60 Jahre Godesberg
Prof. Dr. Heinz Niemann, Bergfelde
Die absolute Mehrheit der Delegierten des Parteitages im idyllischen Bad Godesberg wähnten ihre Partei endlich angekommen auf dem Gipfel des Berges. Und der Regierungssitz lag gleich in der Nähe. Bonn war fußläufig in einer halben Stunde zu erreichen. Nur ganz wenige warnten, man habe »endgültig« einen unverzichtbaren Kompass verloren: Die marxistische Gesellschaftstheorie. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass dieser »endgültige« Bruch schon 20 Jahre zuvor erfolgte. Das Godesberger Programm [1] knüpfte an eine 1939 erschienene Programmschrift von Curt Geyer an, vom Exilvorstand SOPADE und insbesondere Rudolf Hilferding als programmatische Kundgebung begrüßt und gebilligt: die Schrift »Partei der Freiheit«. Sie ist der eigentliche Wendepunkt vom traditionellen sozialdemokratischen Reformismus zur liberalistischen Phrase des »demokratischen Sozialismus« der Nachkriegszeit. Diese Schrift stieß damals bei den linken Gruppen auf deutlich heftigere Kritik als das Godesberger Programm. Das Vorstandsmitglied Paul Hertz erklärte als Vertreter von NEU BEGINNEN, diese Schrift bedeute den Abfall von der Idee und der Tradition der Sozialdemokratie. »Deutlicher, als jede Kritik es kann, zieht diese Schrift die Bilanz der Entwicklung, für die Ihr Euch entschiedet … Wer sich die Sozialdemokratie nur noch als unselbständiges Anhängsel des bürgerlichen Liberalismus vorstellen kann, ... der hat nicht irgendeine orthodoxe Doktrin preisgegeben, sondern die lebendige Tradition der selbständigen Arbeiterklasse überhaupt.«
Zu den Grundwerten
Die offizielle Wende allerdings brachte als Konsequenz aus der erneuten Niederlage bei den Bundestagswahlen 1957 erst das Godesberger Programm von 1959. Es musste auf die Herausforderungen der zweiten industriellen Revolution und eine drohende Atombewaffnung antworten, wollte den verbal als Ziel beibehaltenen Demokratischen Sozialismus in seiner ausschließlich ethischen Begründung erneuern und die Reste der marxistischen Linken entscheidend zurückdrängen.
Das Programm verzichtete auf eine Zeitanalyse und formulierte lediglich einen – sprachästhetisch hymnischen – Vorspann, um dann mit den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu beginnen, denen es eine rein gesinnungsethische Begründung gab und den demokratischen Sozialismus als »dauernde Aufgabe« beschrieb. Die SPD wurde von jeglichem Verdacht eines revolutionären Umbruchs befreit. Die behauptete weltanschauliche Offenheit für verschiedene Glaubenshaltungen ging aber nicht so weit, auch eine historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse in der Tradition von Marx zu erlauben. Der Wille, sich zur »Volkspartei« zu wandeln, da die Klassengesellschaft sich auflöse, die Anerkennung des freien Marktesals unverzichtbares Steuerungsmittel der Wirtschaft und ganz am Schluss auch die Anerkennung der Gestaltungsaufgabe des Staates bei soviel wie möglicher Marktentfaltung und für so wenig wie nötiger Lenkung, das alles sollte endgültig sein. Es bekannte sich zur Wiedervereinigung Deutschlands, d.h. der Einbeziehung der DDR in das vorher begründete Bekenntnis zur BRD-Gesellschaft und dem westlichen Bündnis; beklagt wurde die Macht der großen Konzerne, deren wirtschaftliche Macht zu politischer Macht werde. Bestehende Ungerechtigkeiten seien mit politischen Mitteln auszugleichen, die Vorrechte der herrschenden Klassen zu beseitigen, um allen Menschen Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu bringen – »das war und das ist der Sinn des Sozialismus.« Eine bereits auf Landesebene praktizierte Politik sollte programmatisch legitimiert, dem Alltagspragmatismus eine »höhere Weihe« verliehen werden.
Zwar gab es auch nach Verabschiedung des Programms (bei 16 Gegenstimmen) weiterhin Kritik und kam es zu linken Abspaltungen und einzelnen Austritten, aber die raue Wirklichkeit des Systemkampfes und die – entsprechend mediengerecht vergröberten – Defizite des ostdeutschen und osteuropäischen frühsozialistischen Versuchs, der sich viel zu langsam und inkonsequent von seinen stalinistischen Verkrustungen zu befreien versuchte, ließen die Ansätze zur Bildung einer alternativen, konsequent linken sozialistischen Partei scheitern. [2] Der SPD gelang es, sich als die Partei darzustellen, offen für alle, die sich zu den Grundwerten des demokratischen Sozialismus bekennen würden und ihn als Alternative zum Osten verstanden.
Erfüllter Hauptzweck
Zugleich wurde zehn Jahre später der Hauptzweck des Godesberger Programms, parlamentarisch so zu erstarken, um Regierungspartei zu werden, erfüllt: 1966 erst mal nur Koalitionspartner der CDU/CSU mit dem Altnazi Kiesinger als Kanzler, mit Willy Brandt als sozialdemokratischen Außenminister und Vize-Kanzler, der 1969 dann mit knapper Mehrheit zum Kanzler und 1972 sogar zum strahlenden Wahlsieger wurde. Bei einer einmalig hohen Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent erhielt die SPD 45,8 Prozent. Der Einstieg als Staatspartei mit einem SPD-Kanzler war glänzend gelungen.
Der von linken Kritikern nachgewiesene Verzicht auf das Ziel einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft erschien dafür als verschmerzbarer Preis, zumal eine ganze Reihe progressiver Reformen auf den Weg gebracht wurde.
Kurzzeitiges Aufleben
Als Strategie einer Partei, deren wichtigstes Ziel es ist, zur regierenden Staatspartei zu werden, schien sich das Godesberger Programm also bewährt zu haben. Die zum langen »sozialdemokratischen Jahrzehnt« erklärten Jahre von 1969 bis 1982 mit zwei SPD-Kanzlern wurden jedoch nicht zum Beginn eines »sozialdemokratischen Jahrhunderts«, sondern – dem kompasslosen verirrten Bergwanderer gleich – zum Beginn des Abstiegs in das heutige Jammertal. [3] Auch in der Programmgeschichte widerspiegelte sich, dass eine neue Generation von Funktionären mit nur noch losen Bindungen an die Geschichte und traditionelle Kultur und Politik der SPD in Führungspositionen aufgerückt war. Nach dem Scheitern der Schmidt-Regierung gab es ab Mitte der 80er Jahre einen letzten Versuch für eine erneuerte sozialdemokratische Reformstrategie, die sich am deutlichsten in einem Buch Oskar Lafontaines (Die Gesellschaft der Zukunft. Reformpolitik in einer veränderten Welt – 1988) widerspiegelte. Darin stellte er richtige Fragen, von denen einige von ihm wie dann auch im Berliner Parteiprogramm von 1989 weitgehend richtig beantwortet wurden. Es schien, als lebte der alte Geist der einstigen Arbeiterpartei kurzzeitig auf. Der Programmkommission gehörten neben Lafontaine als geschäftsführendem Vorsitzenden der Marxist Peter von Oertzen, die Gewerkschafter O. Brenner und Franz Steinkühler sowie Erhard Eppler und Willy Brandt an. Es wurde mit nur drei Gegenstimmen und einer Enthaltung angenommen. Es knüpfte an das Godesberger Programm an, zeichnete sich aber dadurch aus, dass es die Grundwerte »Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität« sozial einband und sie an konkrete Realisierungsbedingungen knüpfte. Die marxistische Denktradition wurde wieder mit genannt und die Idee der Wirtschaftsdemokratie als Transformationsprojekt gründlich definiert. Gemeinsam war beiden Programmen eine klare Haltung in der Friedensfrage, die mit Abrüstung und europäischer Vereinigung verbunden werden sollte. Im Berliner Programm hieß es: »Unser Ziel ist die gesamteuropäische Friedensordnung auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheit, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der Achtung der Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa. […] Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen.«
Von geradezu historischer Bedeutung und Aktualität lesen sich Sätze aus dem Godesberger Programm wie: »Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Einbeziehung Deutschlands in eine europäische Zone der Entspannung und der kontrollierten Begrenzung der Rüstung, die im Zuge der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit von fremden Truppen geräumt wird und in der Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen weder hergestellt noch gelagert oder verwendet werden dürfen.«
Alles dies ging im Vereinigungsstrudel unter. Man ließ es schnell »im Giftschrank verschwinden« (Andrea Ypsilanti).
Angesichts der Existenzkrise der SPD ist es stark zu bezweifeln, dass unverzichtbare traditionelle Forderungen und die Vision der Sozialen Demokratie zukünftig noch eine glaubwürdige Verfechterin in dieser SPD haben werden! 2009 wurde das Godesberger Programm noch als historischer Wendepunkt der Nachkriegssozialdemokratie gefeiert. Wenn man dabei bleibt, wird man die wahren Ursachen nicht erkennen, warum nicht nur die SPD in der Konsequenz dieser Wende erneut in einem »Ghetto« gelandet ist, sondern auch die Gesellschaft immer ungerechter, undemokratischer wird und der Frieden in Europa nicht sicherer geworden ist.
Lehren
Die letzten 60 Jahre SPD lehren bei etwas gutem Willen: 1. Grundwerte ersetzen keine Theorie, sie bedürfen ihrer. 2. Die programmatische Wende von Godesberg bedeutete letztlich die Preisgabe des Kampfes um die geistige Befreiung der Ausgebeuteten, die Akzeptanz dessen, dass die Ideen der Herrschenden stets auch die herrschenden Ideen sind. Und 3. lehren die bisher vergeblichen Versuche linker Kräfte um eine prinzipielle und tragfähige Neuorientierung auch noch eines: Sie bedürfen sowohl einer theoretischen Fundierung als auch einer existenziellen Parteikrise, um eine realistische Chance zu haben, rechts-opportunistischen Ballast der bisherigen Parteioligarchie abzuwerfen und eine politische und personelle Erneuerung zu erreichen. An der Schwelle jeder Erneuerung haben bisher stets neue Ideen gestanden, nicht nur neue Figuren!
Zwischenüberschriften: Redaktion.
Anmerkungen:
[1] Es wurde am 15. November 1959 vom Parteitag der SPD verabschiedet.
[2] Kritiker waren Wolfgang Abendroth (der einen Gegenentwurf initiiert hatte), Peter von Oertzen, Ossip K. Flechtheim, P. Blachstein, H. Ruhnau, F. Neumann und andere.
[3] Siehe Heinz Niemann: Wann wir streiten Seit‘ an Seit‘. Randglossen zur Krise der SPD und zur Lage der Linken, Verlag am Park/edition ost, Berlin 2019.
Mehr von Heinz Niemann in den »Mitteilungen«:
2014-08: Der Weg der SPD in den Krieg