70 Jahre UNO-Charta
Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg
Jedes Gespräch über die UNO und ihre Charta ist 70 Jahre nach ihrer Entstehung mehr von Kritik und Skepsis als von Anerkennung und Optimismus geprägt. Angesichts der Kriege im Mittleren Osten und Afrika, aber auch der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen der VR China und ihren Nachbarn, vor allen den USA, mehren sich die Zweifel, ob die Charta überhaupt noch ihre Hauptziele erreichen kann, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, ... freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln ...« (Art. 1 UN-Charta). Überholt, verbraucht? Zu unmodern? Oder schlicht eine Fehlkonstruktion?
Vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen
Werfen wir einen kurzen Blick auf ihre Entstehung. Dass es die UNO mit ihrer Charta überhaupt gibt, verdankt sie ausgerechnet den US-Amerikanern, die in den vergangenen Jahren am schärfsten mit ihr Schlitten gefahren sind. 1939 hatte das Deutsche Reich mit seinem Angriff auf Polen dem ersten Versuch eines kollektiven Sicherheitssystems, dem Völkerbund, nach kaum 20-jähriger ruhmloser Geschichte den endgültigen Todesstoß versetzt. Da war es schon erstaunlich, dass die Bemühungen um eine friedliche Nachkriegsordnung wieder in einem vergleichbaren System kollektiver Sicherheit mündeten. Sie nahmen ihren Ausgangspunkt in Neufundland, wohin Roosevelt seinen Kollegen Churchill im Jahre 1941 noch vor dem Kriegseintritt der USA eingeladen hatte, um mit ihm gemeinsam über eine zukünftige Friedensordnung zu sprechen. Churchill stellte sich eine effektive internationale Organisation nach dem Vorbild des Völkerbundes vor. Roosevelt hingegen wollte davon zunächst nichts wissen, da er den Garanten eines zukünftigen Friedens in starken britisch-amerikanischen Streitkräften sah. Die beiden Regierungschefs einigten sich am 14. August auf eine Abschlusserklärung, die wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung als Atlantik-Charta in die Geschichte einging. In ihr hatten sie sich auf die Freiheit des Welthandels und den freien Zugang zu allen Rohstoffen geeinigt und zunächst ganz allgemein von einer »umfassenderen und ständigen Organisation für die allgemeine Sicherheit« gesprochen, der allerdings eine Entwaffnung der Aggressionsmächte vorausgehen müsste.
Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour war Roosevelt dann auch bereit, die Sowjetunion in die Allianz mit aufzunehmen. Gemeinsam mit Churchill skizzierte er eine »Erklärung der Vereinten Nationen«, die am 1. Januar 1942 von 26 Nationen einschließlich der Sowjetunion unterzeichnet wurde. Ihr schlossen sich bis 1945 21 weitere Staaten an. Frankreich gehörte nicht zu diesem Kreis, da die Vichy-Regierung seit dem Waffenstillstand von 1940 mit Deutschland als Kollaborateur sich selbst ausgeschlossen hatte. Hingegen akzeptierte Roosevelt den Vorschlag Moskaus, auch China in die engere Allianz mit aufzunehmen. Das führte dann auf den beiden Konferenzen von Moskau und Teheran im Oktober und November 1943 dazu, dass zu ihnen auch der Botschafter der Republik China eingeladen wurde. Die amerikanische Administration machte sich an die Skizzierung eines Organisationsmodells.
Vor allem sollten die negativen Erfahrungen vermieden werden, die man mit dem Völkerbund gemacht hatte. So sollte es die Überstimmung einer der Großmächte im Exekutivausschuss, dem späteren Sicherheitsrat, nicht geben, so dass für die privilegierten Mitglieder das Einstimmigkeitsprinzip zu gelten hatte. Der Vorschlag allerdings, der schon zur Zeit des Völkerbundes gemacht worden war, dass jene Mitglieder sich der Stimme zu enthalten haben, die an dem Konflikt beteiligt sind, wurde nicht übernommen. Die zentrale Frage war die der Durchsetzung der Entscheidungen, an der nach Ansicht des State Departments der Völkerbund gescheitert war. Die Alternativen sahen einmal die Möglichkeit vor, nationale Truppenkontingente unter dem Kommando des Exekutivausschusses zusammenzufassen und bei Sanktionen einzusetzen, zum anderen die Aufstellung einer permanenten internationalen Polizeitruppe zur Verfügung des Ausschusses. Da die zweite Variante zu große politische und völkerrechtliche Probleme aufwarf, wurde sie zugunsten der ersten bald fallen gelassen.
Die Vorschläge wurden 1943 im sog. Outline-Plan zusammengefasst. Er enthält die wesentlichen Elemente der späteren UNO-Charta: einen mit weitgehenden Entscheidungs- und Exekutivkompetenzen ausgestatteten Exekutivausschuss aus ständigen und nichtständigen Mitgliedern und eine schwächere im wesentlichen auf Empfehlungen verwiesene Generalversammlung. Der neue Internationale Gerichtshof (IGH) wurde ebenso durch das Souveränitätsprinzip begrenzt wie der alte Ständige Gerichtshof des Völkerbundes. D.h. die Unterwerfung unter seine Gerichtsbarkeit sollte nicht automatisch mit dem Eintritt in die neue Organisation, sondern nur durch gesonderte Erklärung erfolgen. Es gibt heute erst 71 solcher Erklärungen. Deutschland hat sich erst 2008 zu einer solchen Erklärung entschließen können. Die USA zogen 1986 ihre Erklärung zurück, nachdem sie in einem Rechtsstreit mit Nikaragua wegen schwerer Völkerrechtsverstöße verurteilt worden waren.
Die Kompromisse von Jalta
Der Outline-Plan war Grundlage der Konferenz von Dumbarton Oaks in der Nähe Washingtons, wo von August bis Anfang September 1944 die Experten der vier Mächte einen Entwurf für die Statuten der neuen Organisation erarbeiteten. Über etliche Probleme gab es keine Einigung. So über den Wunsch der Sowjetunion, alle ihre sechzehn Unionsrepubliken in die Organisation aufzunehmen – sie befürchteten eine hoffnungslose Unterlegenheit in der neuen Organisation wie schon im Völkerbund. Nicht akzeptiert wurde auf der anderen Seite der erneut vorgebrachte Wunsch der Briten und Amerikaner, das Vetorecht für die ständigen Ratsmitglieder einzuschränken, die selbst an einem Konflikt beteiligt sind. Die Experten der Sowjetunion wie der Briten verschlossen sich ferner dem Wunsch, die Menschenrechte in der Satzung zu verankern – über die sozialen und ökonomischen Rechte könne man doch keine Einigkeit erzielen und Churchill wollte sie im Hinblick auf das Commonwealth nicht in die Satzung aufgenommen haben.
Die Gipfelkonferenz von Jalta im Februar 1945 brachte dann wesentliche Kompromisse. Die Westmächte akzeptierten zwei Unionsrepubliken, Weißrussland und Ukraine, als selbständige Mitglieder mit vollem Stimmrecht, und Stalin gab bei der Abstimmungsmodalität im Sicherheitsrat nach. Diese Frage war für die Sowjets von größter Bedeutung. Stalin befürchtete, dass spätere Generationen nicht mehr aus persönlichem Erleben wissen, was sie in diesem Krieg durchgemacht hätten. »Wir alle«, erklärte er, »wollen aber den Frieden auf mindestens fünfzig Jahre hinaus sichern. Die größte Gefahr liegt in einem Konflikt zwischen uns selber; wenn wir einig bleiben, wiegt die deutsche Gefahr nicht schwer. Deshalb müssen wir jetzt überlegen, wie wir diese Einigkeit auch in Zukunft sichern können und welche Garantien nötig sind, damit die drei Großmächte (und vielleicht auch China und Frankreich) eine gemeinsame Front aufrechterhalten. Es muss ein System ausgearbeitet werden, das Konflikte unter den führenden Großmächten verhindert.« Stalin fürchtete vor allem, dass sich die alten Kriegsverbündeten, insbesondere die Briten und Franzosen, alsbald gegen die Sowjetunion verbünden könnten, um sie, wie es ihnen im Völkerbund gelungen war, aus den Vereinten Nationen auszuschließen. So entstand das Veto im Sicherheitsrat, eine der umstrittensten Vorschriften des Sicherheitsrats, mit je nach Standpunkt fatalen oder auch segensreichen Folgen.
Kam man Stalin in dieser Frage entgegen, so akzeptierte er Churchills Wunsch, die britischen Kolonien nicht unter die Treuhandschaft der UNO zu stellen. Frankreich wurde schließlich als fünfter Staat in den Kreis der privilegierten Großmächte aufgenommen. Und wie in Jalta beschlossen, wurde die Satzung mit ihren Kompromissen auf der abschließenden Konferenz der 50 Staaten der »Atlantik-Charta« in San Franzisco akzeptiert und am 26. Juni 1945 als Charta der Vereinten Nationen verabschiedet. Sie trat am 24. Oktober 1945 in Kraft, nachdem die jetzt fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats und die Mehrheit der Unterzeichnerstaaten ihre Ratifikationen hinterlegt hatten. Ein Jahr später, im Dezember 1946, beschloss die Generalversammlung, das Angebot der USA anzunehmen und den Sitz der Vereinten Nationen in New York zu errichten.
Das Versprechen ihrer Existenz, »kommende Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren«, hat die UNO mit ihrer Charta bisher nicht einlösen können. Weder ihre Rolle im zweiten Golfkrieg gegen den Irak noch ihr Versagen beim Völkermord in Ruanda oder ihre Ausmanövrierung durch die NATO im Krieg gegen Jugoslawien und ihr Missbrauch bei der Zerstörung Libyens deuten auf eine friedlichere Zukunft. Schwer wird an dem absoluten Gewaltverbot des Art. 2 Ziffer 4 gerüttelt, um den eigenen Interessen militärisch mehr Nachdruck verleihen zu können. Doch noch hält der Rahmen und selbst eine neu kreierte Schutzverantwortung (responsibility to protect) hat ihn bisher nicht sprengen können. Eine Alternative gibt es nicht und an Reformvorstellungen ist kein Mangel. Sie lagen zum Teil schon bei der Gründung auf dem Tisch. Es fehlt aber am Willen der Großmächte, an ihren Privilegien und ihrer Souveränität Abstriche hinzunehmen, sich selbst den Regeln eines kollektiven Sicherheitssystems zu unterwerfen und ihre imperialen Ambitionen zu zügeln. Und das ist das zentrale Problem der UNO und ihrer Charta.
Norman Paech lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 als Professor für Politische Wissenschaft und für öffentliches Recht in Hamburg, er war Mitglied des 16. Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.
Mehr von Norman Paech in den »Mitteilungen«:
2014-04: Völkermord in Ruanda – 6. April 1994
2013-10: Warum sollen Deutsche töten und sterben?
2012-10: »Responsibility to protect«