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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

50 Jahre Strafgesetzbuch der DDR – einige Gedanken aus heu­tiger Sicht

Gerhard Pein, Arnstadt

1. Am 1. Juli 1968, also vor genau 50 Jahren, trat das neu geschaffene Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1968 in Kraft und löste das bis dahin noch geltende Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 ab.

Als der Unterzeichner vor einiger Zeit gebeten wurde, einen Artikel hierzu zu schreiben, stellte sich ihm natürlich die Frage: Wäre hierzu nicht ein namhafter noch lebender Rechts­wissenschaftler der DDR viel eher berufen als der Autor?

Zu einer tiefgründigen wissenschaftlichen Publikation fehlt dem Autor, der seit 1984 zunächst in Bernau bei Berlin und ab 1986 in Arnstadt in Thüringen als Rechtsanwalt tätig ist, die Zeit. Er kann lediglich seine Sicht als Praktiker, der sowohl zu DDR-Zeiten als auch nach 1990 als Strafverteidiger tätig war und tätig ist, wiedergeben. Ein Blick in das elek­tronische Lexikon, genannt Wikipedia, offenbart den vom unveränderten Zeitgeist gepräg­ten Blick auf das Strafgesetzbuch der DDR. Hier heißt es: »Neben vielen Regelungen, die auch in Rechtsstaaten üblich sind, finden sich in dem StGB der DDR Normen, die der Sicherstellung der Herrschaft der SED und der Verfolgung politisch anders Denkender dienten. Wie die gesamte DDR-Justiz waren auch das Strafrecht und die Strafrechtspflege dem Herrschaftsanspruch der Partei verpflichtet. Ebenfalls im Gegensatz zu rechtsstaatli­chen Prinzipien stand die Anwendung des Strafgesetzbuches. Ein rechtsstaatliches Verfah­ren war in der DDR nicht gewährleistet.«

Es folgen dann Ausführungen zu Strafrechtsnormen, zur Verfolgung politisch anders Den­kender und den Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung, wie ungesetzli­cher Grenzübertritt, Rowdytum u.s.w. Im übrigen habe es dann noch wirkungslose Straf­rechtsnormen gegeben und solche, die vom bundesdeutschen Recht abweichen sowie die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch (vgl. hierzu § 153 StGB der DDR). Das war es dann auch schon zu diesem Thema.

Am 3. Oktober 1990 trat das Strafgesetzbuch der DDR, so wie fast das gesamte DDR-Recht, außer Kraft. Nach fast 30 Jahren sollte es möglich sein, auch über das Recht der DDR differenziert zu diskutieren. Dies gilt auch für das Strafgesetzbuch der DDR.

Am 3. Oktober 1990 trat das als Reichsstrafgesetzbuch verabschiedete StGB vom 15. Mai 1871 in der in der damaligen Bundesrepublik geltenden Fassung auf dem Gebiet der frü­heren DDR als bundesdeutsches Recht wieder in Kraft.

Es wird meines Erachtens unkritisch übersehen, dass dieses Gesetz und wesentliche Rechtsgedanken bereits dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem NS-Staat ge­dient haben. Beredtes Beispiel hierzu ist die sogenannte Sicherungsverwahrung, geregelt in § 66 StGB. Das Gericht hat hier die Möglichkeit, neben der Strafe eine weitere freiheits­entziehende Maßnahme anzuordnen. Wenn man davon ausgeht, dass beim Verurteilten ein Hang zu weiteren erheblichen Straftaten besteht. Im Grunde genommen erfolgt hier ein Freiheitsentzug, der grundsätzlich unbefristet ist, losgelöst von der eigentlichen Straftat, die zur Verurteilung führte. Die Rechtsgrundlage hierfür wurde im Nazi-Staat geschaffen, und zwar mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 (Reichsgesetzblatt Teil I S. 995).

2. Ob ein Hang zu weiteren schwerwiegenden Straftaten vorliegt, entscheidet letztendlich in der Praxis ein Gutachter. In der Regel also ein Mediziner.

Das Strafgesetzbuch der DDR kannte keine Sicherungsverwahrung.

Zu den Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit heißt es im StGB der DDR in § 1 (1) StGB: »Straftaten sind schuldhaft begangene gesellschaftswidrige oder gesellschaftsgefährliche Handlungen (Tun oder Unterlassen), die nach dem Gesetz als Vergehen oder Verbrechen strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.«

Das heißt nach dem Prinzip der Einzeltatschuld muss immer eine konkrete Straftat vorlie­gen, um mit einer Strafe geahndet zu werden.

Bei der Sicherungsverwahrung erfolgt ein Freiheitsentzug mit Hinblick auf eine innere Ein­stellung des Verurteilen, einen festzustellenden Hang, der vermuten lässt, dass er künftig weitere erhebliche Straftaten begeht. Letztendlich wird der Verurteilte für Straftaten zur Verantwortung gezogen, die er noch gar nicht begangen hat, die er aber möglicherweise begehen könnte. Diesen Rechtsgedanken entsprach auch die in der Vergangenheit als zu­lässig erachtete nachträgliche Verhängung der Sicherungsverwahrung durch bundesdeut­sche Gerichte. Vor einigen Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies als unzulässig erachtet, so dass eine Sicherungsverwahrung nur noch im ursprüngli­chen Strafurteil verhängt werden kann.

Die vorstehenden Ausführungen sollen verdeutlichen, wie problematisch das Rechtsinsti­tut der im NS-Staat geschaffenen Sicherungsverwahrung ist, nicht zuletzt mit Hinblick auf den im faschistischen Deutschland praktizierten Missbrauch. Es ist schon interessant fest­zustellen, dass das gesamte Recht der DDR als rechtsstaatswidrig bezeichnet wird, wäh­rend gleichzeitig das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung, welches im NS-Staat ge­schaffen wurde, bis heute in Anwendung ist. Natürlich ist darauf hinzuweisen, dass die Sicherungsverwahrung nur bei extremen schwersten Straftaten und bei entsprechenden Vorstrafen in der heutigen Rechtspraxis verhängt wird.

Im »Alltagsgeschäft« eines Strafver­teidigers ist die Regelung des § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) von wesentlich größerer Bedeutung. Im § 63 StGB heißt es: »Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbrin­gung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten ... zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.«

Auch hier erfolgt die Unterbringung im Grunde genommen nicht mit Hinblick auf die be­gangene Straftat, sondern möglicherweise zu erwartender weiterer Straftaten. Wie lange die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus dauert, entscheiden auch hier am Ende Mediziner und Psychologen mit dem Ergebnis, dass die Dauer der Unterbringung und da­mit der freiheitsentziehenden Maßnahme weit über das Strafmaß der Anlassstraftat, die zur Verurteilung führte, hinausgeht. Umso problematischer wird dies, wenn das Fach­krankenhaus, in welchem der Verurteilte untergebracht wird, dann regelmäßig auch die Be­richte über dessen psychischen Zustand erstellt. Diese Berichte werden dann zur Grund­lage über die Entscheidung des Gerichtes über die Anordnung der Fortdauer der Unterbrin­gung. In Anbetracht des Umstandes, dass natürlich das Fachkrankenhaus für den Unterge­brachten eine nicht unerhebliche Vergütung erhält, besteht meines Erachtens hier die Ge­fahr einer offenkundigen Interessenkollision. In der Praxis entscheiden letztendlich über die Fortdauer der Unterbringung nicht Juristen, sondern Mediziner.

3. Auch hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit die Einnahme von Rauschmitteln, wie Alko­hol oder Drogen, bei der Beurteilung einer Schuldfähigkeit bzw. verminderten Schuldfähig­keit zu berücksichtigen sind, gibt es in der Rechtspraxis bzw. der gesetzlichen Regelung doch erhebliche Unterschiede zu den entsprechenden Tatbeständen der §§ 15 und 16 StGB der DDR. Nach dem Strafrecht der DDR hatte Alkohol bzw. die Einnahme von ande­ren Rauschmitteln grundsätzlich keine schuldbefreiende Wirkung, wenn der Täter bei Ein­nahme der entsprechenden Substanzen die berauschende Wirkung der Mittel kannte.

Im Kommentar zum StGB der DDR heißt es hierzu: »Das Tatbestandsmerkmal schuldhaft ist im Sinne strafrechtlicher Schuld zu verstehen, d.h. der Täter muß gewußt haben, daß er durch die eingenommenen Mittel in einen Rauschzustand gelangen kann.« (Vgl. hierzu Kommentar zum StGB der DDR, Staatsverlag der DDR, Berlin 1984, Rand-Nr. 6 S. 78).

Entsprechendes galt auch bei verminderter Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit.

Im Kommentar zum heutigen StGB heißt es hierzu auf S. 185 Rand-Nr. 16 Kommentar zum StGB Verlag C.H.Beck 58. Auflage: »Eine Schuldminderung nach § 21 ist danach ausgeschlossen, wenn der Täter einer Vor­satztat einen Zustand im Sinne des § 21 vorsätzlich oder in der Absicht oder dem Bewußt­sein späterer Tatbegehung herbeigeführt hat. Ebenso, wenn der Zustand im Sinne von § 21 vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt wurde und der Täter dabei fahrlässig eine Bege­hung einer späteren Fahrlässigkeitstat nicht bedacht hat.«

Nach dem Strafrecht der DDR genügte allein die Kenntnis um die berauschende Wirkung von berauschenden Substanzen, um eine Schuldminderung oder einen Schuldausschluss auszuschließen. Diese Regelung dürfte sehr klar und wenig interpretationsfähig sein. Die oben zitierte Kommentierung zum heutigen StGB macht deutlich, dass hier ein erheblicher Ermessensspielraum bleibt. Nur wenn der Täter sich betrinkt, um eine Straftat zu begehen, ist die Strafminderung ausgeschlossen.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat sich in den letzten Jahren der Rechts­lage in der DDR angenähert.

Auch der Vergleich der Regelungen zum Schutze des Lebens und der persönlichen Unver­sehrtheit macht in der gesellschaftspolitischen Grundhaltung doch erhebliche und diskus­sionswürdige Unterschiede aus.

Nach § 112 StGB der DDR wurde als Mörder verurteilt, wer vorsätzlich einen Menschen tö­tet. Die Mindeststrafe war hier 10 Jahre bis lebenslängliche Haft. Als Totschlag im Sinne des § 113 StGB der DDR wurde die vorsätzliche Tötung eines Menschen definiert unter der Voraussetzung, wenn der Täter, ohne eigene Schuld, durch einen ihm oder einem An­gehörigen von dem Getöteten zugefügte Misshandlung, Bedrohung oder Kränkung in den Zustand einer hochgradigen Erregung (Affekt) versetzt wurde und sich hierdurch zur Tötung hinreißen ließ. Diese Tat wurde mit einer Freiheitsstrafe bis zu 10 Jah­ren geahndet.

Nach dem jetzt geltenden StGB wird als Mord mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe be­straft, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder aus niedrigen Beweggründen heimtückisch oder grausam einen Menschen tötet. Alle anderen Tötungshandlungen gelten als Totschlag im Sinne des § 212 StGB.

Nicht die Tötungsabsicht als solche, sondern die innere Einstellung des Täters zur Tat (nie­dere Beweggründe) bzw. die Begehungsweise der Tat (Heimtücke) machen den Unter­schied zwischen Mord und Totschlag aus.

4. Unter bestimmten Umständen könnte man dann sehr wohl auf die Idee kommen, dass politische Motive nicht als niedere Beweggründe anzusehen sind, so dass politischer Mord, zumindestens theoretisch, als Totschlag zu ahnden wäre, was natürlich einen völlig ande­ren Strafrahmen nach sich zieht.

Weitere, aus der Sicht des Autors, erhebliche und diskussionswürdige Unterschiede gab es auch beim Jugendstrafrecht. Gemäß § 65 (3) StGB der DDR war bei der Feststellung der Schuld und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher grundsätzlich zu prüfen, inwieweit entwicklungsbedingte Besonderheiten in die Tatentscheidung eingeflossen sind.

Im Kommentar zum StGB der DDR heißt es hierzu: »Bei der Schuldbewertung eines jugendlichen Straftäters sind gemäß Abs. 3 jene individu­ellen entwicklungsbedingten Besonderheiten zu beachten, die Einfluß auf das schuldhafte Handeln hatten. Unter diesen Voraussetzungen kann die Schuld des Jugendlichen weniger schwerwiegend sein.« (Vgl. hierzu Kommentar zum StGB der DDR, Staatsverlag der DDR, Berlin 1984 Rand-Nr. 5, S. 218).

Jugendrecht war grundsätzlich anzuwenden bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. In der heutigen Rechtspraxis ist es demgegenüber so, dass das Jugendgerichtsgesetz (JGG) grundsätzlich dann anzuwenden ist, wenn ein Jugendlicher oder Heranwachsender eine Straftat begeht. Jugendlicher im Sinne des Gesetzes sind junge Menschen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren. Grundsätzlich wird unter den vorstehend genannten Voraussetzungen das wesentlich mildere Jugend­strafrecht angewandt, ohne im Grunde genommen entwicklungsbedingte Besonderheiten im Einzelfall zu prüfen und bei der Bemessung der Schuld zu bewerten.

In der Praxis führt das dazu, dass jugendliche Straftäter, z.B. auch bei wiederholten Dieb­stahlshandlungen, lediglich verwarnt werden und erst, wenn sich Straftaten häufen, nach geraumer Zeit ernsthafte Schritte eingeleitet werden.

Aus der Sicht des Autors wird hier die Beschaffungskriminalität jugendlicher Täter, die mit Rauschgift in Verbindung geraten sind, wesentlich erleichtert, wobei nicht unberücksichtigt bleiben sollte, dass es leider nicht ungewöhnlich ist, dass Drogendealer bei Unter-14-Jähri­gen, also Kindern, sich ihren Markt schaffen, indem sie Rauschmittel in Schulen verteilen. Dies ist jedoch ein weiteres sehr kompliziertes Thema.

Ich hoffe, dass es dem Autor gelungen ist, deutlich zu machen, dass es eigentlich Zeit sein sollte, fast 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD, ohne die ideologischen Scheu­klappen des Kalten Krieges, rechtsvergleichend über das Recht der DDR, sei es Straf-, Fa­milien- oder Zivilrecht, zu diskutieren, um letztlich zu einer sachlichen Bewertung zu gelangen.