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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

30 Jahre nach Mutlangen: Unser Mut muss wieder langen

Harald W. Jürgensonn, Brohl-Lützing

Es war ja nicht nur Mutlangen. Oder Bonn. Und es ging auch nicht nur um Pershing und Cruise Missile. Oder um Frieden. Es ging um Gefühl, um eine diffuse Einigkeit, verpackt in konkretes Anlasspapier. Damals wie heute nennen wir es »Bewegung«. Nur: Im Gegensatz zu damals wird der Mut vielleicht nicht mehr langen für ein neues Mutlangen. Manche sagen, es sei das Ende der Bewegungen gewesen. Andere nennen es den Beginn der Politikverdrossenheit. Die Mutlanger Heide und der Bonner Hofgarten im Herbst 1983: Schauplätze von Bürgermacht und Ohnmacht zugleich.

Es war auch nicht nur der Herbst 1983, worüber zu reden es sich lohnt. Vieles griff ineinander. Die Entdeckung der Kraft außerparlamentarischen Tuns Ende der 60er, eine Politik neuen Stils in der Bundesrepublik der 70er, die nicht nur gekennzeichnet war durch den Warschauer Kniefall Willy Brandts, sondern durch zunehmende Bereitschaft, sich an dem zu beteiligen, was bis dato »die da oben« machten: Beeinflussung von Entscheidungen und Richtungen. Aus der anderen Richtung näherten sich Berufsverbot und – wesentlich für parteiübergreifendes Einmischen – der NATO-Doppelbeschluss, der nicht nur die SPD-Granden Schmidt und Brandt entzweite.

Der NATO-Doppelbeschluss sollte so etwas wie eine angeblich friedenstiftende Antwort auf die Stationierung neuer sowjetischer SS 20-Raketen sein. Atomar bestückte amerikanische Mittelstreckenraketen, nämlich die Pershing II, sowie Cruise Missiles sollten Moskau klar machen, dass es jederzeit möglich sei, die sowjetische Hauptstadt ohne Vorwarnzeit zu treffen. Damit stieg die Angst, dass die USA einen künftigen Krieg auf Europa beschränken könnten – ohne selbst Gegenmaßnahmen befürchten zu müssen. 36 dieser Pershings sollten in der Mutlanger Heide auf die mörderische Flugfreigabe lauern. Auf einen Tag X, den Millionen Bundesbürger bedrohlich nahe sahen, und den zu verhindern sie wild entschlossen waren.

Ihr Ziel hieß Menschlichkeit im besten Wortsinn

Zuerst waren es lokale Mini-Gruppierungen, dann regionale Initiativen, schließlich ein engmaschiges Netzwerk aus Friedensgruppen und Kirchenleuten, Politikern und Studenten, Spontis und Prominenten. Ihr Ziel, als sie loszogen im Herbst 1983, hieß nicht allein Mutlangen, es hieß Frieden, es hieß Abrüstung, es hieß Menschlichkeit im besten Wortsinn. Nicht Gewalt war ihre Sprache, sondern sie beschworen das weiche Wasser, das den Stein brechen solle. Sie skandierten zwar lautstark »Atomraketen – verschleuderte Moneten!« und »Frieden schaffen ohne Waffen« und »Weg damit!«, aber die Bilder waren eher die eines Familienausflugs: Petra Kelly mit Stahlhelm, in dessen Tarnnetz bunte Blumen steckten. Heinrich Böll mit Gehstock und Baskenmütze. Günter Grass, der Pfeife rauchend vor einer Kaserne stand. Walter Jens milde lächelnd inmitten einer Sitzblockade. Dazu Fahnen, Lichterketten, Thermoskannen- und Müsli-Idylle. Aber: Es war eine Bewegung. Eine, der sich mindestens 1,5 Millionen aktiv, weitere Millionen zustimmend passiv anschlossen.

War es eine politische Bewegung? Eine, die das Parteiengefüge wenn schon nicht zum Einsturz, so doch wenigstens zum Wanken brachte? Eine, die die Kräfteverhältnisse zugunsten der Bevölkerung verschob? Nein. Wir wissen, dass es vereinzelte Unterstützung durch Sozialdemokraten gab, durch Grüne, durch Richter, Staatsanwälte, Hochschullehrer, Künstler, Schriftsteller sowie Männer und Frauen der Kirche. Wir wissen aber auch, dass die Mehrheiten in der Republik blieben wie eh und je, dass die DKP keinen nennenswerten Mitgliederzuwachs verzeichnen konnte, dass Aktionen wie »Rüstungssteuerverweigerung« oder »Fasten für den Frieden« nichts weiter blieben als Randnotizen.

Dennoch war es eine politische Bewegung. Weil in der Bonner Republik plötzlich nicht mehr übersehen und überhört werden konnte, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht mehr mit der normativen Kraft des Faktischen abfinden wollten. Angedeutet hatte sich das schon fast genau 20 Jahre zuvor, als die Notstandsgesetze gezeugt und Ende der 60er Jahre geboren wurden. Damals war es die Angst um Bürgerrechte und Freiheit, die die Menschen umtrieb – jetzt, 1983, war es die Angst vor Krieg, vor der Apokalypse, die Menschen aufschrecken ließ aus bürgerlicher Ruhe und Wird-schon-werden-Behäbigkeit. Heute, 2013, ist alles noch viel schlimmer, sind Bürgerrechte und Freiheit nichts weiter als Worthülsen, ist Krieg fester Bestandteil der stündlichen Nachrichten. Mutlangen wäre heute ein Anderthalbminutenbeitrag in den Tagesthemen – zwischen loyaler Regierungsverlautbarung und royalem Prominentenklatsch. Mitlaufen statt Mutlangen, Hofbericht statt Hofgarten.

Über vier Millionen Unterschriften unter den »Krefelder Appell«

Denn auch im Bonner Hofgarten tat sich etwas im Herbst 1983, das bei einer Vorläuferveranstaltung 1981 von Bundeskanzler Helmut Schmidt »infantil« genannt wurde, für den bayerischen Rechtsaußen Franz Josef Strauß nichts weiter war als ein »umgekehrter Reichsparteitag«. Rund 300.000 »Traumtänzer« (so der damalige SPD-Verteidigungs¬minister Hans Apel) waren bei nasskaltem Oktober-Nieselwetter in die Hauptstadt gekommen, um gegen die NATO-Nachrüstung zu demonstrieren. 1983, also zwei Jahre später, waren es bereits 500.000 im beschaulichen Bonn, über 1,3 Millionen bundesweit, die gegen Pershing II und Cruise Missile wacker Wind und Wetter trotzten. Hinter ihnen stand unter anderem der »Krefelder Appell«, der schon 1980 in nur sechs Monaten von 800.000, letztlich von über vier Millionen Menschen unterschrieben worden war. Sie alle appellierten an die Bundesregierung, die Zustimmung zum Nachrüstungsbeschluss zurückzuziehen.

Es lief alles durcheinander. Ein ehemaliger General, nämlich Gert Bastian, reihte sich ein bei den Friedensfreunden, der SPD-Vorsitzende stellte sich im Hofgarten vor einer halben Million Zeugen gegen seinen Parteigenossen, den Ex-Kanzler Helmut Schmidt: »Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger.« Dass wir überhaupt keine Mittel dafür brauchen – geschenkt! In dieser Situation brauchte die Republik, jedenfalls die der NATO zugewandte, Deckungsfeuer aus Bayern. Franz Josef Strauß geißelte deshalb wortgewaltig die Friedensbewegung als »vom Kreml gesteuerte Armeen des politisch-psychologischen Kriegs«, denen es darum gehe, »die Straßen und Plätze zu Schlachtfeldern umzufunktionieren«. Dazu passend und schon fast komisch, wenn’s ihm nicht so ernst gewesen wäre, die Bemerkungen von Ludolf Herrmann, Kommentator des Bayerischen Rundfunks. Den »latenten Faschismus« der Friedenskundgebungen glaubte er im »leicht vorgeneigten, in gekrümmten Schultern schwingenden, unfreien Gang« zu erkennen, und er dozierte: »Für Momente der Massenerotik (kommt) die kleine rachitische Seele aus dem Gefängnis des pickligen Körpers.« Töne wie aus einem anderen, dem Dritten Reich.

In Mutlangen und Bonn, bei gewaltfreier Aktion, bei zivilem Ungehorsam und dem öffentlichen Infragestellen weltweiter Kriegspolitik auf deutschem Boden, überwogen andere Töne. »We shall overcome« – wir werden es überwinden, wir stehen es durch, wir halten es aus, wir werden bleiben, wir schaffen’s. Über einen Monat lang, bis zum 22. November 1983, glaubten sie daran, die Friedlichen, die Optimistischen, die Kämpferischen und die Idealistischen. An diesem Tag genehmigte der Deutsche Bundestag die Bestimmungen des NATO-Doppelbeschlusses, drei Tage später trafen die ersten Atomraketen in Mutlangen ein.

Immer wieder flackerten kleine Blockaden auf, wie Glutnester der Verzweiflung. Eine Mahnwache stand auf der Mutlanger Heide, gleichsam wie ein Wachkommando. Innerhalb von sechs Wochen wurden 800 Pershing-Gegner festgenommen, am 10. Dezember fanden sich ein letztes Mal 10.000 Menschen zur symbolischen Belagerung des Waffenlagers ein. Bis 1987 hielten immer mal wieder Blockaden des Depot-Zugangs die Erinnerung an den Herbst 1983 wach, mal drangen Aktivisten aufs Gelände vor, mal gab es eine Menschenkette am Gelände. 1987 wurde aufgrund veränderter Weltlage beschlossen, die Raketen, die Mutlangen berühmt gemacht hatten, zu verschrotten, 1990 war die Heide Pershing-frei. Von Februar 1984 bis in die 90er Jahre hinein (also lange, nachdem der Grund für die Blockaden schon wieder verschwunden war) schwappte eine Prozesswelle durch die Amtsgerichte von Schwäbisch Gmünd und anderen Orten, 2.999 Menschen wurden aufgrund der Blockaden von Mutlangen wegen Nötigung angeklagt. Erst das Bundesverfassungsgericht stoppte diese Friedenshatz durch die Entscheidung, dass die Verurteilungen wegen Nötigung verfassungswidrig sind. Das Kapitel Mutlangen war geschlossen.

Genau wie die heutigen Verhältnisse des Alltags die für den Notfall gedachten Notstandsgesetze in den Schatten stellen, genau so scheinen Hemm- und Wahrnehmungsschwelle in Sachen Krieg und Frieden ins Bodenlose gefallen zu sein. Zwischenzeitlich ging es nicht mehr »nur« um die Lagerung von Waffen auf deutschem Boden. Es ging um US-Militärstützpunkte wie Rammstein und Büchel (wo immer noch 20 Atomsprengköpfe der US-Amerikaner lagern), die als Drehpunkte für Kriegseinsätze von US-Armee genutzt werden. Es ging um Kosovo, um Afghanistan, um Somali und Mali. Um Bundeswehrsoldaten außerhalb deutschen Bodens. Und? Gab es Proteste von Millionen? Gab es Friedenscamps, Blockaden von Richtern, Staatsanwälten, Schriftstellern und Ärzten? Ja, es gab sie. Hie und da, klein und fein. Verbal. Symbolisch. Mutlangen war da weiter.

Das Ende von Bewegungen? Der Beginn von Politikverdrossenheit? Vielleicht haben wir heute zu viele Bewegungen – weil es zu viel gibt, das bewegt werden muss in der Politik. Vielleicht schwindet die beginnende Verdrossenheit erst wieder, wenn Bewegungen Erfolge zeigen. Wenn sie nicht gleich vereinnahmt werden oder gar missbraucht. Bewegungen entstehen aus gemeinsamer Wahrnehmung und gleichzeitig solidarischem Handeln heraus – und sie brauchen ein gemeinsames Ziel. Mutlangen entstand aus allgemeinem Friedensgedanken und konkreter Angst vor atomarer Kriegsbedrohung heraus, das gemeinsame Ziel hieß Frieden, die Etappe war der Abzug der Pershings und Cruise Missiles. Dass nach vorübergehender Verfehlung der Etappe letztlich das Ziel aus dem Blick rückte, ist geradezurücken. Denn Waffenproduktion, Rüstungsexporte, Kriegsbeteiligung sind gewachsen. Es ist an der Zeit, dass auch die Gegenbewegung wieder wächst. Sonst hätten wir Mutlangen sein lassen können. Und den Bonner Hofgarten weiter nur zum Sonnen nutzen können.

Anlage

Mutlangen – ein Symbol für den Frieden

Oskar Lafontaine am 29. August 2008 über seine Teilnahme an der Blockade des US-Stützpunktes Mutlangen am 1. September 1983

Anfang bis Mitte der 1980er Jahre protestierten Millionen gegen den so genannten NATO-Doppelbeschluss. Dieser sah die Stationierung der atomar bestückten US-amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und Marschflugkörper AGM-86 Cruise Missile in Europa als Antwort auf die Stationierung der neuen sowjetischen SS 20-Raketen vor. Die Friedensbewegung kritisierte, dass die amerikanischen Mittelstreckenwaffen in der Lage waren, die sowjetische Hauptstadt faktisch ohne Vorwarnzeit zu treffen. Viele hatten Angst davor, die USA könnten einen Atomkrieg auf Europa begrenzen und ihr eigenes Territorium aussparen. Über vier Millionen Menschen unterzeichneten 1980-83 den »Krefelder Appell« gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstrecken-Atomwaffen in Europa.

Zum wichtigsten Symbol der Friedensbewegung wurde der US-Stützpunkt Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd, auf dem die Raketen vom Typ »Pershing 2« stationiert werden sollten. Der Stützpunkt blieb monate- und jahrelang von Demonstranten umlagert, die immer wieder die Zufahrten blockierten, bis sie von der Polizei festgenommen oder abgedrängt wurden. Am 1. September 1983, dem »Antikriegstag«, beteiligte ich mich gemeinsam mit Petra Kelly, Gert Bastian, den Theologen Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer und Dorothee Sölle, den Schriftstellern Heinrich Böll und Peter Härtling und vielen anderen an einer dreitägigen Blockade des US Stützpunktes Mutlangen.