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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

60 Jahre Auschwitz-Prozess

Ralph Dobrawa, Gotha

 

Mit der Verfolgung von Nazigewaltverbrechen hat sich die Bundesrepublik in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz sehr schwergetan. Besonders in den 1950er Jahren war die Unlust einer juristischen Aufarbeitung sehr ausgeprägt. Begünstigt wurde dies zweifellos dadurch, dass zahlreiche Nazijuristen wieder in den Dienst der bundesdeutschen Recht­sprechung übernommen worden waren, die nicht selten an der Schaffung von Unrecht während der Zeit des Faschismus beteiligt gewesen sind. Als der spätere Hessische Gene­ralstaatsanwalt Fritz Bauer aus der Emigration nach Deutschland zurückkehrte, nahm er an, auf ein aufklärungswilliges Volk zu stoßen und musste alsbald mit Enttäuschung fest­stellen, dass das Gegenteil der Fall war. Auch in der Öffentlichkeit gab es wenig Resonanz, über Verbrechen in den Konzentrationslagern, Gestapo-Dienststellen und anderen Mords­tätten zu sprechen. Dieses eisige Schweigen wirkte bedrohlich für jeden, der sich für eine Verfolgung der begangenen Verbrechen einsetzte. Er erlebte nicht selten Hass und vor allem heftige Gegenwehr. Zahlreiche bekannte und noch lebende Nazigrößen, die nicht im Nürnberger Prozess vor Gericht gestellt worden waren, setzten sich über die sogenannte »Rattenlinie« ins Ausland ab, um etwaigen Gefahren einer Strafverfolgung zu entgehen. Dort fühlten sie sich sicher vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden und mussten in der Regel nicht mit einer Auslieferung rechnen. Zu ihnen gehörte auch Adolf Eichmann, der Spediteur des Todes, an dessen Ergreifung Fritz Bauer ein besonderes Interesse und – wie erst Jahre nach seinem Tod bekannt wurde – auch seinen Anteil hatte, so dass Eichmann 1961 in Israel vor Gericht gestellt und ein Jahr später verurteilt wurde. Ebenso war es Fritz Bauer, der dafür sorgte, dass die Widerstandskämpfer um Stauffenberg nicht straflos als Verräter diffamiert werden durften. Sein besonderes Verdienst liegt aber darin, dass es zum Auschwitz-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt/Main kam. Als sich die Gelegenheit einer Strafverfolgung von verantwortlichen Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und anderem SS-Personal, das in dem früheren Konzentrationslager »Dienst« tat, bot, nutzte er diese Chance, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Anlass dafür bot ihm eine Strafanzeige, die 1958 erstattet wurde und ein Jahr später durch von einem Journalisten übermittelte Unterlagen mit einer Erschießungsliste ergänzt wurde, die zu weiteren Tatverdächtigen führte.

Alltägliches Morden

Die eingeleiteten Vorermittlungen dauerten etwa fünf Jahre und bestanden hauptsächlich in der Vernehmung von zahlreichen Zeugen, die die Gräuel von Auschwitz überlebt hatten und über die schrecklichen Ereignisse berichten konnten. Bei den Ermittlungen hatte sich Bauer zunächst auf zwei jüngere Staatsanwälte ohne Nazibelastung stützen können und einen Ermittlungsrichter, der im Herzen Antifaschist war und Bauers Beweggründe sehr gut verstehen konnte. Er hieß Heinz Düx, nahm diese Aufgabe mit großer Gründlichkeit wahr und sorgte auf diese Weise dafür, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main im Früh­jahr 1963 Anklage gegen 24 ehemalige SS-Angehörige erheben konnte. Darunter befanden sich auch der ehemalige Adjutant des Lagerkommandanten Höß, sowie der des früheren Lagerkommandanten Baer. Letztlich standen bei Prozesseröffnung am 20. Dezember 1963 allerdings nur 22 Angeklagte vor Gericht. Der frühere letzte Kommandant des Konzentra­tionslagers Auschwitz Richard Baer war in der Untersuchungshaft verstorben. Bezüglich eines weiteren Angeklagten wurde aus Krankheitsgründen eine Abtrennung des Verfah­rens vorgenommen. Die Angeklagten bestritten entweder ihre Tatbeteiligung, versuchten ihre »Tätigkeit« in Auschwitz zu beschönigen oder beriefen sich auf einen Befehlsnotstand. Das Gericht war bei der Beweisaufnahme maßgeblich auf die Aussagen von über 300 Zeu­gen angewiesen, die aus vielen europäischen Ländern zum Prozess anreisten und dort ihre Erlebnisse schilderten. Die damit verbundenen persönlichen psychischen Belastungen, sich an all die Geschehnisse erinnern zu müssen, kann man nur erahnen. Die Schilderun­gen der Zeugen führten aber auch bei vielen der zahlreich im Gerichtssaal anwesenden Journalisten zu nicht unerheblichen Beeinträchtigungen ihres Wohlbefindens. Die jüdische Journalistin Inge Deutschkrohn, selbst Überlebende des Holocaust, sprach später davon, dass man sich unter den Journalisten habe abends »besaufen« müssen, um das im Gerichtssaal von den Zeugen Geschilderte verarbeiten zu können.

So berichtete der tschechische Zeuge Rudolf Gibian auf die Frage des Vorsitzenden, wie eine Selektion der an der Rampe des KZ Auschwitz in geschlossenen Eisenbahnwaggons angekommenen jüdischen Menschen abgelaufen sei und wie lange sie dauerte: »Also die Selektionen. Manchmal dauerte es Stunden, bis nach der Einfahrt des Zuges, der durch­schnittlich 1.500-2.000 Menschen jeden Alters in das Vernichtungslager brachte, die ›Rampe‹ geräumt war von den vielen, die in die Gasbunker getrieben wurden, und den wenigen, die zur Sklavenarbeit ins Lager marschierten. Denn mit der Auswahl der Opfer durfte erst begonnen werden, wenn die SS-Prominenz vollständig auf der Rampe versam­melt war. Bis dahin blieben die Güterwagen verschlossen. Wurde endlich der Befehl erteilt, die Waggons zu öffnen, dann müsste alles in Windeseile geschehen. Die Angekommenen, durch Hunger und Durst nach der manchmal wochenlangen Fahrt völlig erschöpft, in wür­gender Angst vor dem, was ihnen bevorstand, wurden von brüllenden SS-Leuten mit Schlä­gen aus den Viehwagen getrieben. Frauen und Kinder mussten sich auf der einen Seite der Rampe aufstellen, die Männer auf der anderen Seite. Dann hatten zunächst die Frauen mit den Kindern an den SS-Mördern vorbeizugehen, die sie nach links in den Tod oder nach rechts in das Lager wiesen. Danach kamen die Männer an die Reihe.«1

Im Weiteren schildert er, wie eines Tages seine Mutter an der Rampe von Auschwitz ankam und er alles unternahm, um ihr Leben zu retten. Der Angeklagte Dr. Lucas, den er flehent­lich darum bat, versprach ihm das auch. Trotzdem wurde sie später hinter einer Baracke erschossen. Die tiefe Erschütterung bei vielen Prozessbeobachtern über die Schilderung des Zeugen ist mehr als nachvollziehbar. Der spätere polnische Mediziner Professor Fejkiel musste über vier Jahre in Auschwitz zubringen und entschuldigte sich nahezu bei dem Gericht dafür, dass er nicht alle Einzelheiten seiner Erlebnisse mehr schildern konnte. »Sie müssen verstehen, Herr Präsident, für uns war dieses Morden doch nichts Außergewöhnli­ches. Für uns war es alltäglich, sodass wir gar nicht mehr auf jede Einzelheit achteten ... Für uns war ja das Sterben zur Gewohnheit geworden.«2

Eine andere Zeugin, Erna Kraft, berichtet von Tötungen durch Genickschuss, aufgestapel­ten blutverschmierten Leichen und entsetzlichen Mordorgien. Sie selbst wurde mit einer Peitsche vom Angeklagten Boger traktiert und musste furchtbare Schmerzen erleiden.

Feindliches Territorium

Am Prozess wirkten auch drei Vertreter von Nebenklägern mit. Sie vertraten die Interessen von Angehörigen der Opfer und setzten sich für eine gerechte Bestrafung der Angeklagten ein. Zu ihnen gehörte Rechtsanwalt Professor Dr. Friedrich Karl Kaul, der sich für in der DDR ansässige Nebenkläger einsetzte. Er betonte in seinem Schlussvortrag vor allem, dass es sich bei den von den Angeklagten begangenen Verbrechen um keine konventionelle Kri­minalität handelt, sondern um solche, die staatlich gewollt und gefördert worden ist. Kon­sequenterweise verlangte er deshalb auch, dass für die Bestrafung der Angeklagten Völ­kerrecht heranzuziehen ist, da es sich dabei um Verbrechen gegen die Menschlichkeit han­delt. Er verwies insoweit auf Art. 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs (International Military Tribunal – IMT) von Nürnberg vom 8. August 1945, wo die völker­rechtswidrigen Verhaltensweisen beschrieben sind. »1. Die hier strafrechtlich zu werten­den Handlungen der Angeklagten verstoßen gegen Völkerrechtsverbote, die zur Tatzeit existierten. Insoweit erfüllen sie die diese Verbote fixierenden Tatbestände des Artikels 6 des IMT-Statuts. 2. Die Anwendung dieser Normen für die strafrechtliche Bewertung der Handlungsweise der Angeklagten ist für das Schwurgericht zwingend!«3

Das Gericht folgte dieser Auffassung letztlich nicht, wie auch nicht der These, dass es kei­ner »Zerhackstückelung« der Anklagevorwürfe in einzelne Mordhandlungen bedarf, weil jeder, der im KZ Auschwitz als »Rädchen im Getriebe« am Funktionieren des Mordsystems mitwirkte, als Mörder zu bestrafen ist. Diese bereits damals von Kaul vertretene These setzte sich erst im Jahr 2011 durch, als John Demjanjuk durch das Landgericht München II verurteilt wurde, und erfuhr ihre Bestätigung durch den Bundesgerichtshof im Rahmen des Revisionsverfahrens gegen den sogenannten »Buchhalter von Auschwitz« Oskar Gröning.

Die Urteilsverkündung erfolgte am 19. und 20. August 1965. Zu dieser Zeit waren noch 20 Angeklagte im Verfahren. Sechs von ihnen wurden zu lebenslanger Zuchthausstrafe, elf weitere zu Freiheitsstrafen zwischen 3¼ und 14 Jahren verurteilt, darunter ein Angeklagter nach Jugendrecht, weil er zur Tatzeit noch unter 21 Jahre alt war. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Einer der Verurteilten wurde späterhin im Wege der Revision durch den Bundesgerichtshof ebenfalls freigesprochen.

Der Prozess war nicht nur ein persönlicher Erfolg von Fritz Bauer, der diesen in einer Atmo­sphäre vorbereitete, die er mit den Worten beschrieb: »Wenn ich mein Dienstzimmer ver­lasse, betrete ich feindliches Territorium.« Das ist eine schon eher vornehme Umschrei­bung, welchen Anfeindungen und Bedrohungen er in dieser Zeit ausgesetzt war. Vor allem ist der Auschwitz-Prozess in die Geschichte eingegangen, weil sich erstmals Nazigewaltver­brecher in dieser Größenordnung in der BRD vor Gericht wiederfanden und nach einer Ver­handlungszeit von etwa eineinhalb Jahren überwiegend verurteilt wurden.

Der Auftakt

Erinnert sei auch aus aktuellem Anlass an die Mahnung, die Friedrich Karl Kaul in seinem Schlussvortrag am 20. Mai 1965 wie folgt formulierte:

»Nicht erst am 30. Januar 1933, dem Tage, an dem der Nationalsozialismus an die Macht geschoben wurde, wurde der Mord zur Staatsdoktrin in Deutschland erhoben! Die Anfänge hierfür liegen weit früher: Es waren die Schüsse, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg meuchelten, die Schüsse, denen die aus bitterer Erfahrung zu Kriegsgegnern gewordenen Kapitänleutnant Paasche und Hauptmann Baerfeld zum Opfer fielen, denen die Staatsmän­ner Erzberger und Rathenau erlagen … diese Schüsse waren es, die den Auftakt bildeten für jenen schauerlichen Zug von Toten und Gemordeten, der weiterging Jahre und Jahre und von dem wir heute wissen, dass er geradewegs in Auschwitz endete. Und seit diesen Schüssen – anderthalb Jahrzehnte vor dem Erlass der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat und vor der Verkündung des Ermächtigungsgesetzes, d. h. der als Notstandsge­setze getarnten Diktaturvollmacht, die den nazistischen Mordbanden freie Bahn schuf – war es offenbar, dass in Deutschland keineswegs zwingend der Mordtat die gerichtliche Sühne auf dem Fuß folgte, konnten die Mörder morden und wussten, sie würden dafür nicht bestraft!«4 

 

Anmerkungen:

1 F. K. Kaul, »In Robe und Krawatte«, Berlin 1972, S. 173.

2 Ebenda, S. 180.

3 Zit. bei R. Dobrawa, »Der Auschwitz-Prozess – Ein Lehrstück deutscher Geschichte«, Berlin 2013, S. 203.

4 Ebenda, S. 149.

 

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