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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

80 Jahre UNO-Charta

Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg

 

Es ist bemerkenswert, dass eine Verfassung fast unverändert 80 Jahre überdauert, während das nur vier Jahre jüngere Grundgesetz nach bis jetzt 67 Eingriffen kaum wie­derzuerkennen ist. Doch die Zweifel mehren sich vor allem in Zeiten des Krieges, ob sie in dieser Form noch in der Lage ist, ihre Hauptziele, »den Weltfrieden und die interna­tionale Sicherheit zu wahren … freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwi­schen den Nationen zu entwickeln …« (Art. 1 UNO-Charta). Ist sie zu alt, überholt, zu unmodern? Oder schlicht eine Fehlkonstruktion der unmittelbaren Nachkriegszeit, die untauglich ist, mit einem mehrfach gescheiterten Friedenssystem der kollektiven Si­cherheit mit Namen Völkerbund und UNO die neue Weltordnung friedlich zu gestalten?

1939 hatte das Deutsche Reich mit seinem Angriff auf Polen dem ersten Versuch eines Systems der kollektiven Sicherheit, dem Völkerbund, nach kaum 20-jähriger ruhmloser Geschichte den endgültigen Todesstoß gegeben. Trotzdem mündeten die Bemühungen um eine friedliche Nachkriegsordnung wiederum in einem vergleichbaren System kol­lektiver Sicherheit. Es waren ausgerechnet die USA, die derzeit am schärfsten dieses System attackieren, die den Anstoß für eine Nachfolgeordnung gaben.

Ausgangspunkt war Neufundland, wohin Roosevelt seinen britischen Kollegen Churchill 1941 noch vor dem Eintritt der USA in den Krieg einlud, um über eine zukünftige Frie­densordnung zu sprechen. Churchill stellte sich eine internationale Organisation nach dem Vorbild des Völkerbundes vor. Roosevelt wollte davon zunächst nichts wissen, er sah den Garanten eines zukünftigen Friedens in starken britisch-amerikanischen Streit­kräften. Zweifellos war ihm noch in Erinnerung, dass Wilson seinerzeit mit seinem Völ­kerbund vom US-amerikanischen Kongress in Stich gelassen worden war.

Schließlich einigten sich beide Regierungschefs am 14. August auf eine Abschlusserklä­rung, die wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung als »Atlantik-Charta« in die Geschich­te einging. Allerdings kam sie außer einem Bekenntnis zu Freiheit des Welthandels und freien Zugang zu allen Rohstoffen nur zu einer allgemeinen Erklärung für eine »umfas­sendere und selbständige Organisation für die allgemeine Sicherheit.«

Trotz seiner Bedenken entwarf Roosevelt schon einige Monate später gemeinsam mit Churchill eine »Erklärung der Vereinten Nationen«, die am 1. Januar 1942 von 26 Natio­nen unterzeichnet wurde. Ihr schlossen sich bis 1945 weitere 21 Staaten an. Nach den beiden Konferenzen in Moskau und Teheran im Oktober und November 1943 machte sich die amerikanische Administration daran, ein Organisationsmodell zu skizzieren.

Vor allem sollten die negativen Erfahrungen mit dem Völkerbund vermieden werden. So sollte die Überstimmung einer der Großmächte im geplanten Exekutivausschuss, dem späteren Sicherheitsrat, vermieden werden. Für die privilegierten Großmächte solle Ein­stimmigkeit gelten. Ein Vorschlag allerdings, der schon zu Zeiten des Völkerbundes gemacht worden war, dass jene Mitglieder sich der Stimme zu enthalten haben, die an dem Konflikt beteiligt sind, wurde nicht aufgenommen. Die zentrale Frage war die der Durchsetzung von Entscheidungen, an der nach Ansicht des State Departments der Völkerbund gescheitert war. Die Alternativen sahen einmal die Möglichkeit vor, nationa­le Truppenkontingente unter dem Kommando des Exekutivausschusses zusammenzu­fassen und für Sanktionen einzusetzen, zum anderen die Aufstellung einer permanen­ten internationalen Polizeitruppe zur Verfügung des Ausschusses. Die zweite Variante warf aber zu große politische und praktische Probleme auf, sie wurde zugunsten der ersten Variante fallen gelassen.

Unterzeichnet am 26. Juni 1945 in San Francisco

Die Vorschläge wurden 1943 im sogenannten Outline-Plan zusammengefasst. Er ent­hält die wesentlichen Elemente der späteren UNO-Charta: einen Exekutivausschuss mit weitgehenden Entscheidungs- und Exekutivkompetenzen aus ständigen und nichtstän­digen Mitgliedern und eine schwächere, im Wesentlichen auf Empfehlungen verwiesene Generalversammlung. Der Outline-Plan war die Grundlage der Konferenz von Dumbar­ton Oaks, wo von Anfang August bis Ende September 1944 die Experten der vier Mäch­te, China, USA, UdSSR, Großbritannien, einen Entwurf für die Statuten der neuen Char­ta erarbeiteten.

Über etliche Probleme gab es keine Einigung. So über den Wunsch der Sowjets, alle 16 Unionsrepubliken in die Organisation aufzunehmen – sie befürchtete eine hoffnungs­lose Unterlegenheit in der neuen Organisation wie schon im Völkerbund. Nicht akzep­tiert wurde von der sowjetischen Seite der Wunsch der Briten und Amerikaner, das Vetorecht bei Kriegsbeteiligung einzuschränken. Keine Einigung gab es zwischen den Sowjets und Briten über die Verankerung der Menschenrechte in der Charta. Vor allem Churchill wollte keine sozialen und ökonomischen Rechte im Hinblick auf das Common­wealth in die Satzung aufgenommen haben.

Schließlich brachte die Konferenz von Jalta im Februar 1945 die letzten Kompromisse. Die Westmächte akzeptierten zwei Unionsrepubliken, Weißrussland und Ukraine, als selbstän­dige Mitglieder mit vollem Stimmrecht. Außerdem einigte man sich über das Vetorecht im wichtigsten Gremium, dem Sicherheitsrat. Dies war den Sowjets von höchster Wichtigkeit. Warum, hat Churchill in seinen Memoiren anschaulich geschildert:

»Stalin erklärte, die drei Großmächte seien zwar heute verbündet und keine von ihnen wer­de Angriffsakte begehen, er befürchte jedoch, die heutigen Führer würden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden, und eine neue Generation werde an die Macht kom­men, die nicht mehr aus persönlichem Erleben wisse, was wir in diesem Krieg durchge­macht haben … . Meine Moskauer Kollegen können nicht vergessen, was sich im russisch-finnischen Krieg im Dezember 1939 abgespielt hat, als Briten und Franzosen den Völker­bund gegen uns in Bewegung gebracht und es ihnen gelang, die Sowjetunion zu isolieren und aus dem Völkerbund auszuschließen, als sie später sogar mobil machten und von einem Kreuzzug gegen Russland sprachen. Können wir nicht Garantien bekommen, dass sich so etwas nicht wiederholt?«

Gäbe es dieses Veto nicht, wäre Israel schon lange und Russland seit dem Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 aus der UNO ausgeschlossen worden.

Man kam also in dieser Frage Stalin entgegen, und dieser akzeptierte Churchills Wunsch, die britischen Kolonien nicht unter die Treuhandschaft der UNO zu stellen. Frankreich wurde schließlich als fünfter Staat in den Kreis der privilegierten Großmäch­te aufgenommen. Mit diesen Kompromissen wurde schließlich am 26. Juni 1945 in San Francisco die »Charta der Vereinten Nationen« von 50 Staaten unterzeichnet, am 24. Oktober 1954 ist sie in Kraft getreten.

Gegen Veto der Großmächte keine Änderungen

Seitdem hat es nur zwei Änderungen gegeben, die im Wesentlichen nur Mitgliederzah­len in verschiedenen Gremien und organisatorische Frage betrafen. Die Deutschland besonders interessierende Feindstaatenklausel in Artikel 53 und 107 wurde 1994 durch die Resolution 49/58 von der Generalversammlung für obsolet erklärt. Das zeigt, wie schwer eine Veränderung der Charta vor allem in grundsätzlichen Fragen ist. Schon lange, aber besonders in den letzten Jahren, wird von den Staaten des Südens in Asien, Afrika und Asien die mangelnde Repräsentanz insbesondere im Sicherheitsrat beklagt. Gewiss ist eine Veränderung des Atlantik-lastigen Sicherheitsrats zugunsten stärkerer Präsenz des Südens notwendig. Aber es bestehen große Zweifel, ob damit die Kriege der NATO-Staaten und der USA in der Vergangenheit oder der Angriff Russlands auf die Ukraine und der Völkermord durch Israel in Gaza hätten verhindert werden können. Die UNO ist aus diesen Konflikten systematisch herausgehalten worden, und weder ein vetofreier noch ein um Repräsentanten aus Asien, Afrika und Lateinamerika mit Veto­recht erweiterter Sicherheitsrat hätte diese Kriege verhindern können. Derartige Kon­struktionen beflügeln zwar immer wieder die Phantasien von Friedensforschern und Philosophen, scheitern aber an der Realität der Großmächte, die weder auf ihr Veto­recht verzichten noch es auf weitere Staaten erstrecken werden. Denn das Scheitern der UNO in Kriegszeiten ist nicht ein Problem ihrer Konstruktion, sondern der militarisierten Kultur und imperialistischen Interessen ihrer Staaten.

Der Kompromiss von Jalta, der es Churchill erlaubte, die britischen Kolonien aus der Treuhandschaft der UNO herauszuhalten, zeigte deutlich, dass der Kolonialismus den Großmächten bei ihren gesamten Verhandlungen kein Problem war. Schon zwei Jahre nach ihrer Gründung teilte die UNO 1947 Palästina in zwei Teile und enteignete die palästinensischen Bewohner, ohne sie befragt zu haben, um Zweidrittel ihres Heimat­landes – ein Akt des offenen Kolonialismus. Der im März 1947 gegründete Treuhandrat (Art. 87 UNO-Charta) war eher zur Verwaltung als zur Beendigung kolonialen Besitzes eingerichtet worden. Mit der Unabhängigkeit Palaus, des letzten Treuhandgebietes, hat der Treuhandrat 1994 seine Arbeit suspendiert und sucht nach neuen Aufgaben. Aus den Kolonialkämpfen der sechziger und siebziger Jahre wurde er herausgehalten und spielt auch bei den gegenwärtigen Kämpfen, z.B. in der Westsahara oder Palästina/ Gaza, keine Rolle. Rechtliche Grundlage der Befreiungskämpfe ist das Recht auf Selbst­bestimmung (Art. 1 Abs. 2 UNO-Charta) geworden, welches durch die zunehmende Zahl junger Staaten in der Generalversammlung zu einem zwingenden Recht (ius cogens) gegen den Widerstand der alten Kolonialmächte ausgebaut werden konnte.

Auch dieses Beispiel zeigt, dass die Wirksamkeit der UNO und ihrer Institutionen sowie die Chancen ihrer Veränderung von der Stärke der Völker und ihrer Staaten abhängen, sich gegen die Großmächte durchzusetzen. 

 

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