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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

70 Jahre nach dem Aufstand im »Zigeunerlager« von Auschwitz

Ulla Jelpke, Berlin

 

Vor 70 Jahren kam es zu einem Aufstand im so genannten »Zigeunerlager« in Auschwitz. So konnten die Häftlinge zunächst die Liquidation ihres Lagers hinauszögern. Auch nach der Niederlage des deutschen Faschismus waren sie Anfeindungen und polizeilicher Diskriminierung ausgesetzt. Die Folgen von NS-Verfolgung und Diskriminierung belasten Sinti und Roma bis heute.

Innerhalb des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gab es einen eigenen Block (B IIe) für die Unterbringung der als »Zigeuner« dorthin deportierten Menschen. Am 15. Mai 1944 beschloss die Leitung des Konzentrationslagers, diesen als »Zigeunerlager« bezeichneten Block zu räumen. Die zu diesem Zeitpunkt 6.000 Insassen sollten vergast werden. Doch es kam zu Widerstand: die dort zusammengepferchten Menschen weigerten sich, ihre Baracken zu verlassen, und erwarteten die SS-Männer mit improvisierten Hieb- und Stichwaffen. Das Unerwartete geschah: die SS zog wieder ab.

Doch dieser mit viel Mut erkämpfte Erfolg währte nicht lang. In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurde das »Zigeunerlager« dann endgültig liquidiert. Die Zahl der als »Zigeuner« klassifizierten Menschen, die in Auschwitz durch Arbeit, durch die allgemeinen Lebensumstände, die alltägliche Gewalt der SS, durch grausame Menschenexperimente, infolge von Sterilisation mit ätzenden Flüssigkeiten oder Röntgenstrahlen und schließlich durch Zyklon B umgebracht wurden, wird auf 19.300 geschätzt. Etwa 22.600 Häftlinge waren als »Zigeuner« registriert. Die Gesamtzahl der während des in der Sprache Romanes als »Porajmos« bezeichneten Völkermordes an den europäischen Roma wird auf eine halbe Million geschätzt.

Der »Auschwitz-Erlass« vom 16. Dezember 1942, mit dem der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler die Einrichtung des »Zigeunerlagers« und die Deportation der noch im Reich verbliebenen etwa 16.000 Sinti und Roma anordnete, war der logische Schlusspunkt einer fortschreitenden Entrechtung dieser Bevölkerungsgruppe. Ebenso wie die deutschen Juden wurden sie zunächst aus zahlreichen Berufsständen verstoßen. Sie erhielten sogenannte Zigeunerausweise (gelb mit schwarzem »Z«). Dann wurden ihnen jegliche Bildungseinrichtungen versperrt. Schließlich wurden sie1941 auch aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Etwa 30.000 deutsche Sinti und Roma waren 1938 durch die »Rassenhygienische Forschungsstelle« zentral erfasst worden; dies lieferte eine wichtige Grundlage für ihre Deportation.

Die »Zigeunerpolitik« des deutschen Faschismus knüpfte dabei an zahlreiche gegen die Sinti und Roma in der Weimarer Republik gerichtete Maßnahmen an, die sich gegen die »Zigeunerplage« oder das »Landfahrerunwesen« richteten. Diese tief verwurzelte Tradition des Antiziganismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft erklärt auch, warum die überlebenden Sinti und Roma nach 1945 bei ihrer Rückkehr an ihre Wohnorte in den Worten des Historikers Gilad Margalit »keinerlei Anteilnahme oder Sympathie« erfuhren (Margalit, Gilad: die deutsche Zigeunerpolitik nach 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 45 (1997), S. 560). Die meisten Überlebenden des Völkermordes besaßen durch die Besatzungsbehörden ausgestellte Verfolgtenausweise und erhielten auch die deutsche Staatsangehörigkeit zurück. Das schützte sie aber nicht davor, wieder Objekte ordnungspolizeilicher Maßnahmen zu werden. Im hessischen Marburg kam es sogar zu vereinzelten Ausweisungen. In Bayern griffen die Behörden auf ein »Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen« aus dem Jahr 1926 zurück, das von der amerikanischen Militäradministration aus formaljuristischen Gründen dann aber doch für ungültig erklärt wurde.

Überhaupt war Bayern sinnbildlich für die Kontinuität antiziganistischer Maßnahmen durch die Polizei. Bereits 1899 war dort in der Münchener Polizeidirektion eine »Nachrichtenstelle über Zigeuner« eingerichtet worden, an der sich in der Weimarer Republik auch alle anderen Polizeidirektionen beteiligten und so die reichsweite Erfassung derjenigen ermöglichte, die als »Zigeuner« galten. Leiter der in der Kriminalpolizei München nach 1945 wieder zuständigen Abteilung war Josef Eichberger, der zuvor maßgeblich an den Deportationen der Sinti und Roma mitgewirkt hatte. Auch an anderen Stellen, vor allem im Bundeskriminalamt, konnten »Zigeunerspezialisten« ihre Tätigkeit zur Erfassung und Überwachung von Sinti und Roma fortsetzen. Weil es - außer in Bayern, das sich eine erst 1970 wieder abgeschaffte »Landfahrerordnung« gab -nirgendwo politische Mehrheiten für eine Restitution der »Zigeunergesetzgebung« gab, verlegte sich die Polizei darauf, allgemeine polizeiliche Befugnisse speziell gegen Sinti und Roma zu richten. So gab es in einigen Landespolizeien »Merkblätter für die Bekämpfung des Landfahrerunwesens«. Dabei ging es unter anderem darum, die deutsche Staatsangehörigkeit jener NS-Verfolgten wiederholt in Frage zu stellen, die sie bereits einmal während des Faschismus verloren hatten. In Nordrhein-Westfalen verloren mutmaßlich hunderte Roma so ihren deutschen Pass. Aufgrund des Staatsangehörigkeitsrechts damaliger Zeit konnten sie selbst ihre in Deutschland geborenen Kinder nicht wieder einbürgern lassen.

Besonders bei der Erfassung von »Zigeunern« knüpfte die Polizei an alte Traditionen an. Die »Nachrichtenstelle über Zigeuner« in München konnte zwar nicht mehr die Bedeutung früherer Tage erreichen, allerdings richteten auch andere Landespolizeien etwa in Nordrhein-Westfalen und Hamburg eigene Dateien ein. Die Behörden griffen dabei lange Zeit auch auf ihre Akten aus der NS-Zeit zurück. Der Begriff »Zigeuner« wurde zunächst durch den des »Landfahrers« ersetzt, in den 1980er Jahren setzte sich dann das bürokratische Kürzel HWAO (= häufig wechselnder Aufenthaltsort) durch. Das änderte nichts an der Praxis, über eine Personengruppe Informationen unabhängig von allen Verdachtsmomenten zusammenzutragen und sie in polizeilichen Datenbanken kenntlich zu machen, so als ob die Gruppenzugehörigkeit allein ausreiche, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit anzunehmen. Erst 2001 wurde in Bayern als letztem Bundesland die Möglichkeit abgeschafft, die polizeiliche Datenbank anhand dieses Kürzels zu durchsuchen. Unselige Traditionen im Behördendenken waren es denn auch, die die meisten »Zigeuner« von Entschädigungen für ihre Verfolgung unter den Nazis ausschlossen - als »Landstreicher« oder »Arbeitsscheue« galten sie auch in der BRD als Delinquenten. Auch in der DDR lebten solche Traditionen in der fehlenden Anerkennung der Sinti (und wenigen Roma) als »Opfer des Faschismus« fort, wenn sie im NS als »arbeitsscheu« verfolgt waren und nicht nachweisbar aus »rassischen« Gründen.

Antiziganismus ist bis heute tief in der Bevölkerung verwurzelt. Dies zeigen Zwischenergebnisse einer Studie, die der Vorurteilsforscher Professor Wolfgang Benz im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erstellt und im April 2014 vorgestellt hat. Immerhin 91 Prozent der Befragten sprechen sich demnach für »Integrationsangebote« aus, um das Zusammenleben von Sinti und Roma und der Mehrheitsgesellschaft zu verbessern. Der Blick auf die weiteren Zahlen zeigt aber, dass sich diese hohe Zustimmung keineswegs nur aus einer Perspektive speist, die die soziale Marginalisierung der Sinti und Roma angehen will. Vielmehr lebt hier eine paternalistische Tradition der »Besserung« der Sinti und Roma fort, die mit den Angehörigen dieser Minderheit weiterhin unangepasstes und sozialschädliches Verhalten assoziiert. Denn zugleich schlagen 80 Prozent der Befragten die »Bekämpfung von Leistungsmissbrauch« als Maßnahme für ein gutes Zusammenleben vor. 78 Prozent fordern eine verbesserte »Kriminalitätsbekämpfung«, 70 Prozent wollen ein »Eingreifen der Jugendämter«. Sinti und Roma gelten den meisten Deutschen also per se als Kriminelle und Sozialbetrüger, die ihre Kinder verwahrlosen lassen. Wie stark mit der Gruppe der Sinti und Roma vor allem die so genannten Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien assoziiert werden, zeigt die Zustimmung der Hälfte der Befragten zum Vorschlag nach »Einreisebeschränkungen« und von 22 Prozent zur »Abschiebung«. 14 Prozent sprechen sich für eine »gesonderte Unterbringung« aus, also die Ghettoisierung in abgetrennten Wohngebieten. Zugleich wissen 19 Prozent nichts über die Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Sogar 32 Prozent der 25- bis 34-Jährigen ist darüber nichts bekannt.

Eine ältere Erhebung aus dem Jahr 1994 hatte zum Ergebnis, dass 63,9 Prozent der Befragten Sinti und Roma »lieber nicht« als Nachbarn haben wollten. Umgekehrt zeigte eine nicht repräsentative Umfrage unter deutschen Sinti und Roma von 2006, dass sie zu 76 Prozent bei der Arbeit, von Nachbarn, in Gaststätten und an anderen Orten schon Opfer von Diskriminierung geworden waren. Das Bekanntwerden einer Zugehörigkeit zur Guppe der Sinti oder Roma kann die Arbeitsstelle oder den Ausbildungsplatz kosten. Vereinzelt urteilen Gerichte immer noch, dass Vermieter Sinti oder Roma als Mieter nicht akzeptieren müssen, weil diese Gruppe »traditionsgemäß überwiegend nicht seßhaft (ist) und … aus Vermietersicht daher offensichtlich nicht zu den durchschnittlich geeigneten Mietern (gehört) (…).« (zit. n. End, Markus: Gutachten Antiziganismus. Zum Stand der Forschung und Gegenstrategien, Marburg 2013)

Im Jahr 2011 legte die Organisation RomnoKher, gefördert durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, eine Studie zur Bildungssituation von Sinti vor. Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt fast 40 Prozent der Befragten über 50 Jahre keine Schule besucht, und immerhin noch 9,4 Prozent der 14- bis 25-Jährigen. Im Bevölkerungsdurchschnitt liegt dieser Wert bei nicht einmal 1 Prozent. Während im Schnitt 24,4 Prozent der Bevölkerung eine Hochschulreife besitzen, waren es unter den Befragten 2,3 Prozent (6 von 261). Erschreckend ist, wie sich in der Bildungsferne von (in diesem Fall) Sinti-Familien die Folgen der NS-Rassepolitik fortsetzen: wo die Großeltern während des NS die Schule nicht mehr besuchen konnten, blieb auch die heutige Elterngeneration der Schule fern und kann ihre Kinder nun nicht bei ihrem Schulbesuch unterstützen. Selbst in der dritten Generation sind noch Traumata durch Verfolgung und das Überleben der Vernichtung spürbar, die sich unter anderem in einem hohen Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen ausdrücken. Von vielen Medien wird diese Abschottung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft aber weiterhin als wesensgemäße Eigenheit der Roma dargestellt.

Die Abwehrhaltung gegenüber Sinti und Roma findet ihren Ausdruck in der rigiden Abschiebepolitik, mit der Roma auch nach vielen Jahren in Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden. Antiziganistische Motive spielten schon Anfang der 90er Jahre eine Rolle bei der Diffamierung von Asylsuchenden als »Sozialschmarotzer« und »Armutsflüchtlinge«. Die damals geschaffene Regelung, nach der Asylsuchende aus »sicheren Herkunftsstaaten« in Schnellverfahren abgelehnt und abgeschoben werden können, soll nun auch auf Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina angewendet werden. Hauptleidtragende sind auch hier Roma, die bis zu 90 Prozent der Asylsuchenden aus diesen Ländern ausmachen. Damit wird ihre massive und lebensbedrohliche Diskriminierung in diesen Staaten geleugnet.

Bis zu einer Überwindung von Antiziganismus und einer erfolgreichen Gleichstellung von Sinti und Roma ist es also noch ein weiter Weg.

 

Mehr von Ulla Jelpke in den »Mitteilungen«: 

2013-11: Kampf gegen Rassismus auf allen Ebenen

2012-03: Geist der Fremdenpolizei

2011-08: Abschiebehaft macht krank