50 Jahre Notstandsgesetze: Viel Notstand, keine Lösung
Harald W. Jürgensonn
Meine Eltern sprachen darüber. Meine Großeltern auch. Die ganze Familie, die Nachbarn und deren Familien. Wenn Krieg kommt, sollte der VW Käfer meines Vaters als Militärfahrzeug eingezogen werden, sagten sie. Wenn Krieg kommt, müsste mein Großvater an die Front (wo auch immer). Und es gebe bald Krieg, sagten sie. Da seien sie sich ganz sicher. Der schöne VW. Mein armer Opa …
Es gab keinen Krieg damals in den 60er Jahren, mit dem Volkswagen fuhren wir noch jahrelang in Urlaub, und mein Großvater grub seinen Garten um und hob keine Schützengräben wo auch immer aus. Mittlerweile gibt es den Käfer nicht mehr, und Großvater ist schon lange tot. Die Notstandsgesetze gibt es noch. Im Herbst vor 50 Jahren wurden sie konkret, sechs Jahre später endgültig beschlossen. Karl Jaspers sagte über sie, sie raubten "dem Volk die ihm verbliebenen legitimen, dann aber nicht mehr legalen Mittel des Widerstands". Was folgte, war aber erst mal Widerstand: die Studentenunruhen und die APO. Es folgte die RAF, die für Notstandsgesetze die Steilvorlage lieferte. Heute schweigen Studenten, die APO verirrte sich beim Marsch durch die Institutionen, und die RAF ist Geschichte. Die Notstandsgesetze sind geblieben.
Vom Verteidigungsfall war die Rede, vom Spannungsfall. Regierung und letztlich der Kanzler (jetzt: die Kanzlerin) sollten bei innerer oder äußerer Gefahr elementare Grundrechte suspendieren können. Ins Ermessen gestellt wurden damit die Inhaftierung ohne richterliche Haftprüfung, Aufhebung der Pressefreiheit sowie des Post- und Telefongeheimnisses, Erlass von Notverordnungen, Stilllegung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Beschränkung der Rechtsmittel, Einberufung von Zivildienst, Verlust des Streikrechts, allgemeine Gehorsamspflicht und Zuweisung von Aufenthaltsorten. Das empörte die Westdeutschen so sehr, dass es zum Unerhörten kam: Zum ersten und einzigen Mal gingen Studenten und Professoren, Arbeiter und Angestellte, Gewerkschaften und Politiker, Kommunisten und Konservative gemeinsam auf die Straße. Schüler, die das Schlimmste vor sich sahen, taten sich mit Rentnern zusammen, die das Schlimmste, das die Gesetze verhießen, gerade mal knapp 20 Jahre hinter sich hatten.
Schließlich ging 1968 die 62er Notstands-Saat auf. Am 24. Juni 1968 wurde verabschiedet, was fast genau ein Jahr zuvor zum Tod des Studenten Benno Ohnesorg (26) in Berlin geführt hatte. Dieser Tag, der 2. Juni 1967, war die Generalprobe, die um 20:09 Uhr mit dem Kommando "Knüppel frei!" als das bis dahin größtmögliche Notstandsmanöver der Bundesrepublik begann. 20 Minuten später wurde Ohnesorg von einer Polizeikugel getroffen, um 21 Uhr war er tot. Berlins Regierender Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) dankte wenige Tage später der Polizei für die "geübte Zurückhaltung" bei der Demonstration gegen den Besuch von Persiens Schah Reza Pahlewi und verhängte ein generelles Demonstrationsverbot über die Stadt. Für die schwangere Witwe des Opfers fand er kein Wort des Bedauerns. Kollateralschaden. Der Weg war frei für die Notstandsgesetze - als sich selbst erfüllende Prophezeiung gewissermaßen.
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Möglich wurden die Notstandsgesetze erst mit der ersten Großen Koalition von CDU und SPD. Bundeskanzler war damals der Christdemokrat Kurt Georg Kiesinger, 1933 mit der Mitgliedsnummer 2633930 als Mitglied der NSDAP registriert, im Laufe seiner nationalsozialistischen Karriere Ansprechpartner von Joseph Goebbels und als stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung zuständig für die Überwachung und Beeinflussung so genannter Feindsender. Sein Koalitionspartner Willy Brandt musste miterleben, wie Kiesinger mit dem Ausruf "Ich sage nur: China, China, China!" die kommunistische Gefahr beschwor. Als Kiesinger am 7. November 1968 auf dem CDU-Parteitag von Beate Klarsfeld wegen seiner Nazi-Vergangenheit geohrfeigt wurde, erhielt sie eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung, er jedoch blieb noch fast ein Jahr im Amt.
Kiesingers Nachfolger Brandt wollte "mehr Demokratie wagen". Doch was kam, war zunächst mal der Radikalenerlass - Berufsverbot vornehmlich für Kommunistinnen und Kommunisten im staatlichen Dienst. Sie durften ab 1972 kein Lehramt bekleiden, nicht Lokomotivführer werden und keine Post austragen [1]. Gesinnungsschnüffelei zerstörte Existenzen, wobei es schon ausreichte, sich kritisch zu den Notstandsgesetzen verhalten zu haben. Oder im Verdacht zu stehen, die so genannte freiheitliche demokratische Grundordnung - zu der auch die Notstandsgesetze gehören - nicht vorbehaltlos als unveränderbar anzuerkennen. Kommunistinnen und Kommunisten und anderen, die an der Unfehlbarkeit des bundesrepublikanischen Nachkriegswegs zweifelten, wurde immer wieder gerne empfohlen: "Geht doch nach drüben, wenn’s euch hier nicht passt."
Und die Mehrheit - oder zumindest diejenigen, die sich an westdeutschen Stammtischen dafür hielten - nahm das hin. Seit am 31. Oktober 1962 der damalige Innenminister Hermann Höcherl (CSU) einen dem letztlich beschlossenen Notstandsgesetz sehr nahe kommenden Entwurf vorgelegt hatte, waren Einschränkungen der Freiheit, der Meinung, der Persönlichkeit mehr und mehr als normaler Bestandteil der BRD hingenommen worden. Und deshalb wurde ab den 70er Jahren auch weniger und weniger über die Notstandsgesetze, deren Einführung kurzzeitig zu einem verzweifelten Aufschrei Anlass war, gesprochen. Sie waren da, niemand bemerkte sie, da sie offiziell nie angewandt wurden.
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Aber sie wurden ausgebaut. Ebenso unbemerkt, ebenso inoffiziell. Der Ausbau macht sie überflüssig, denn der Ausbau hat das Rigide, das Perfide der Notstandsgesetze längst überholt. Wir brauchen keinen Verteidigungsfall, keinen Spannungsfall mehr, um die Kommunikation zu überwachen und auszuwerten. Während Nazis demonstrieren, werden Gegendemonstranten festgesetzt, selbst der Aufruf zum Widerstand gegen Faschisten wird mit Geld- und Haftstrafe geahndet. Wozu sollen wir noch vom Verteidigungsfall reden, wenn wir uns doch schon seit Jahren an Kriegen beteiligen? Der Gedanke, die Bundeswehr bei Streiks einzusetzen, bei Unruhen an Fußballstadien - er löst kaum noch Empörung aus. Der Notstand hat sich eingeschlichen, wir leben in ihm, als sei er Normalität. Das ist der eigentliche Notstand, für dessen Behebung es aber kein Gesetz gibt.
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Die Verabschiedung der Notstandsgesetze beendete vordergründig das, was ihre Ankündigung überhaupt erst ermöglichte. Da war der Schulterschluss zwischen Sozialistischem Deutschen Studentenbund (SDS) und Gewerkschaften möglich, da sammelten sich spontan 70.000 Menschen zu einer Demonstration in Bonn, da standen Millionen de facto an der Seite von Kommunistinnen und Kommunisten und anderen Demokraten. Weil es um ihre Rechte, um ihre Freiheit ging. Als diese Freiheit dann hinter den Paragrafen der Notstandsgesetze stückweise verschwand, regte das nicht zu mehr Widerstand an, sondern führte zu Resignation, zu Wut und Zersplitterung. Die Solidarität hatte verloren, niedergeknüppelt von denen, die politisch und wirtschaftlich das Kräfteverhältnis bestimmten.
Das hat Tradition in Deutschland. Ohne einen plumpen Vergleich Hitlerdeutschlands mit der BRD vornehmen zu wollen, der eine absolute Verharmlosung des Faschismus darstellen würde, darf dennoch in Erinnerung gerufen werden: Am 30. Januar 1933 vereidigte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Faschisten Adolf Hitler als Reichskanzler und sanktionierte damit dessen Machtergreifung. Genau vier Wochen später unterzeichnete der greise Militarist die Verordnung "Zum Schutze von Volk und Staat", mit der die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt wurden - "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung".
Zurück zu den Notstandsgesetzen. Was könnte hinterfragt werden? Warum Privatsphäre und Meinungsfreiheit plötzlich nichts mehr wert sein sollen zum Beispiel. Was die Bundeswehr, gegründet als Verteidigungsarmee und zurzeit auf der Aggressorenseite im Ausland tätig, im Inland mit Ruhe und Ordnung zu tun haben soll zum Beispiel. Und vor allem: Wie muss konkret die Situation aussehen, in der diese Gesetze angewandt werden?
All das bleibt nebulös, und Formulierungen, die nebulös bleiben, werden nicht hinterfragt. Nicht zuletzt aus Angst, eine konkrete Erläuterung geben zu müssen. Was sind "organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische"? Sind das Wehrsportgruppen mit Waffenlagern? War es die RAF? Ist es die organisierte Kriminalität? Darüber schweigt das Gesetz. Damit die Bevölkerung weiterhin schweigt?
Schon gar nicht ist die Rede von anderen Bedrohungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Es ist weder freiheitlich noch demokratisch, Antifaschistinnen und Antifaschisten erkennungsdienstlich zu behandeln, wenn sie sich Nazis in den Weg stellen. Es widerspricht sowohl Freiheit als auch Demokratie, wenn die von Familienministerin Kristina Schröder (CDU) eingeführte Extremismusklausel weiterhin angewandt wird, obwohl sie 2012 vom Dresdner Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt wurde. Denn wer entscheidet, was extrem ist? Jemand, der Linke mit Faschisten gleichsetzt, indem er beide willkürlich als gleich extremistisch bezeichnet? Davon ist, wie gesagt, keine Rede. Erklärungsnotstand.
Die Notstandsgesetze, so wie sie bestehen, werden nicht umgesetzt. Aber ihr Geist wird nicht nur zur Handlungsgrundlage der Herrschenden und ihrer Helfer gemacht, sondern extrem verschärft. Sozialistinnen und Sozialisten, Kommunistinnen und Kommunisten werden beobachtet - und mit ihnen Ungezählte aus ihrem Umfeld. Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit wird als nicht verfassungskonform niedergemacht. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm wurde 2007 die Bundeswehr im Inland eingesetzt, Aufklärungs-Tornados donnerten in weniger als 150 Metern Höhe an einem Demonstranten-Zeltlager vorbei, neun Fennek-Panzerspähwagen fuhren auf. Notstand?
Wollte und will man vorsorgen für den Fall, dass die sozialen Verhältnisse zu Widerstand führen? Ein Staat, der Notstandsgesetze wie am Fließband produziert - die Gesetze beginnen alle mit "Zur Sicherstellung von …" und dann folgen Telekommunikation, Postwesen oder sogar "Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft sowie des Geld- und Kapitalverkehrs" - dieser Staat misstraut seinen Bürgern. Weil dieser Staat weiß, dass irgendwann auffällt, wie er den kapitalistischen Bogen überspannt? Nach Annahme der Notstandsgesetze 1968 wollte Franz Josef Strauß den "Großraum Europa" schaffen, indem er den Status Quo vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer zugunsten des kapitalistischen Westens zu verändern beabsichtigte. Für diejenigen, die sich dem entgegenstellten, fand sich immer ein Gesetz, mit dem sie stumm gemacht werden konnten. Die Notstandsgesetze waren nur die Bündelung dieser Disziplinierungskeulen.
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Wohin die 1962 gezeugten und 1968 geborenen Notstandsgesetze und deren Paragrafen-Kinder und -Enkel geführt haben, wissen wir. Nach rechts. In Verhältnisse, in denen die Genehmigung eines Nazi-Aufmarschs schwerer wiegt als Widerstand gegen Faschisten. In denen der Kapitalismus immer hungriger nach immer mehr Kapital schreit und diejenigen, die sich dem widersetzen oder ganz einfach nicht mehr können, mit Hartz-IV-Gesetz und Ausgrenzung aus der gesellschaftlichen Teilhabe erpresst werden. Zuerst wird die Solidarität im engsten Umfeld zerstört, dann folgt die Zerschlagung internationaler Solidarität.
Der Kapitalismus will sein Versagen vertuschen, indem er mit Notstandsgesetzen vorgaukelt, dass, wer ihn in Frage stellt, die gesamte Gesellschaft in Frage stellt, und eben dies durch Gesetze verhindert werden muss. Dabei ist es umgekehrt: Die Notstandsgesetze stellen die Gesellschaft in Frage.
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Es war und ist die Aufgabe von Kommunistinnen und Kommunisten, die bestehenden Verhältnisse zu verändern. Sie zu hinterfragen, sie dialektisch zu analysieren und Alternativen zu prüfen. Die Notstandsgesetze sind nicht nur Teil der bestehenden Verhältnisse, sie sind Fundament und Bollwerk des Kapitals und der Herrschenden. Wer sie liest, wird feststellen: Es gibt Verhältnisse, die durch sie gesichert werden sollen, und es gibt Menschen, Vorgänge und Gesellschaftsmodelle, die diese bestehenden Verhältnisse gefährden. Was wir von den bestehenden Verhältnissen zu halten haben, ergibt sich daraus, wie die Menschen in ihnen leben. Als Arbeitsameisen, als Bittsteller, als ausgegrenzte Mehrheit in einer Welt, die von einer Minderheit zum Wohlgefallen Weniger gestaltet und verteidigt wird. Solche Verhältnisse sieht auch das Grundgesetz der BRD nicht vor.
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Notstand, wie wir ihn verstehen, ist für immer mehr Menschen, wie sie ihr Leben fristen im Kapitalismus. Notstand ist gegeben, wenn Einzelne immer reicher werden durch die Arbeit Vieler, die immer ärmer werden. Notstand bedeutet, dass etwas nicht stimmt im System. Der Kapitalismus stimmt nicht, wir leben im Notstand. Um diesen Notstand zu beheben, brauchen wir eine sozialistische Alternative.
Anmerkung:
[1] Vgl.: Silvia Gingold: "Antikommunismus per Gesetz", Mitteilungen der KPF, Heft 2/2012.