevor. Bereits am 1. Mai warteten in München 1.300 SA-Leute und etwa 4.000 Mitglieder der vaterländischen Verbände – des Bundes Oberland, der Reichsflagge, des Blücher-Bundes u.a.m. – auf das Zeichen zum Losschlagen. Hauptmann Ernst Röhm hatte dafür gesorgt, daß sie zusätzlich zu ihren Gewehren, Handgranaten und Pistolen aus den Beständen der Reichswehr Maschinengewehre und ein Geschütz erhielten.
Zwar blieb der Befehl zum Putsch noch aus, doch nach den Gesetzen der Weimarer Republik und des Freistaates Bayern hätte Hitler bereits wegen staatsgefährdender Betätigung zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden können. Das rechte Auge der Justiz erwies sich wie so oft auch in dieser Situation als blind. Selbst die Verabschiedung Röhms aus der Truppe, die der Reichswehrminister Otto Geßler persönlich verfügt hatte, scheiterte am Einspruch des Generals Otto Hermann von Lossow, der die Reichswehr in Bayern kommandierte. Gegen die NSDAP gerichtete Untersuchungen eines Münchener Staatsanwalts wurden rasch abgeschlossen, als Hitler drohte, mit "landesverräterischen Enthüllungen" aufzuwarten.
Die Verhältnisse ändern sich
Als im August 1923 Reichskanzler Wilhelm Cuno aus dem Amt gezwungen und einen Monat später die Taktik des "passiven Widerstands" gegen die Ruhrbesetzung aufgegeben wurde, verkündete Gustav Stresemann, Vorsitzender der Deutschen Volkspartei (DVP) und neuer Reichskanzler: "Die beste außenpolitische Aktivität, die wir entfalten können, ist die Ordnung der deutschen Verhältnisse im Innern." Die Beilegung des Ruhrkonflikts und der Kurs auf die Stabilisierung der deutschen Währung wurden von einer erneuten Verhängung des Ausnahmezustandes flankiert. Darüber entbrannten in den Reihen derer, die konkrete Diktatur-Pläne verfolgten, neue Auseinandersetzungen. Während die Reichsregierung und die so genannten Parteien der Mitte das Schwergewicht der politischen Entscheidungen von der Legislative zur Exekutive verschieben wollten, ohne erstere zu beseitigen, traten nahezu alle konservativ-nationalen Kräfte mehr oder weniger offen für eine Militärdiktatur ein. Das von Hugo Stinnes propagierte Programm einer "Zerschmetterung des Kommunismus", der Notverfassungsentwurf des berüchtigten Alldeutschen Verbandes und die Absichten vieler extrem reaktionärer Kräfte, darunter auch jene der NSDAP, stimmten weitgehend überein. Als Ziel galt: Unterdrückung ihrer politischen Gegner mit rücksichtsloser Gewalt, Auflösung der Parlamente, Verhängung des Standrechts, Todesstrafe für Streikende, Aufhebung der Pressefreiheit, Verbot der Gewerkschaften.
In Bayern gingen die monarchistisch-partikularistischen Gruppen unter dem Triumvirat von Kahr, Lossow und Oberst Hans Ritter von Seißer, dem Chef des Landespolizeiamtes, und die NSDAP lange Zeit Hand in Hand bei der Vorbereitung eines gemeinsamen Putsches gegen die Reichsregierung und den parlamentarisch-demokratischen Staat von Weimar. Für diesen Zweck wurde die Partei der Faschisten weiter gepäppelt, obwohl sie mehr und mehr mit eigenen Forderungen hervortrat und aus der Rolle eines nur regional wirksamen und beliebig zu dirigierenden Juniorpartners herauszuwachsen begann. Das wurde deutlich, als sie am 2. September einen Deutschen Tag in Nürnberg organisierte, an dem rund 100.000 Menschen teilnahmen. Unter den "Ehrengästen" befanden sich Ludendorff, Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern, der Herzog von Coburg, Admiral Reinhard Scheer sowie zahlreiche bayerische Generäle und Offiziere. Am gleichen Tag entstand unter aktiver Mitwirkung der NSDAP der Deutsche Kampfbund, der die organisatorische Grundlage für die weiteren Putschvorbereitungen bot. Die Nürnberger Generalprobe für den geplanten Umsturz verlief verheißungsvoll, zumal sich SPD und KPD nicht auf eine gemeinsame Gegenwehr zu einigen vermochten. Drei Wochen später gelang es Röhm, die Wahl Hitlers zum politischen Leiter des Kampfbundes durchzusetzen.
Im Herbst traf sich Lossow mehrere Male mit dem Führer der NSDAP und versicherte, er sei mit Hitlers Auffassungen "in neun von zehn Punkten völlig einig". Dennoch entflammte zwischen dem rechtskonservativen weiß-blauen und dem nationalsozialistischen Flügel der Putschistenfronde offene Rivalität. Der gemeinsam propagierte und zugleich intensiv vorbereitete "Marsch auf Berlin", für den Lossow am 24. Oktober die Parole "Sonnenaufgang" ausgab, entsprach nicht in allem den Plänen der Weiß-Blauen. Deren hauptsächliches Ziel bestand in einem weitgehend eigenständigen, von revolutionären Einflüssen aus den übrigen Teilen Deutschlands abgeschirmten Bayern. Dafür wurden zwar alle Aktivitäten der NSDAP als nützlich einkalkuliert, deren Ansprüche auf eine Führungsrolle und auf eine Realisierung ihrer eigenen Ziele aber als überflüssig und ihrer eigenen Sache abträglich betrachtet. Kahr und die von ihm repräsentierten Kreise ruderten etwas zurück, als sich im Reich die Verhältnisse zu stabilisieren begannen und am 13. Oktober der Reichstag ein Ermächtigungsgesetz beschloss, das erlaubte, von den verfassungsmäßig garantierten demokratischen Grundrechten abzugehen. Sie begrüßten den vom Reichspräsidenten veranlassten Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen, wo die legalen, von Sozialdemokraten und Kommunisten gebildeten Landesregierungen zum Rücktritt gezwungen wurden, und ebenso das Scheitern des Hamburger Aufstandsversuches der KPD. Für Kahr schien, als die Übergabe der gesamten vollziehenden Gewalt an Reichswehrchef General Hans von Seeckt deutlich wurde, sich die Aufgabe erübrigt zu haben, mit dem "Saustall in Berlin" aufzuräumen. Mit Gespür für die veränderte Situation begriff ein Teil der bayerischen Rechten, daß unter Deutschlands ökonomisch Mächtigen und politisch Herrschenden sich jene Richtung durchgesetzt hatte, die eine parlamentarische Staatsform für unentbehrlich und vorläufig lediglich graduelle Veränderungen am politischen Herrschaftssystem für erreichbar hielt. Kahr, Lossow und Seißer eröffneten am 6. November den Führern der vaterländischen Verbände, daß einzig und allein sie das Kommandorecht beanspruchen und jede Eigenmächtigkeit brechen würden. Dies kam einer Distanzierung vom nationalsozialistischen Flügel der Putschistenfront gleich.
Kassenräuber, Geiselnehmer, Putschisten
Die Führung der NSDAP versuchte demgegenüber vollendete Tatsachen zu schaffen, zu retten, was zu retten war. Sie befürchtete auch, ihre aufgeputschten Anhänger nicht mehr bei der Fahne halten zu können, und sorgte sich um den drohenden Zerfall des so mühsam unter ihrem Kommando formierten Kampfbundes. Hitler drang am Abend des 8. November an der Spitze einer bewaffneten SA-Formation in den Münchener Bürgerbräukeller ein, wo Kahr anläßlich des fünften Jahrestages des Beginns der Novemberrevolution eine programmatische Rede halten wollte. Mit ausgesprochenem Sinn für theatralische Effekte verkündete der NSDAP-Führer nach einer kurzen Beratung im Nebenzimmer (und einer Versammlungspause, in der Göring die erregten Teilnehmer unter anderem mit dem Argument beruhigte, die Bayern würden auch künftig ihr Bier bekommen!) den Beginn einer "nationalen Revolution" und die Bildung einer neuen Reichsregierung. Dieser würden außer ihm auch Ludendorff, Kahr, Lossow, Seißer und Feder angehören. Die Verantwortlichen für die Revolution von 1918/19 – wüst als "Novemberverbrecher" beschimpft – sollten vor ein Gericht gestellt und innerhalb von drei Stunden hingerichtet werden. Danach gellten "tumultuarisches begeistertes Geschrei" und das Deutschlandlied durch den Saal. Nach anfänglicher und erzwungener Zustimmung zogen sich Kahr, Lossow und Seißer jedoch in der Nacht von diesem Unternehmen zurück. Die Verbrüderungsszene mit den Nationalsozialisten und die Anerkennung einer Reichskanzlerschaft Hitlers waren rasch vergessen. Kahr erklärte NSDAP und Kampfbund für aufgelöst; zugleich verbot er – ohne jede Begründung – ebenfalls die KPD. Aus anderen bayerischen Garnisonen wurden Reichswehreinheiten nach München beordert.
In der Nacht vom 8. zum 9. November 1923 gaben die Putschisten eine Probe ihres terroristischen "Könnens". Aus der Kasse einer Buchdruckerei "besorgten" sie Sold für die SA-Leute. Der Stoßtrupp Hitler stürmte und verwüstete auf Görings Befehl das Verlagsgebäude der sozialdemokratischen Münchener Post. Unter Leitung Röhms besetzte eine Gruppe das Wehrkreiskommando. Rudolf Heß organisierte die Geiselnahme und Bewachung von Mitgliedern der bayerischen Regierung und des Münchener Stadtrates. Wahllos wurden vor allem jüdische Bürger verhaftet. In blinder Hoffnung glaubte Hitler – darin von Ludendorff nachhaltig unterstützt – noch immer, durch den ohne Erfolgsaussicht begonnenen Putsch eine Wende erzwingen zu können. Er befahl seine Anhänger für die späten Vormittagsstunden des 9. November zu einem "Erkundungs- und Demonstrationsmarsch" durch die Münchener Innenstadt. Als die SA-Leute und Mitglieder des Bundes Oberland das Regierungsviertel erreichten, fiel ein Schuß, dem für etwa eine Minute ein heftiger Feuerwechsel folgte. Bei der Feldherrnhalle – einem zum Ruhme Wittelsbacher Heerführer erbauten klassizistischen Gebäude – stoppten einige Salven der aufmarschierten Landespolizei die vordringenden Putschisten endgültig. Drei Polizisten und 16 Mitglieder der NSDAP lagen tot oder sterbend auf der Straße. Ludendorff, Drexler, Frick und einige wenige ließen sich an Ort und Stelle verhaften.
Ausgezogen, nach Berlin zu marschieren und die Macht zu erobern, kamen die deutschen Faschisten damals nicht weit. Eilig zerstreuten sich die etwa 3.000 am Marsch Beteiligten. Mancher stob in wilder Flucht davon. Auch hierin sollte sich der um seine eigene Rettung bemühte Hitler als "Führer" erweisen – zunächst konnte er sich in einem Landhaus der befreundeten Familie Hanfstaengl verbergen, bevor er am 11. November verhaftet wurde. Göring, Esser, Feder, Berchtold und andere flüchteten ins Ausland. Die Parteigeschichtsschreibung, die dem fehlgeschlagenen Staatsstreich stets einen zentralen Platz in ihrer heroisierenden Selbstdarstellung einräumte, konstruierte so manche Legende und fälschte viele Details des Geschehens, um Abenteuerlichkeit und Dilettantismus vergessen zu machen.
Im Rückblick auf diesen 9. November der deutschen Geschichte zeigt sich: Weder die Aktionen im Münchner Bürgerbräukeller und vor der Feldherrnhalle noch die Machtübertragung an Hitler, die neun Jahre und drei Monate später erfolgte, hätten geschehen können, wären der Mann und seine Partei nicht gepäppelt und gefördert sowie die Gesetze des Weimarer Staates gegen solche Hochverratsverbrechen angewandt worden ...