22. Juli 1922: Erste Reichskonferenz kommunistischer Kindergruppen
Egon Krenz, Dierhagen
An den 90. Jahrestag der kommunistischen Kinderkonferenz in Suhl erinnerte eine von der Interessengemeinschaft Geschichte des Stadtvorstandes der LINKEN organisierte Veranstaltung. Die IG Geschichte beschäftigt sich seit Jahren mit traditionellen Ereignissen der Arbeiterbewegung in der Region. Das Ziel besteht darin, diese dem Vergessen zu entreißen und deren Inhalte zu vermitteln.
Liebe Freunde, Genossinnen und Genossen, meine Damen und Herren, als ich 1972 als Vorsitzender der Pionierorganisation Ernst Thälmann an den Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der ersten Reichskonferenz kommunistischer Kindergruppen teilnahm, wurde am Rathaus eine Gedenktafel mit folgendem Text enthüllt: "Am 22. Juli 1922 fand im Oberrathaussaal die erste Reichskonferenz der Kommunistischen Kindergruppen Deutschlands statt."
Ein historischer Fakt. Schlicht. Keine Propaganda. Gewidmet Kindern, die sich gegen ihre Ausbeutung wehrten. Ein Schmuck für Suhl, jene Stadt, die Gastgeber für 800 Kinder war.
Als ich die Einladung für die heutige Veranstaltung erhielt, habe ich im Internet recherchiert, was wohl aus dieser Erinnerungstafel geworden ist. Trotz all meiner Bemühungen, eine Auskunft über die gesuchte Gedenktafel am Rathaus Suhl erhielt ich nicht. Inzwischen sagte man mir, die Tafel passe nicht in das Stadtbild. Sie werde irgendwo aufbewahrt. Ich habe da meine Zweifel, dass es sich um ästhetische Einwände handelt.
Wie Vertreter der gegenwärtigen Macht mit Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung umgehen, machte kürzlich Minister Ramsauer deutlich. Er will nicht nur das Marx-Engels-Denkmal aus dem Berliner Stadtzentrum verbannen. Er nannte den Friedhof der Sozialisten in Friedrichsfelde gar "eine Art sozialistisches Reste-Zentrum".
Eine solch entwürdigende und respektlose Aussage sagt viel über das staatsoffizielle Geschichtsbild aus, das Anfang der neunziger Jahre durch einen Bericht einer Enquetekommission des Deutschen Bundestage von sage und schreibe über 15.000 Seiten verordnet wurde.
Eure Erinnerungsveranstaltung an die erste Reichskonferenz kommunistischer Kindergruppen ist so etwas wie das Schwimmen gegen den Strom des Zeitgeistes. Für mich ist sie auch ein wichtiger Beitrag, die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung wachzuhalten und sie nicht den Geschichtsfälschern zu überlassen.
Das trifft auch und besonders auf die kommunistische Traditionslinie der Arbeiterbewegung zu, die seit 1990 mehr als alle anderen denunziert wird.
Heute wird wieder der mutigen Männer gedacht, die am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler wagten. Wer ihrer gedenkt - und ich tue es, obwohl ich weiß, dass sie vorher den 2. Weltkrieg mitgemacht haben und nachher ihren Frieden nur mit dem Westen machen wollten, wer ihrer gedenkt, weil sie ihr Leben im Kampf gegen Hitler gegeben haben, der darf aber den kommunistischen und sozialistischen Widerstand nicht aus seiner Erinnerung streichen.
Und Letzteres geschieht leider auch dadurch, dass Straßennamen von Antifaschisten getilgt werden, Erinnerungstafeln in Abstellräumen verschwinden, antifaschistische Gedenkstätten wie die in Ziegenhals bei Berlin entsorgt wurden und Thälmann, der nach 11½-jähriger Haft von den Nazis ermordet wurde, als Stalinist diffamiert wird.
Kommunistisch - allein dieses Adjektiv vor dem Hauptwort Kinderkonferenz macht hierzulande verdächtig. Schnell ist der unsinnige Vorwurf da, Kommunisten hätten Kinder missbraucht und sie indoktriniert.
2008 unterzeichnete der Bürger Gauck die sogenannte Prager Erklärung. Darin wird gefordert, die Geschichtsbücher so anzupassen und zu überarbeiten, dass die europäischen Kinder gleichermaßen vor dem Kommunismus wie vor dem "Nationalsozialismus" gewarnt werden.
Wie die Geschichtsbücher für Kinder "angepasst" und "überarbeitet" werden sollen, das hat kürzlich schon nicht mehr nur der Bürger Gauck, sondern das deutsche Staatsoberhaupt angedeutet. Vor Bundeswehrangehörigen sprach er über die ersten 50 Jahre seines Lebens. Es seinen "keine guten Gefühle" gewesen, konstatierte er, die ihm bei der Vorbereitung seiner Rede hochgekommen seien.
Als jemand, der zur gleichen Generation gehört wie er und einst auch Rostocker war, kann ich das gut verstehen. Die Bombennächte in den Luftschutzkellern, die Zerstörung der deutschen Städte, einschließlich seiner Heimatstadt Rostock, die Verbrechen der Nazis im 2. Weltkrieg, die Judenvernichtung, die Nichterfüllung des Potsdamer Abkommens im Westen, der Wiederaufstieg von Nazigenerälen beim Aufbau der Bundeswehr und der bundesdeutschen Nachrichtendienste - das alles löst auch bei mir ungute Gefühle aus, ja mehr noch: Wut auf die dafür Verantwortlichen.
Doch über solche Dinge hat der Bundespräsident gar nicht gesprochen.
Seine "unguten Gefühle" seien hochgekommen, verkündete er, als er sich "an die Aufmärsche, an die Militarisierung der Schulen, an die Erziehung zum Hass, an die Ablehnung eines Zivildienstes durch Partei und Staat, an die militärische 'Absicherung' einer unmenschlichen Grenze …" erinnert habe.
Aus seinen Erinnerungen hat er aber das Wichtigste gestrichen: Die so gescholtene DDR hat nie einen Krieg geführt, während er einem Staat vorsteht, der sich im Kriegszustand befindet.
Ich gehöre nicht zu denen, die ein schwarz-weißes Geschichtsbild pflegen. Ich habe mir eine differenzierte Sicht auf die DDR bewahrt. Ich wehre mich aber dagegen, die DDR schlechter zu machen als sie war und die Bundesrepublik schöner zu reden als sie ist.
Wenn sich der Bundespräsident auf die ersten fünfzig Jahre seines Lebens besinnt, dann sind dies doch zunächst die erlebten Nazijahre, dann die sowjetisch besetzte Zone und schließlich die DDR.
Und das alles wirft der erste Mann der Bundesrepublik in einen Topf. Abgesehen davon, dass allein das Wort "Nationalsozialismus" Demagogie ist. Der deutsche Faschismus war weder national noch war er sozialistisch. Er war so einmalig verbrecherisch, dass er unvergleichbar ist mit einer Zivilisation, erst recht mit der der DDR.
Wer dennoch ein Gleichheitszeichen setzt, relativiert die Verbrechen der Nazis und darf sich nicht wundern, dass nach wie vor neonazistisches Gedankengut gedeiht.
Allein der Begriff kommunistisch reicht hierzulande aus, um Linke mit oder ohne Parteibuch zu diskreditieren.
Soll man deshalb das Wort "Kommunismus" nicht mehr gebrauchen? Nur deshalb, weil seine Gegner ihn auf Verbrechen reduzieren?
Auch ich schaue mit Zorn auf Verbrechen, die unter falscher Flagge im Namen des Kommunismus begangen wurden. Sie schmerzen. Es ist nicht meine Sache, Opfer gegeneinander aufzuzählen. Wer aber meint, über Kommunismus könne man nur noch reden, wenn man vorher Buße getan hat, darf auch beim Gebrauch des Wortes Kapitalismus nicht dessen Verbrechen vergessen.
Welche Gesellschaftsordnung in Deutschland ist denn für zwei Weltkriege mit mehr als 80 Millionen Toten verantwortlich?
Wer für Auschwitz?
Wer für die nie heilenden Wunden der Kolonialkriege, wer für die Ausrottung ganzer Völkerschaften, die bis in die Gegenwart reichen?
Wer für die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki?
Wer für die Todesschüsse auf Patrice Lumumba, Martin Luther King, Salvador Allende, Bischof Romero …?
Wer dafür, dass Mandela im rassistischen Gewahrsam auf Robben Island verbannt war?
Wer für die Berufsverbote in der Bundesrepublik?
Wer für die USA-Invasionen von Vietnam über Grenada, den Irak bis hin zum Krieg in Afghanistan?
Dies und noch viel mehr gedieh doch nicht auf kommunistischem Boden, sondern in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.
In einer so aufgeheizten antikommunistischen Stimmung wie sie in dieser Zeit herrscht, erinnert Ihr hier in Suhl an ein Ereignis kommunistischer Geschichte. Meinen Respekt dafür, vor allem dem Veranstalter, der Interessengemeinschaft Geschichte des Stadtvorstandes der LINKEN.
Wenn man sich durchliest, was vor 90 Jahren hier gedacht und gesagt wurde, dann kommt unter dem Strich heraus: Es ging um das Wohl der Kinder. Sozialisten und Kommunisten lag dies zu allen Zeiten am Herzen.
Wohl auch deshalb hieß es zu DDR-Zeiten, Kinder seien die einzig privilegierte Klasse. Gerade jetzt in den Sommerferien erinnere ich daran, dass sich die gewiss nicht reiche DDR 50 Zentrale Pionierlager und tausende Betriebsferienlager leistete, in denen Hunderttausende Kinder für ein nur symbolisches Entgelt frohe Ferientage erlebten. Und mit Zorn denke ich daran, dass die meisten Kindereinrichtungen der DDR inzwischen privatisiert oder verkommen sind.
Mir drängt sich ein aktueller Vergleich auf: Hier in Suhl trafen sich vor einigen Wochen die deutschen Tafeln zu ihrem Bundestreffen. Hochachtung vor den Frauen und Männern, die in 891 dieser Einrichtungen an Bedürftige Lebensmittel verteilen, darunter auch an viele Kinder. Gleichzeitig drückt sich darin aber auch - ich nenne es für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik eine Schande - aus: Kinderarmut nämlich. UNICEF - das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen - bescheinigt Deutschland, dass immer noch 1,2 Millionen Kinder in Armut aufwachsen.
Ebenso viele Kinder müssen auf notwendige Dinge wie beispielsweise auf regelmäßige Mahlzeiten oder Bücher verzichten, weil ihre Eltern das nicht bezahlen können. Auf diese Weise werden nicht nur die Grundrechte von Kindern verletzt, sondern auch ihre Zukunft in Frage gestellt.
Suhl, 20. Juli 2012
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